In diesem Fall war es jedoch anders, denn am Telefon war unser zukünftiger Verleger, der von der Leseprobe so begeistert war, dass er am Telefon schon sagte, dass er das Buch auf jeden Fall publizieren will. Juhu!
Beim ersten Treffen mit unserem Verleger wurde uns dann eigentlich erst so richtig klar, wie betriebsblind wir geworden waren, wie normal völlig schockierende Tatsachen für uns sind, die einem Außenstehenden die Haare zu Berge stehen lassen. Nach dem ersten Treffen kaufte sich unser Verleger sofort einen Fahrradhelm, vor lauter Furcht, er könne nach einem Unfall als Patient an einer Neurochirurgie landen. Als wir Monate später mit den Arbeiten zu diesem Buch fertig waren, meinte er, am liebsten würde er überhaupt nicht mehr radfahren, sondern nur mehr mit dem Helm spazieren gehen. Kein Scherz, ich muss jetzt noch schmunzeln.
Der Grund für für dieses Buch war es nicht, den Neurochirurgen noch einmal einen richtigen Arschtritt zu verpassen. Okay, ein bisschen vielleicht, wir geben es zu, aber es war sicher nicht der Hauptgrund.
Denn wir sehen es eigentlich überhaupt nicht ein, dass wir uns einfach lautlos davonschleichen sollen, aus diesem tyrannischen System der österreichischen und deutschen Neurochirurgien. Dass wir weiter das Maul halten sollen darüber, was einem Patienten, der mit einer neurologischen Erkrankung dort eingeliefert wird, eigentlich alles geschehen kann.
Wir sind vor einigen Monaten mit jemandem, den wir sehr schätzen, auf einer Kaffeehausterrasse gesessen und haben nach einigen weißen Spritzern herumgekreischt, dass alle Neurochirurgen völlig durchgeknallt seien, dass jeder entweder säuft oder Beruhigungstabletten nimmt oder sich jeden Tag einraucht. Unser Freund hat dann gemeint, wir seien ein bisschen irre geworden, in diesen ganzen Krankenhäusern. Aber wir sind sicher nicht irre. Wir waren immer schon so, nur waren wir die letzten zehn oder fünfzehn Jahre mundtot gemacht an der Neurochirurgie. Und jetzt werden wir singen wie zwei fiese Mafia-Verräter. Und wenn wir einbetoniert im Keller irgendeiner Neurochirurgie liegen, ist es uns auch egal. Denn wir werden nicht so tun, als ob nie etwas gewesen wäre. Die ganze Welt soll wissen, dass wir existiert haben und was da läuft, im Mikrokosmos der Neurochirurgie.
Die Heldin unseres Buchs ist eine fiktive Person, die all das erlebt, was entweder wir oder jemand aus dem Kreis der Neurochirurginnen und Neurochirurgen, die wir persönlich kennen, erlebt hat. In die Person fließen demnach Geschichten und Erlebnisse ein, die einer von uns oder einem der vielen Neurochirurgen in Österreich, Deutschland und der Schweiz widerfahren sind.
Das bedeutet, dass alles in diesem Buch (leider) auf Begebenheiten beruht, die sich tatsächlich zugetragen haben. Wir haben aus Gründen des Datenschutzes allerdings Namen, zeitliche Abläufe, geografische Hinweise und medizinische Details so verändert, dass der Rückschluss auf bestimmte neurochirurgische Abteilungen oder dort tätige Neurochirurginnen und Neurochirurgen unmöglich ist.
Denn darum geht es ja schließlich nicht. Sie werden nie erfahren, welche Patienten völlig umsonst Pflegefälle geworden sind, welcher Neurochirurg seine Mitarbeiter vergiftet hat, wer während der Operation in den Mülleimer gekotzt hat und wer so überspannt war, dass er seinen Ehemann misshandelt hat. Es ist ja auch völlig egal. Es geht ja nur darum, dass Leute dazu gebracht werden, diese Dinge zu tun.
Es geht uns darum, ein groteskes, kaputtes medizinisches System zu zeigen, indem wir sein wahrscheinlich exponiertestes Fachgebiet ausleuchten.
