Название | Der Jahrhundertroman |
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Автор произведения | Peter Henisch |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701746439 |
Ich weiß schon, sagte Roch, als Frau Resch das nächste Mal weg war, Ihre Chefin will nicht, dass Sie sich mit mir abgeben. (Das war an einem Monatsersten. Vormittags. Da musste sie auf die Bank.) Sie ist mir nicht wirklich gewogen, die Madam. Sie hält mich für einen Scharlatan oder weiß der Teufel, wofür sie mich hält.
Er schnaubte empört, suchte in seinen Sakkotaschen nach einem Taschentuch und schnäuzte sich.
Oder sie bildet sich ein, ich mach Sie ihr abspenstig. Aber das fällt mir doch überhaupt nicht ein! Ich will mich doch nicht um das Vergnügen bringen, von Ihnen meine Melange und mein Frühstücksei serviert zu bekommen.
Er trank einen Schluck Kaffee und begann sein Ei aufzuklopfen.
Aber damit, sagte er, muss es doch nicht sein Bewenden haben. Lisa! Sie sind doch eine sensible Person. Sie sind die, die mir helfen kann, das habe ich Ihnen gleich angesehen.
Angesehen? sagte sie. Und wie sehen Sie so was?
Er nahm die Brille ab und putzte sie. Sie meinen: Mit diesen schlechten Augen?
Nein, entschuldigung, sagte sie. So habe ich es nicht gemeint.
Schon recht, sagte er, Sie müssen das nicht zurücknehmen. Ich bin nicht ganz so heikel, wie Sie glauben.
Er setzte die Brille wieder auf. So viel ist wahr: Ich würde Sie gerne besser sehen. Aber vielleicht ist es so: Manche Defekte, mit denen man leben muss, kann man mit der Zeit ein bisschen ausgleichen. Wenn man weniger sieht, spürt man vielleicht mehr. Also vielleicht hab ich es eher gespürt als gesehen, dass Sie, liebes Fräulein Lisa, etwas anders sind – ja, besser kann ich es nicht sagen – etwas anders.
Anders als wer? fragte sie.
Nun, sagte er, anders als die meisten Leute, die hier hereinkommen.
Und wahrscheinlich auch anders als die meisten, die draußen vorbeigehen.
Draußen war Nebel, die Leute, die vorbeigingen, waren auch für jemanden, der überhaupt keine Brille brauchte, nur schemenhaft zu sehen. Lisa fühlte sich verpflichtet, zumindest diese Unbekannten in Schutz zu nehmen.
Aber woher wollen Sie denn das wissen, sagte sie, wie all diese Menschen gestrickt sind? – Doch insgeheim, das heißt auf eine Art, die sie sich vorerst nur halb und halb eingestand, fühlte sie sich durch seine Worte bestätigt. Oder durchschaut? Sowohl das eine wie auch das andere. Durchschaut und bestätigt in ihrem Selbstgefühl.
Durchschaut und erkannt in ihrem Anderssein. Denn das war es doch, was sie seit Langem empfand. Nicht erst seit sie, mit elf oder zwölf, Harry Potter gelesen hatte. Eingebildetes Anderssein. Oder war es Anderssein als Einbildung?
Dieses Outsiderfeeling, etwas zwischen Unsicherheit und – ja, doch: Stolz.
Schon im Kindergarten hatte sie das empfunden, schon in der Volksschule. Dieses Gefühl, nicht ganz dazuzugehören. Manchmal war sie sich vorgekommen wie von einem anderen Stern.
Und so ging es ihr ja auch jetzt wieder. In der WG war sie immer noch eine Fremde. Am liebsten zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Aber das grenzt an Kommunikationsverweigerung, sagte Ronnie, dafür, dass man kaum zwei Worte mit den anderen redet und dann die Tür hinter sich zumacht, zieht man nicht in eine WG.
Was ist denn das für ein schräger Typ? fragte Ronnie.
