Djorgian. Jacqueline Esch

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Название Djorgian
Автор произведения Jacqueline Esch
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783937817170



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wartete, bis Rabea aufgelegt hatte, dann tat sie es ebenfalls. Merlin strich schnurrend um ihre Beine. Judi bückte sich, hob ihn auf den Arm und ging mit ihm zurück in die Küche. Dort setzte sie ihn wieder ab und gab ihm etwas zu fressen. Sie mußte sich wieder beruhigen. Nein, von so einem Vollidioten, der nichts anderes im Kopf hatte, als irgendwelchen Leuten auf den Zeiger zu gehen, würde sie sich nicht den Morgen verderben lassen.

      ~ ~ ~

      Verwirrt ging er durch die Straßen. Ein paar Wächter kamen ihm entgegen. Auf ihren Gürteln prangte das Wappen von Nebeldorf: ein springendes Reh. Eigentlich sollte er sich einen Platz zum Übernachten suchen, denn es würde bald dunkel werden, aber statt dessen lief er hier durch die schmalen Straßen. Mittlerweile befand er sich in einer Gegend, die er besser meiden sollte. Aber er war hier. Und wieso?

      Unschlüssig blieb er vor der roh gemauerten Wand stehen. Eine Sackgasse. Aber er war hier nicht falsch. Das bohrende Gefühl in seinem Innern schien im Gegenteil noch zuzunehmen. Er wandte sich nach rechts und erblickte eine niedrige Tür. Vorsichtig streckte er die Hand danach aus. Sie war offen und gab ein knarrendes Geräusch von sich, als er sie öffnete. Es roch muffig. Wohnte hier überhaupt jemand? Er blieb abermals stehen. Durch eine weitere Tür sickerte Kerzenschein. Gab es hier keine Fenster? Er ging weiter und schloß geblendet die Augen, als er durch die zweite Tür trat. Überall standen Kerzen und es roch nicht mehr muffig, sondern nach irgend etwas Scharfem, das in der Kehle brannte. Erst nach einigen Sekunden bemerkte er, daß noch jemand hier war.

      »Wer ist da?«, fragte er leise.

      »Ihr seid also gekommen. Habt Ihr auch das mitgebracht, was ich suche?«

      »Ich … ich weiß nicht wovon ihr redet.« Seine Knie begannen zu zittern. Alles in ihm schrie danach, sich umzudrehen und aus diesem Raum zu stürmen, aber er tat es nicht. Was zum Henker machte er hier eigentlich?

      Der Mann, der aus den Schatten trat, lachte leise. Er schien nicht älter als er selbst zu sein. Höchstens vierundzwanzig. Warum ließ er sich so von ihm einschüchtern?

      »Nein? Ihr wißt ganz sicher, wovon ich rede. Gebt ihn mir!«

      Seine Stimme hörte sich nach Drohung an und er mußte sich beherrschen, ihr nicht Folge zu leisten.

      »Ich habe nichts.«

      »Ihr seid ein Narr! Wir könnten zusammenarbeiten, aber anscheinend ist Euch der Stein schon zu Kopf gestiegen. Ich war es, der Euch gerufen hat, und ich bin der Grund, warum Ihr hier seid. Also erfüllt Eure Aufgabe und gebt ihn mir endlich, bevor ich ihn mir holen muß!«

      Etwas Silbernes blitzte in der Hand des Fremden auf. Nein. Nein! Er würde ihm den Stein auf keinen Fall geben! Er gehörte ihm! Ihm hatte er sein Glück zu verdanken! Er drehte sich mit einem Ruck um und versuchte, die Tür zu erreichen. Das war das letzte, das er in seinem Leben tat. Er schaffte nicht einmal die Hälfte.

      ~ ~ ~

      Judi klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. Sie sah auf die Uhr: Zwölf. Nach Lesen war ihr nicht mehr zumute, das hatte sie die letzten Stunden ununterbrochen getan. Gelangweilt sah sie aus dem Fenster … und schlagartig war ihre Langeweile vergessen. Zwei Männer kamen den Weg hinauf. Warum konnten sie sie denn nicht einfach den Samstag genießen lassen? Wütend stapfte sie die Treppe hinunter und nahm vor der Tür Aufstellung. Die konnten sich sowieso auf etwas gefaßt machen! Das mit dem Telefon hatte sie ganz bestimmt nicht vergessen.

      Sie mußte sich noch ein wenig gedulden, bis sie endlich Stimmen hören konnte und kurz darauf das schrille Klingeln der Haustür. Judi wartete noch ein paar Sekunden, dann öffnete sie die Tür und hob die Hand bevor jemand anfangen konnte zu sprechen.

