Название | Dachschaden |
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Автор произведения | Marion Reddy |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990011249 |
Herzstillstand.
Die Anästhesisten reanimierten meine Patientin. Ich sah das Gesicht der Skifahrerin, während ihr Blut unter dem OP-Tisch zu einer rasch anwachsenden Pfütze zusammenfloss. Auch sie war noch jung und hübsch. Doch für grundsätzliche Fragen, die das Leben und das Schicksal betrafen, hatte ich während einer Operation keine Zeit.
Ich ließ einen Kollegen anrufen, der ebenfalls Facharzt war, weil ich unmöglich die Blutung alleine stillen konnte. Als er endlich kam, bewegte er sich langsam wie unter Drogen auf den Tisch zu und betrachtete in aller Ruhe den blutüberströmten Schädel.
„Sieht schlimm aus“, sagte er.
„Mach schon“, schrie ich ihn an. „Wir müssen die Blutung stillen, und dann raus mit ihr.“
Noch nie war einer meiner Patienten am Tisch gestorben. Danach auf der Intensivstation schon, das gehörte dazu, aber noch nie unter meinen Händen. Dieses Mal sollte nicht das erste Mal sein. Mein Kollege wusste, worum es ging, und deshalb konnte ich es nicht fassen, dass er so langsam machte. Nur möglichst rasch ab auf die Intensivstation mit ihr, dachte ich.
Mein Kollege stopfte blutsaugendes Fleece in ihren Schädel. Im OP waren jetzt bereits fünf Anästhesisten. Der Tropf reichte längst nicht mehr. Die Versorgung war viel zu langsam. Die Anästhesisten pressten das Blut mit beiden Händen aus den Blutkonserven in sie hinein.
Auf einmal begann die Skifahrerin sich zu stabilisieren. Ich nähte die Hirnhaut zu und mein Kollege vernähte die Platzwunde, in aller Ruhe und mit einer Genauigkeit, als wolle er sie für eine Ausstellung in Schuss bringen. Der Mann hatte einen Hang, auf Stress mit Phlegma zu reagieren, weshalb er in einer Abteilung wie der unseren superdauerphlegmatisch war.
Theoretisch war die Operation letztendlich ganz gut verlaufen. Theoretisch würde die Skifahrerin nach ein bis drei Monaten eine weitere Operation bekommen, bei der ihr ich oder ein anderer Neurochirurg einen dauerhaften Ersatz für das fehlende Stück ihrer Schädeldecke einsetzen würde. Doch ich glaubte nicht daran. Ich rechnete damit, dass sie auf der Intensivstation sterben würde, an Herzstillstand oder an Kreislaufversagen.
Eine Woche lang sedierten die dort zuständigen Ärzte die Patientin, maßen ihren Hirndruck und hielten ihren Kreislauf stabil. Die Schwellung ging zurück. Die Ärzte konnten sie aufwecken. Sie konnte die Extremitäten bewegen und war ansprechbar. Im MR zeigte sich, dass die Patientin, anders, als ich es vermutet hatte, kein Schertrauma hatte, und dass das Gehirn beim Unfall nicht weiter beschädigt worden war. Die Art, wie sie von selbst zu sich gekommen war und Hände und Füße bewegt hatte, hatte schon angedeutet, dass sie den Unfall erstaunlich gut überstanden hatte.
Klar, sie hatte einen kahl rasierten Kopf, eine große, eingesunkene Hautstelle dort, wo die Schädeldecke fehlte, was sich nicht nur beschissen anfühlt sondern auch beschissen aussieht, aber das war normal. Das hatten alle Trauma-Patienten. Es hingen ja auch keine Spiegel auf der Intensivstation, die Patienten dort hatten andere Probleme.
Nach sechs Monaten bekam sie ein Knochendeckel-Implantat eingesetzt. Durch einen Zufall war wieder ich dafür zuständig, wobei ich vom erfreulichen Verlauf ihrer Genesung erfuhr. Für eine kleinere Stelle hätte ich selbst eine Rekonstruktion des Knochens herstellen können, aus einer Masse, die sich wie Plastilin anfühlt, die geformt und dann eingesetzt wird. Die Skifahrerin brauchte allerdings eine halbe Schädeldecke in Form einer dreidimensionalen Rekonstruktion ihres Schädelknochens aus Kunststoffkarbonplastik, und das musste nach einer CT-Vorlage angefertigt werden.
Das Einsetzen war nur noch ein Routineeingriff. Ich legte die Schädelöffnung frei, präparierte die Schichten und setzte den neuen Deckel ein. Kein Mensch würde je glauben, dass die Neurochirurgin, die sie operiert hatte, nicht mehr um ihr Leben gekämpft hatte, sondern nur noch darum, wo sie sterben würde – gleich am Operationstisch oder hinterher in der Intensivstation. Glück gehabt. Auch das gibt es.
