Der Jahrhundertroman. Peter Henisch

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Название Der Jahrhundertroman
Автор произведения Peter Henisch
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746439



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er den leisen Zweifel, der sich inzwischen wieder in ihr rührte. Hatte sie sich wirklich entschlossen? Erwartete er, dass sie es noch einmal bestätigte, oder fürchtete er, dass sie wieder dementierte? Der halbe Satz hing in der Luft, zwischen ihm und ihr war für ein paar Sekunden eine etwas ratlose Stille.

      Ein Engel geht durch den Raum, das heißt genau genommen durch den Park. Roch versuchte zu lächeln, als er das sagte. Nun kam sein Lächeln ja meistens ein bisschen schief. Aber vielleicht kam es ihr jetzt, da sie neben ihm saß, noch etwas schiefer vor als sonst.

      Ich seh keinen Engel, sagte sie. Womöglich war das ein bisschen brutal. Doch sie hatte das Gefühl, eine gewisse Nüchternheit könnte in dieser Situation nicht schaden.

      Gewiss, sagte Roch. Sie haben natürlich recht. Von Engeln sollte man nicht so leichtfertig reden.

      Okay, sagte sie, dann geben Sie mir das Manuskript. Sie war jetzt für eine möglichst rasche Abwicklung der Übergabe.

      Natürlich, sagte Roch. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Wer weiß, was Sie heute Abend noch Schönes vorhaben.

      Er beugte sich über seine Aktentasche und zog eine große, schwarze Mappe heraus. Zwei darübergespannte Gummibänder sollten offenbar verhindern, dass die darin enthaltenen Seiten herausrutschten. Wie viele Seiten es waren, ließ sich auf den ersten Blick nicht abschätzen. Aber für eine erste Lieferung waren es viele.

      Es war jedenfalls nicht leicht, diese Mappe in ihrem Stadtrucksack unterzubringen. Sie brachte da alles Mögliche unter, Sachen für die Uni, Kosmetiktäschchen, das Buch, das sie gerade las. Und den Laptop natürlich. Alles kein Problem. Doch diese Mappe war sperrig, der Zipp ließ sich kaum schließen.

      Roch war ihr noch behilflich, sich den Rucksack wieder umzuhängen. Und dann stand sie da, mit dieser Last auf dem Rücken, die er ihr somit aufgeladen hatte. Irgendwie wehrlos, die Bewegungsfreiheit ihrer Arme eingeschränkt durch die Träger des Rucksacks, die sich ungewohnt eng anfühlten. Und genau in diesem Augenblick steckte ihr Roch noch einen Hundert-Euro-Schein in die Manteltasche.

      Als Vorschuss, sagte er. Für die ersten fünfzig Seiten.

      Aber …, sagte sie.

      Lassen Sie nur, sagte er. Es ist mir eine Freude.

      Na bitte, dachte sie, wenn es ihm eine Freude ist … Dann wollte sie ihm diese Freude nicht verderben.

      Und dann ist sie schon auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle, die letzten paar Meter läuft sie sogar, damit ihr die Straßenbahn, die gerade hält, nicht davonfährt. Und die Mappe im Rucksack ist beim Laufen hinderlich, aber sie schafft es. Im Wagen ist es sehr voll, sodass Berührungen mit anderen Menschen unvermeidlich sind. Und da erschrickt sie, weil sie plötzlich den Eindruck hat, dass jemand den Zipp ihres Rucksacks zu öffnen versucht.

      Sie glaubt, die Berührung gespürt zu haben, aber vielleicht hat sie sich das nur eingebildet. Jedenfalls ist der Zipp, als sie ihn kontrolliert, ganz ordentlich geschlossen.

      Und selbst wenn wirklich ein Taschendieb sein Glück versucht hätte – für die sperrige, schwarze Mappe mit dem Manuskript hätte er sich wohl kaum interessiert.

      Die erste Lieferung zum Jahrhundertroman. Passen Sie gut darauf auf, hat Roch gesagt, es ist das Original. Zwar habe er versucht, es fotokopieren zu lassen, aber die Fotokopien, die man ihm im Copyshop angefertigt hat, erschienen ihm zu blass. Und sie solle den Text ja möglichst gut lesen können.

      Und dann, stell dir vor, Semira: Dann sitz ich an meinem Schreibtisch in meinem WG-Zimmer. Über dem Manuskript, das mir dieser Roch am Nachmittag anvertraut (so seine Worte) oder aufgebürdet hat (so mein vielleicht doch nicht ganz falscher Eindruck). Aber nun, nachdem ich die Einladung, mich doch zu den anderen zu setzen, wieder einmal ausgeschlagen hab (sie sitzen draußen im Gemeinschaftsraum, öffnen eine Flasche Bier nach der anderen und reden über irgendetwas, das sie offenbar urlustig finden, denn sie lachen viel), nachdem ich also die Einladung, mich am Gemeinschaftsleben zu beteiligen, wieder einmal ausgeschlagen hab … sitz ich da über diesem Konvolut, auf das ich inzwischen doch auch etwas neugierig bin, und – kann kein Wort lesen.

