Der Jahrhundertroman. Peter Henisch

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Название Der Jahrhundertroman
Автор произведения Peter Henisch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746439



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sie ihn auch nicht.

      Also sagte sie nicht, dass sie sein Manuskript nicht lesen konnte. Sondern nur, dass sie gewisse Schwierigkeiten mit seiner Schrift habe. Schwierigkeiten, die es ihr allerdings unmöglich machen würden, den Text abzutippen. Jedenfalls in einem halbwegs vernünftigen Tempo.

      Ach so? sagte er. Ach ja. Das habe ich mir fast gedacht. Dass es nicht leicht für Sie sein wird, sich einzulesen. Also zuallererst, meine Schrift zu entziffern. Wenn es allerdings so schwer ist, werden wir uns eine andere Vorgangsweise einfallen lassen müssen.

      Eine andere Verfahrensweise, sagte er und ließ das Wort wirken, während er die Brille abnahm und sie mit einem Brillenputztüchlein zu putzen begann. Mit so einem kleinen, dottergelben Rauledertüchlein. Einem sogenannten Rehhäutel (so hatte das jedenfalls ihr Großvater genannt). Wo ist denn mein Rehhäutel? Gegen Ende hatte der Opa dieses Brillenputztüchlein ständig gesucht.

      Ständig gesucht hatte er es in den Taschen seiner Hausjacke. Linke Tasche, rechte Tasche, Brusttasche, und dann wieder von vorn. Linke Tasche, rechte Tasche, Brusttasche, ganze Nachmittage lang. Ich muss meine Brille putzen. Es ist so diesig.

      Eine andere Verfahrensweise, sagte Roch, jedenfalls für die ersten Seiten des Romans. Bis Sie sich an meine Schrift gewöhnen, bis Sie, was das Lesen meiner Schrift betrifft, ein wenig in Schwung kommen. Ich werde Ihnen also für den Anfang ein bisschen Hilfe leisten. Gewissermaßen als Schrittmacher – verstehen Sie, was ich meine?

      Wir werden doch, sagte er, nicht gleich den Mut verlieren, nicht wahr? Wir können die ersten Seiten des Romans doch gemeinsam dechiffrieren.

      Faltete das Brillenputztuch sorgfältig zusammen, bettete es ins Brillenetui, setzte die dicke Brille wieder auf, lächelte.

      Sie kommen zu mir und ich werde Ihnen diktieren.

      So also stellte er sich das vor. Hatte er es von Anfang an darauf angelegt?

      Ist das Ihr Ernst? sagte sie. Ich soll zu Ihnen in Ihre Wohnung kommen?

      Ich beiße nicht, sagte er. Oder sehe ich so aus? Allerdings wollte ich Sie eigentlich nicht in meine Wohnung einladen, sondern in mein Depot.

      Rochs Depot. Vage erinnerte sie sich nun, dass er schon früher davon gesprochen hatte. Von einem Raum, in dem er offenbar altes Zeug lagerte. Seine Wohnung sei klein, sagte er, im Depot aber habe er 250 Quadratmeter zur Verfügung. Dort lagere er einiges von den Materialien, die er beim Schreiben benötige.

      Was denn für Materialien?

      Bücher, Zeitungen, Fotos: Inspirationshilfen. Wenn Sie mich dort besuchen, werden Sie es ja sehen.

      Ach so? dachte sie. Das werden wir erst sehen, ob ich das sehen werde!

      Die Wegzeit, sagte Roch, können wir selbstverständlich zusätzlich verrechnen.

      Pass auf, sagt Ronnie. Der Alte will dich entweder verarschen oder vernaschen.

       Blödsinn, sage ich. Warum sollte er mich verarschen wollen …? Und vernaschen? – Der ist doch jenseits von Gut und Böse!

      Ja, eben, sagt Ronnie. Das ist ein Zustand ungeahnter Freiheit.

      Ronnie kann ganz schön fies lächeln, wenn er so drauf ist.

      Wer weiß, was so einem Opa, der halt auch noch ein bisschen Spaß haben will, in diesem Zustand alles einfällt.

       Was vor allem dir einfällt! sage ich. Du hast doch nichts als Sex im Schädel!

      Du verkennst mich, sagt er. Ich bin ein romantischer Idealist.

      Und will mich umarmen. Aber manchmal mag ich das gar nicht.

       Was glaubt er denn? Dass er nur die richtige Taste drücken muss, und ich funktioniere? Nur die richtige Zone am Touchscreen berühren? Das kann er vielleicht mit Tina machen. Aber mit mir nicht!

      Na schön, wie du glaubst, sagt er und wirkt ein bisschen verärgert. Rennt in meinem Zimmer hin und her, in dem er eigentlich nach wie vor nichts verloren hat. Erinnert mich mit diesem Hin- und Her-Gerenne noch ganz überflüssigerweise an meinen Vater.