      »Zum hundertsten Mal: ich habe nichts, was euch gehört. Um ganz ehrlich zu sein, ihr geht mir allmählich auf den Zeiger. Und mit euren Telefonstreichen könnt ihr mich auch nicht einschüchtern.«

      Die beiden sahen sie einen Moment verdutzt an, dann ergriff der Große das Wort. »Wir haben nicht angerufen.«

      Judi warf ihnen einen letzten ›du-mich-auch-Blick‹ zu und wollte die Tür schließen, aber der Mann stellte seinen Fuß dazwischen.

      »Was soll das? Laßt mich endlich in Ruhe!«

      »Wer hat angerufen? Hat derjenige einen Namen gesagt? Was wollte er?«

      »Das müßtet ihr ja wohl am besten wissen.« Judi bekam nun doch ein wenig Angst. Der Typ sollte endlich seinen Fuß da wegnehmen!

      »Ich versichere dir, wir haben nicht angerufen. Was hat er gesagt?«

      »Ach, und woher wißt ihr dann, daß es ein er war?«

      »Was hat er gesagt?«

      »Dasselbe wie ihr auch. Aber ich habe wirklich nichts. Und wenn ihr gekommen seid, um, wie ihr sagt, es abzuholen, muß ich euch leider enttäuschen.«

      »Hat er das am Telefon gesagt? Verdammt …«

      »Wenn sie mich jetzt bitte freundlicherweise entschuldigen würden, und endlich ihren Fuß aus meiner Tür nähmen, wäre ich ihnen wirklich sehr verbunden.«

      Der Mann tat das tatsächlich, und sie schlug in derselben Sekunde die Tür zu.

      »Warte! Das hast du alles falsch verstanden. Wir haben wirklich nicht angerufen. Du bist in großer Gefahr! Ich weiß, wie sich das anhören mag, aber …«

      »Es hört sich ziemlich bescheuert an und jetzt verschwindet endlich!«, unterbrach Judi ihn.

      »Es stimmt! Er wird kommen und es sich holen, und das darf nicht geschehen! Jetzt mach die Tür auf! Wir wollen dich doch nur in Sicherheit bringen.«

      »Und ich bin die Kaiserin von China!« Wütend eilte sie die Treppe hinauf und verkrümelte sich in ihrem Bett. Sollten sich diese Idioten doch schwarz reden!

      Demonstrativ stellte sie ihre Anlage mit der Fernbedienung an und drehte sie auf volle Lautstärke. Sie wartete kurz, dann stellte sie sich ans Fenster. Unwillkürlich tastete ihre Hand über das Amulett, das immer noch unter ihrem Pulli verborgen war. Die Männer sah sie allerdings nicht. Sie atmete tief ein, stellte das Radio wieder aus und ging abermals zur Tür hinunter, ohne sie zu öffnen.

      »Warum ich?«, fragte sie dann. Konnten die sich denn keinen anderen aussuchen, den sie nerven konnten? Wie wäre es mit Ingrid? Bei der hätte sie selbst wenigstens auch etwas davon.

      »Weil … Du hast es, nicht wahr?«

      »Nein. Und deshalb bin ich der Meinung, ihr könntet jemand anderen ärgern.«

      »Aber wir machen keine Witze! Wenn er glaubt, du hast es, dann mußt du dich in Sicherheit bringen! Wir könnten dich verstecken. Sehr gut sogar.«

      »Meine Mutter war nicht vergeßlich. Vielleicht hat eure Mutter es euch nicht beigebracht: ›Mein Kind, du darfst nie zu einem Fremden ins Auto steigen!‹ Ich jedenfalls glaube, daß das auch für das Angebot eines Fremden gilt, einen in Sicherheit zu bringen.«

      Als sie dachte, sie würde darauf gar keine Antwort mehr bekommen, sagte der Kleinere (sie erkannte es an der Stimme) leise: »Und wenn du uns einfach vertraust?«

      Das war doch lächerlich! Die beiden hätten Vertreter für Staubsauger oder ähnliches werden sollen, die waren genauso hartnäckig.

      »Wir können es beweisen. Mach die Tür auf und du wirst sehen. Ehrenwort!«

      Und darauf sollte sie hereinfallen? Und wenn doch … Ganz vorsichtig drückte sie die Klinke herunter, vergaß aber nicht den Fuß gegen die Tür zu drücken. Dann schob sie sie ein paar Millimeter auf um hindurchzuspähen. Das hätte sie nicht tun sollen. Die beiden da draußen hatten es trotz ihrer Vorsicht bemerkt und warfen sich fast gleichzeitig gegen die Tür, so daß diese mit voller Wucht gegen ihren Kopf prallte. Keuchend fiel sie nach hinten und landete unsanft auf dem Teppichboden. Der Große packte sie am Arm und zerrte sie hinaus. Aber anders als erwartet, steckten sie sie nicht in irgendein Auto mit schwarzgetönten Scheiben, hinter dessen Steuer ein Mann mit Zigarre