Prolog
Sie werden, was Sie in diesem Buch lesen, vermutlich entsetzlich finden. Allein die Vorstellung, dass jemand Ihren Schädel öffnet und sich Ihr Gehirn vornimmt, hat schon etwas Entsetzliches. Dass er es im Rahmen eines Systems tut, dessen Parameter nicht einzig auf Ihre anschließende körperliche und geistige Unversehrtheit und Ihr höchstmögliches Wohlbefinden ausgerichtet sind, ist noch entsetzlicher. Da tut sich ein richtiger Abgrund auf.
Für uns beide waren Gehirnoperationen, die wir an den neurochirurgischen Abteilungen unterschiedlicher Krankenhäuser durchgeführt haben, jahrzehntelang unser tägliches Brot. Wir waren anfangs beide hoch motiviert, Patienten zu helfen und selbst dabei ein gutes Leben zu führen. Doch mit der Zeit stellten wir fest, dass wir naiv waren. Dass es nicht um die Patienten geht, sondern zum Beispiel um Dinge wie die Selbstbestätigung der narzisstischen Neurochirurgen.
Früher hatten wir beide Angst, bei Aufenthalten, sagen wir in Thailand, in Vietnam oder in Staaten wie Bangladesch oder Nicaragua ins Krankenhaus zu müssen und uns damit einem vermeintlich unterentwickelten Gesundheitssystem auszuliefern. Doch irgendwann kamen wir zu dem Schluss, dass das österreichische und das deutsche Gesundheitssystem als Spielzeug narzisstischer Wichtigtuer dermaßen ausgerastet ist, dass ein Aufenthalt hierzulande auch scheißgefährlich sein kann.
Die Idee, ein Buch zu schreiben, ist ja an und für sich nichts Großartiges. Fast jeder denkt sich mal die Phrase: „Da könnte man ein Buch darüber schreiben”. Viele tun es, es gibt Autobiographien von sämtlichen Stars und auch Regale voller „real life”-Bücher, die von Supermarktkassiererinnen, Modejournalistinnen, Tänzerinnen und Briefträgern, ja sogar von Grabrednern geschrieben wurden. Wir hatten beide auch schon vor Jahren einmal die lockere Idee, wir schreiben ein Buch über die Zeit an der Neurochirurgie. Eine von uns war sogar schon so weit, dass sie ein Inhaltsverzeichnis geschrieben hatte. Aber das alles hatte nicht mehr Ernsthaftigkeit, als der Silvestervorsatz, im nächsten Jahr mit dem Rauchen aufzuhören und fünf Kilo abzunehmen. Gar keine nämlich. Wir waren dann auch zu beschäftigt damit, im Hamsterrad der Neurochirurgie zu laufen, sodass wir gar keine Zeit oder kreative Möglichkeit gehabt hätten. Wir sind nur gelaufen, wie zwei vertrottelte Hamster. Irgendwann einmal ist dann alles zusammengebrochen, unsere Jobs waren nur mehr die Hölle, die Beziehungen gescheitert. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begannen wir, uns mehrmals täglich über facebook zu schreiben, und wir ließen nichts aus. Sämtliche beruflichen und privaten Katastrophen haben wir diskutiert, analysiert, seziert. Wir haben gelacht und geweint.
Mitten zwischen den ganzen Desastern wollte eine von uns dann diese zig Seiten einfach so abspeichern, als Erinnerung, weil sie ja fast wie ein Tagebuch waren, diese ganzen Dramen. In der Zeit, in der sich die Sanduhr am Bildschirm während des Speicherns schier endlos drehte, begann sie, die ganzen alten Dialoge noch einmal durchzulesen. Und die waren wie reality-TV, lustig, traurig, erschreckend, oberflächlich, tiefgründig, alles. Und durch die ganzen Seiten zog sich als blutroter Faden die Neurochirurgie, immer wieder und wieder, wie ein böser Albtraum, der einen ein Leben lang verfolgt. Eine von uns hat dann, da das ganze wirklich packend und ergreifend zu lesen war, der anderen vorgeschlagen, diese facebook-Dialoge zu einem Buch umzuschreiben, Orte und Namen zu ändern und probeweise an ein paar Verlage zu schicken. Die Zweite war sofort begeistert.
Die Idee war geboren. Wir machten uns aus, wenn wir unsere beruflichen und privaten Tiefs überstanden haben, wenn es wieder aufwärts geht, machen wir uns daran. Wir lagen zu dem Zeitpunkt, wie gesagt, beide am Boden. Mit dem Gesicht im Dreck. Aber es ging wieder aufwärts, wir sind wieder aufgestanden, beziehungsweise war das mehr „Rise like a Phoenix”. Denn wir haben uns regelrecht aus der Asche erhoben, wie der Phönix in der griechischen Mythologie, der in neuem Glanz erstrahlt.
Die Chancen, dass ein unverlangtes Manuskript von einem Verlag publiziert wird, sind sehr gering, bei etwa vier Prozent. Deshalb haben wir uns nicht viel Arbeit angetan, die facebook-Datei einfach geändert und gekürzt und einmal zum Probieren an drei Verlage geschickt. Irgendwann läutete bei einer von uns, während sie sich gerade einen Cappuccino in der Küche richtete, das Telefon. Unbekannte Handynummer. Unbekannte Handynummern verheißen normalerweise selten etwas Gutes, meistens sind das