      Also ich an deiner Stelle, sagt er, würde dort nicht hingehen.

      Sollte sie hingehen oder sollte sie nicht? Zwar ärgerte sie Ronnies Gerede, aber vielleicht hatte er trotzdem nicht ganz unrecht. Frau Resch brauchte sie gar nicht zu fragen, was sie davon hielt. An deren heftige Reaktion auf Rochs erste Versuche, sie für seinen Roman zu interessieren, konnte sie sich noch gut genug erinnern.

      Roch hatte ihr die Adresse seines Depots auf einen Kassablock geschrieben. In etwas verwackelten, aber immerhin leserlichen Großbuchstaben. WIEN 8, FLORIANIGASSE NR. 4A. Das ist leicht zu finden, hatte er gesagt: die kleine, grüne Tür neben dem großen Haustor.

      Wann können wir anfangen? Morgen? Oder übermorgen? Ich diktiere, Fräulein Lisa, und Sie tippen. Ich bin sicher, wir sind ein gutes Gespann. Wenn wir in Fahrt kommen, schaffen wir pro Sitzung zwanzig Seiten.

      Ich weiß nicht, sagte sie. Sehen Sie, ich muss zuerst einmal meine Proseminararbeit fertig schreiben.

      Er legte den Kopf schief. Wirklich? Bereits so früh? … Zwei Euro pro Seite. Scheint Ihnen das zu wenig? … Meinetwegen kann es auch etwas mehr sein.

      Und das war, zugegeben, eine Versuchung. Aber Lisa musste ihr nicht gleich nachgeben. Den Vorsatz, kein Geld von ihrem Vater anzunehmen, hatte sie schon gebrochen – den ersten der beiden Fünfhundert-Euro-Scheine, die er ihr geschickt hatte (sie würde immer seine Tochter bleiben, hatte er auf die Rückseite eines beigelegten Fotos geschrieben, eines Fotos, auf dem sie, im Alter von sieben oder acht, neben ihm am Bug eines Segelboots zu sehen war, braungebrannt wie er, mit im Wind wehendem Haar), den ersten dieser beiden Fünfhunderter hatte sie sich schon wechseln lassen. Da würde es auf den zweiten auch nicht mehr ankommen.

      Aber dann? Wenn dieses Geld verbraucht war? Wie viel Verlass war auf Papas schlechtes Gewissen? Was ihr zustand, war die Kinderbeihilfe, die er ihr, wenn sie studierte, bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahr überweisen musste. Darüberhinaus war er zu nichts verpflichtet.

      Und Mama? – O weh, die arme Mama! Sie gab ihr Geld nach wie vor für den Anwalt aus, der mit Papas Anwälten im Clinch lag. Und für die Psychotherapeutin, die ihr über all den Frust hinweghelfen sollte. Wenn es nach ihr ging, musste Lisa nicht studieren: Sie kannte seit einiger Zeit einen netten Zahnarzt, der ihre Tochter ohne Weiteres als Assistentin einstellen würde.

      Blieb also das Geld, das Lisa als Kellnerin verdiente. Das würde gerade reichen, um die Studiengebühr und die Miete für das WG-Zimmer zu bezahlen. Übrigens eine unverschämt teure Miete. Grund genug also, sich Herrn Roch warmzuhalten.

      Manchmal ertappte sie sich jetzt beim Kopfrechnen. Wenn sie Roch beim Wort nahm und – ohne unverschämt zu sein – sagen wir zwei fünfzig pro Seite verlangte, machte das 50 Euro pro Nachmittag. Angenommen, sie besuchte ihn Dienstag und Donnerstag – wofür sie zwar eine oder zwei Vorlesungen ausfallen lassen musste, aber irgendwelche Mitschriften würde sie schon bekommen -, ergab das 100 Euro pro Woche. Die sprachen dafür, Rochs Angebot anzunehmen.

      Aber drängen durfte er sie nicht.

      Eines Nachmittags, als sie ihre Kellnerinnenstunden hinter sich gebracht hatte und auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle war, ging er plötzlich neben ihr her. Ja, so etwas, sagte er, was für eine hübsche Überraschung. Dass wir einander zufällig über den Weg laufen!

      Wohin gehen Sie, Fräulein Lisa? Darf Sie ein Oldie wie ich ein Stück begleiten? Ich hoffe, mein Hinken bringt Sie nicht aus dem Takt.

      Tatsächlich hatte sein Hinken so nah neben ihr etwas Irritierendes: Sie musste sich zusammennehmen, um nicht ebenfalls zu hinken.

      Wahrscheinlich hatte er sich vorgestellt, hier draußen ungestörter auf sie einreden zu können als im Café. Aber diese Rechnung ging nicht ganz auf. Da war erstens der Verkehrslärm, durch den sie ohnehin nicht alles verstand, was er ihr sagen wollte, und zweitens ihre Neigung, eine