Der Jahrhundertroman. Peter Henisch

Читать онлайн.
Название Der Jahrhundertroman
Автор произведения Peter Henisch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746439



Скачать книгу

      Sollte sie das erzählen? Nein, dazu hatte sie keine Lust. Und schon gar nicht wollte sie erzählen, wie dieser Film dann gerissen war. Kurz bevor sie nach La Réunion fliegen sollten – einmal was anderes, auf den Kanaren hatten sie ja schon alle Inseln durch. Aber das Flugzeug flog dann eben ohne sie, denn in der Nacht davor war Papas Verhältnis mit seiner Ordinationshilfe aufgeflogen und von diesem Morgen an war alles ganz anders.

      Zuerst der monatelange Streit meiner Eltern und dann die Stille, als sie endlich ausgestritten hatten. Unterbrochen von den Telefonaten, die meine Mutter mit ihrer Anwältin führte. Zwischendurch heulte sie auch, die liebe Mama. Aber wenn sie mit der Anwältin die Konditionen der Scheidung besprach, streute sie zwischendurch immer wieder Gehässigkeiten gegen Papa ein, und da verging mir das Mitleid gründlich. So viel war schon wahr, dass sich mein Vater, der seine um zwanzig Jahre jüngere Ordinationshilfe nicht nur vögelte, sondern auch die Absicht hatte, ein neues Leben mit ihr zu beginnen, damit als echtes Arschloch erwies. Jedenfalls ihr, unserer armen Mama, gegenüber. Aber dass sie ihn, wie sie der Anwältin wiederholt und mit am Telefon fast überschnappender Stimme sagte, nun zugrunde richten wollte – sie werde es ihm heimzahlen, er sollte zahlen, zahlen und noch einmal zahlen … das konnte ich nicht mehr hören. Mein Bruder zog sich in sein Zimmer zurück, verschanzte sich hinter dem Bildschirm und schoss auf alles, was sich bewegte. Mich aber trieb es aus dem Haus.

      Dann ließ ich mich treiben. Weg aus dem blöden Villenviertel und der Schrebergartenöde. Durch den kleinen Wald und über die große Wiese. Und weiter und weiter, vorbei am Soldatenfriedhof und am Kreuzweg. Und dann, das ergab sich, hatte ich es nicht mehr weit zum Haus des Großvaters.

      Um Missverständisse zu vermeiden: Es war nicht so, dass ich eine besondere Beziehung zu ihm hatte. Solange er gesund gewesen war, waren Besuche bei ihm eher eine Pflichtübung. Das galt auch für meine Eltern und meinen Bruder. Längere Besuche beim Opa gab es nur zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag.

      Sonst kamen wir eher nur auf einen Sprung. Er war ein alter Mann, der sich bemühte, zu uns Kindern freundlich zu sein, aber man merkte ihm die Mühe an. Er fragte, wie es uns in der Schule gehe, er schenkte uns große Tafeln Schokolade, von denen er immer einen Vorrat im Haus hatte, weil er selbst gern naschte. Er streichelte uns, solange wir klein waren, über den Kopf, was wir nicht wirklich gernhatten, aber wir ließen ihm die Freude, für den Fall, dass es ihm wirklich eine Freude war.

      Nun aber war der Opa ein Pflegefall. Eines Morgens war er aus dem Bett aufgestanden und unversehens gestürzt. Er hatte sich nichts gebrochen, aber er kam nicht mehr auf die Beine. Im Spital hatte man ihn durchgecheckt, Indizien für einen Gehirnschlag hatte man angeblich nicht entdeckt, aber als man ihn wieder nach Hause gebracht hatte, brauchte er buchstäblich für alles Hilfe.

      Er hatte zwei Pflegerinnen, die ihn abwechselnd betreuten. Rund um die Uhr, wohlgemerkt, zwei Wochen im Monat die eine und zwei Wochen im Monat die andere. Zwei Slowakinnen, die Papa, wie er oft nebenbei erwähnte, weit über den Tarif bezahlte. Mein Vater, der anfangs noch öfter vorbeischaute, um zu sehen, ob alles klappte und mit Zdenka und Rosa, so hießen die beiden, die pünktliche Verabreichung der Sedativa zu besprechen, die dem Großvater seiner Ansicht nach guttaten, aber dann, als der Krieg zwischen Mama und ihm ausgebrochen war, immer weniger.

      Mama hatte Besuche bei ihrem kranken Schwiegervater schon vorher kaum ertragen. Der arme alte Mann tat ihr so leid, dass sie seinen Anblick einfach nicht aushielt. Und seinen Geruch. Der Großvater wollte ziemlich häufig aufs Klo. Ihn dorthin und wieder zurückzubringen war zwar eine Aufgabe, die von den Slowakinnen erledigt wurde, sowohl von Zdenka als auch von der etwas weniger robust gebauten Rosa, aber selbst wenn man da diskret wegsehen konnte, wegriechen konnte man nicht.