Weiß ich nicht, sagte sie. Ich werde nicht recht schlau aus ihm. Wenn ich es richtig mitgekriegt hab, war er früher Buchhändler. Oder er hat in einer Bücherei gearbeitet.
Und jetzt?
Jetzt ist er anscheinend schon längere Zeit in Pension. Und schreibt etwas. Oder hat etwas geschrieben. Oder will etwas schreiben.
Was denn?
Irgend so einen Roman, sagte sie.
Es war wahrscheinlich besser, Ronnie nicht ganz einzuweihen.
Das Wort Jahrhundertroman kam ihr jedenfalls nicht über die Lippen.
Sie wollte sich nicht lächerlich machen. Oder sie wollte Roch nicht lächerlich machen.
Und du willst etwas von diesem Roman abtippen?
Vielleicht, sagte sie.
Na, gratuliere! sagte Ronnie. Lass dich bloß nicht auf was Verrücktes ein!
Wahrscheinlich hatte auch das eine Rolle gespielt. Was sie tat oder ließ, war doch ihre Sache! Ronnie hatte ihr gar nichts mehr dreinzureden! Womöglich ließ Tina sich das gefallen. Sie nicht.
Und Roch ließ nicht locker. Er arbeitete weiter daran, Lisa die von ihm behauptete geistige Verwandtschaft zwischen ihm und ihr zu suggerieren. Sehen Sie, sagte er, als ich so jung war wie Sie, da habe ich auch Gedichte geschrieben.
Aber ich habe Ihnen doch gesagt …, sagte sie.
Ja, ja, sagte er. Ich weiß schon. Aber vor mir brauchen Sie das doch nicht zu verleugnen.
Ein paar von meinen Gedichten, sagte er, sind sogar veröffentlicht worden. In Literaturzeitschriften. Von denen es damals noch viele gegeben hat. Viel mehr als jetzt, kommt mir vor, damals war vieles im Aufbruch. Aber das war im inzwischen vergangenen Jahrhundert.
In meinem Jahrhundert, sagte er. Er lachte und musste husten. Dass so ein Jahrhundert, aus dem man kommt, auf einmal vergangen ist! Und jetzt bald seit zwei Jahrzehnten! Das ist schon komisch, wissen Sie. Manchmal erschrickt man darüber, aber das ist erst recht komisch.
Dass man auf einmal so etwas wie ein Fossil ist …
Er hustete noch immer, offenbar war ihm etwas in die falsche Kehle gekommen.
Diese aufgebackenen Semmeln, nichts als Bröseln … In meinem Jahrhundert hat es noch anständige Semmeln gegeben.
Sie klopfte ihm auf den Rücken.
Danke, sagte er, lieb von Ihnen. Dafür, Fräulein Lisa, haben Sie sich ein Gedicht verdient:
Ich bin / es hat nichts zu sagen / wer
Ich komme / ich soll mich nicht fragen / woher
Ich gehe / man wird mir schon schaffen / wohin
Man legt darauf Wert / dass ich pausenlos fröhlich bin.
Kennen Sie das?
Kommt mir irgendwie bekannt vor, sagte sie.
Ja, sagte er. Eine kleine Variation.
Von Ihnen? fragte sie.
Nein, sagte er. Nicht von mir. Aber es gefällt mir. Darum habe ich es mir gemerkt und kann es auswendig.
Schön, sagte sie.
Ja, sagte er. Und wahr … Denn genau das, liebes Fräulein Lisa, genau das ist es ja.
Was? fragte sie.
Was wir uns nicht gefallen lassen dürfen! Diese Erinnerungslosigkeit. Diese Geschichtslosigkeit. Diese erbärmliche Gesichtslosigkeit.
Fällt Ihnen das nicht auf, wenn Sie zum Beispiel in der Straßenbahn fahren, Fräulein Lisa? Diese Leere in den Blicken der meisten Leute? Aus der Leere in ihren Köpfen schauen sie hinaus ins Leere … Oder sie starren auf die Bildschirme ihrer Handys, dieser verführerischen Spielzeuge, die von der