      Und da muss ich mir eine Zigarette anzünden, obwohl ich mir vorgenommen hab, mir das Rauchen abzugewöhnen. Ich versuch, Seite für Seite zu lesen, denn vielleicht, denk ich, wird die Schrift ja nach und nach leserlicher. Oder meine Augen werden sich daran gewöhnen. Ich gebe mir wirklich Mühe, aber es nützt nichts.

      Und ich rauch mir eine zweite Zigarette an und dann noch eine. Und frag mich, in welcher Schrift dieser Herr Roch überhaupt schreibt – möglicherweise handelt es sich um einen Mix aus Latein und Kurrent (eine Schrift, die ich ja eigentlich nur vom Hörensagen kenne). Ich rauch weiter und dann muss ich den Aschenbecher ausleeren, in dem schon erstaunlich viele Kippen sind. Mit der Schrift, die ich in der Schule gelernt hab, sind die Zeichen, die ich da zu entziffern versuche, jedenfalls nur sehr entfernt verwandt.

      Dazu kommt, dass die Zeilen, die der Verfasser schreibt, manchmal völlig entgleisen.

      Rein grafisch betrachtet sieht das recht interessant aus. Auch aus psychologischer Sicht kann man das Schriftbild wahrscheinlich interessant finden. Aber fortlaufend lesen und somit abtippen kann man das nicht.

      Oder jedenfalls kann ich das nicht. Beim besten Willen nicht, da besteht keine Chance. Zu diesem Ergebnis bin ich etwa um Mitternacht gelangt. Bis dahin hat sich der Aschenbecher zum zweiten Mal gefüllt und ich hab keine Zigaretten mehr.

      Und dann kommt Ronnie herein. Natürlich wieder einmal, ohne anzuklopfen.

       Ich hab gesehen, dass bei dir noch Licht brennt, sagt er, was treibst du?

      Mein erster Impuls ist, ihn gleich wieder aus meinem Zimmer hinauszuwerfen, das er gefälligst als meinen Privatbereich respektieren soll. Doch ich beherrsch mich und werf ihn nicht hinaus.

      Hast du eine Zigarette für mich? frage ich.

      Ja, sagt er, aber nur von den roten Gauloises.

      Ich rauche für gewöhnlich die leichteren, gelben, aber das ist mir jetzt egal.

       Schau einmal, sage ich. Kannst du irgendwas von diesem Text lesen?

       Das ist ja ein Ding, sagt er. So etwas gibts ja eigentlich gar nicht!

      Und dann? Ja, und dann bin ich halt wieder rückfällig geworden. Nicht nur nikotinmäßig. Es hat sich so ergeben. Zuerst sind wir noch ganz ernsthaft über dem Manuskript gesessen und haben versucht, vielleicht doch noch den einen oder anderen Absatz zu entziffern. Aber als auch die Zigaretten ausgegangen waren, die Ronnie in der Jackentasche gehabt hat, da hat er noch eine Packung aus seinem Zimmer geholt und dazu ein Fläschchen mit einem Rest Schnaps mitgebracht, der von irgendeiner Party übriggeblieben ist, und dann haben wir das Manuskript und die Tatsache, dass wir auch zu zweit nicht schlau daraus geworden sind, immer komischer gefunden und haben fast nur mehr gelacht.

      Und dann sind wir eben auf einmal im Bett gelegen. Und das war wieder einmal nicht ganz das, was ich dumme Gans mir immer wieder einbilde, dass es sein sollte. Am Anfang – na ja, da hab ich mir gesagt, okay, warum nicht, ich bin zwar ein bisschen beschwipst, aber das hilft vielleicht. Aber im Endeffekt war es erst recht ernüchternd.

      Bin dann kurz eingeschlafen, aber bald wieder aufgewacht. Und da ist Ronnie immer noch neben mir gelegen und hat unverschämt viel Platz eingenommen. Und ich hab mir gedacht, wie kommt er dazu und wie komm ich dazu und was war das jetzt? Und dann hab ich nicht mehr einschlafen können, nicht nur, weil Ronnie zu allem Überfluss geschnarcht hat, sondern auch, weil ich wieder an Roch hab denken müssen und mich ständig aufs Neue gefragt hab, was ich ihm antworten soll, wenn er mich morgen Vormittag im Café auf sein Manuskript anspricht, denn das wird er sicher tun.

      Das ist die Lage, Semira. Eindeutig eine Schräglage, nicht wahr? Und ich weiß noch nicht recht, wie ich wieder ins Lot komm. Was hältst denn du davon? Hast du vielleicht einen guten Rat für mich? Ich halte dich auf dem Laufenden. Ciao, du Liebe.

      Am