      Jetzt, da ich öfter vorbeikam, versuchte ich ihn von der Konzentration auf seinen Stuhlgang abzulenken. Manchmal gelang das sogar. Er hatte eine Reihe von DVDs mit Aufnahmen der Sendung Universum. Einmal, als wir eine Folge ansahen, in der die Kameraleute Löwen an der Tränke beobachtet hatten, die in der grellen Sonne blinzelten, fragte er mich, ob ich glaubte, dass man Raubtieren Brillen verschreiben könnte. Er war ja früher Augenarzt gewesen.

      Aber warum sollte Lisa das dem Herrn Roch erzählen?

      Sie schrieb es. Für sich. Sie konnte ja schreiben, was sie wollte.

      Später würde sie vielleicht mehr darüber schreiben.

      Doch den Herrn Roch ging das überhaupt nichts an.

      Sie fing an, die Graffiti zu notieren, die sie auf dem Weg von der Straßenbahn zum Café oder vom Café zur Straßenbahn las:

       No borders. Freiheit für alle. Kein Mensch ist illegal

      Manche waren nach einer Weile übertüncht, aber wenn man wusste, was da gestanden hatte, konnte man es noch eine Zeitlang erahnen.

      Leben statt funktionieren. Let’s dance, baby.

      Entschuldigung, sagte der Herr Roch, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten … Ob Sie schreiben oder nicht schreiben, das ist natürlich Ihre Angelegenheit … Und erst recht, was Sie schreiben. Gar keine Frage! … Ich hab nur gedacht, wenn Sie womöglich selbst schreiben, nur einmal angenommen …

      Als ob er sie mit diesen Floskeln einkreisen wollte.

      Also nur einmal angenommen, sagte er, gesetzt den Fall … Dann wären Sie für den Job, den ich Ihnen anbiete, ganz besonders qualifiziert. Um nicht zu sagen – und vor diesem Wort ließ er eine effektvolle Pause – prädestiniert.

      Jetzt hören Sie aber auf! sagte sie.

      Aber das meine ich ernst! sagte er. Sie sind die Person, die mir helfen kann, den Jahrhundertroman endlich in den Griff zu bekommen. Eine Person, die nicht nur flott auf dem Laptop tippt, sondern …

      Sondern was?

      Sie sind auch eine Person, die dieses Projekt interessiert.

      So, sagte sie.

      Ja, sagte er. Oder interessiert es Sie etwa nicht?

      Was sollte sie sagen? Sie wollte nicht unhöflich sein.

      Ja klar, sagte er, bevor ihr eine ausweichende Antwort einfiel. Sie können sich halt noch zu wenig darunter vorstellen.

      Von da an versuchte er ihr zu erklären, was es mit dem Jahrhundertroman auf sich habe. Das war allerdings nicht so einfach, denn er holte recht weit aus. Und das führte dazu, dass er manchmal unterbrochen wurde. Das Café Klee hatte nach wie vor nicht viele Gäste, aber einige, um die sie sich zu kümmern hatte, kamen doch.

      Dass Herr Roch dann nicht weiterredete, lag aber nicht nur daran, dass sie sich vorübergehend von seinem Tisch entfernen musste. Er verstummte, so kam es ihr vor, durch jede dieser Unterbrechungen verstimmt. Als ob es eigentlich eine Zumutung wäre, dass Personen, die das, was da zwischen ihm und ihr zu besprechen war, nichts anging, einfach in ihr Gespräch hereinplatzten. Vielleicht war es aber auch so, dass er, wenn er in seinen Ausführungen gestört wurde, irritiert war und vergaß, was er gerade zuvor hatte sagen wollen.

      So viel bekam sie trotzdem mit, dass er die Idee des Jahrhundertromans schon lang mit sich herumtrug. Eigentlich, sagte er, seit dem Jahr 1999. Am 1. Jänner 2000 habe er sich hinsetzen und mit dem Jahrhundertroman anfangen wollen. Und das habe er auch tatsächlich getan, aber dann sei ihm Verschiedenes dazwischengekommen.

      Zwar habe er sich, sagte Roch, nicht entmutigen lassen. In immer neuen Anläufen habe er versucht, den Jahrhundertroman in Schwung zu bringen. Aber da habe es nicht nur Probleme gegeben, die mit seinem persönlichen, in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ein wenig entgleisten Leben zusammenhingen (einmal ganz abgesehen von den Problemen, die sich durch seine, wie er es nannte, kleine Behinderung ergaben). Es gab auch Probleme, die, wie er betonte, im Wesen des Projekts lagen.

      Das Wesen seines Projekts! Wenn er so redete, ging er ihr wieder recht auf den Geist. Vor allem weil er nie klarmachen konnte, worin dieses Wesen eigentlich bestand. Ach was, dachte sie dann, warum hör ich mir das überhaupt an? Und trotzdem schaffte er es, sie immer wieder an seinen Tisch zu locken.