Es steht außer Zweifel, dass es noch immer hervorragende Neurochirurgen gibt, die im Dienste der Medizin, der Idee des Heilens und damit im Dienste ihrer Patienten handeln. Doch der Allgemeinzustand in diesem Bereich ist so katastrophal geworden, dass es sich für uns beinahe schon wie ein Verstoß gegen den hippokratischen Eid anfühlen würde, dieses Buch nicht zu veröffentlichen. Wir haben schon lange begriffen, dass die Entwicklungen in die falsche Richtung laufen, dass sich das System, statt sich zu verbessern, immer weiter pervertiert. Und wir haben unsere Konsequenzen gezogen.
Eine von uns wechselte das Fach und arbeitet jetzt als Ärztin an einem Psychiatrischen Krankenhaus. Die andere ist weiterhin Neurochirurgin. Dies aber in Frankreich, einem Land, dessen Gesundheitssystem sehr wohl auf die Interessen der Patienten zugeschnitten ist, und das geistesgestörte Ärzte österreichischer oder deutscher Neurochirurgien an die Psychiatrie verweisen würde. Nicht als Ärzte, sondern als Patienten.
Es ist uns natürlich völlig klar, dass uns alle Neurochirurgen als Nestbeschmutzerinnen beschimpfen werden. Das müssen sie auch, denn sie sind ja alle mundtot gemacht in diesem kranken System. Aber nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Deshalb nehmen wir das in Kauf. Es ist uns eigentlich sogar scheißegal. Wir sind sicher keine Nestbeschmutzerinnen, denn wir hatten nie ein Nest. Wir hatten immer nur Schlangengruben.
Freunde haben uns gewarnt, dass wir nie mehr wieder an einer deutschsprachigen Neurochirurgie arbeiten werden können, nach diesem Buch. Aber so einen Job, den brauchen wir ungefähr so dringend, wie ein Loch im Kopf. Denn, das haben wir inzwischen erkannt, Geld darf auf keinen Fall unter Blut und Tränen verdient werden. Und wir würden daher eher in ein Kernkraftwerk putzen gehen, als noch einmal an einer Neurochirurgie in Österreich oder Deutschland zu arbeiten.
Dr. Marion Reddy,
Dr. Iris Zachenhofer,
Oktober 2014
Narzissten in Weiß
Da gibt es diesen angesehenen amerikanischen Neurochirurgen Frank Vertosick. Kein Neurochirurg würde zugeben, seine Bücher gelesen zu haben. Denn der schreibt nicht nur spannend und aufschlussreich über Patienten und Operationen. Er befasst sich auch kritisch mit dem Fach selbst. Er charakterisiert seine Protagonisten so treffend, dass sich jeder Neurochirurg, dem es an Selbstironie mangelt, und das ist bei neunundneunzig Prozent von ihnen der Fall, geschmäht fühlen muss. Vertosick beschreibt die Neurochirurgen als die Looser in der Kindheit, die, die immer geprügelt und am Spielplatz verarscht wurden. Die, die in der Highschool später die pickligen Idioten waren, die nie eine Freundin oder auch nur ein Date hatten. Die Weicheier, die Warmduscher, die Beckenrandschwimmer, die Streber. Erst nach einigen Jahren Misere in der Neurochirurgie habe ich begonnen, die Psychopathologie dieser Leute zu verstehen. Meine Psychiaterin hat mir viel erklärt. Diese ständigen Kränkungen in der Kindheit haben aus sehr vielen von ihnen Narzissten unterschiedlicher Ausprägung gemacht. Narzissmus ist eine der charakterlichen Grundstrukturen der Neurochirurgen. An dieser Spezies Mensch können wir allerdings auch große Anteile der gesamten Psychiatrie studieren.
Neurochirurgen nehmen ihre Umwelt einfach nicht wahr. Sie schreiten über sie hinweg. Jeder Neurochirurg muss der Beste sein. Er interessiert sich nie für andere Fächer. Er könnte nie Pathologe oder Urologe sein. Das wäre für ihn zu wenig Prestige. Er muss Hirnchirurg sein. Zur Not käme noch Herzchirurg infrage, aber Hirnchirurg ist besser. Den Schädel eines Menschen zu öffnen, der sich ihm ganz und gar anvertraut, und darin etwas zu tun, hat etwas Gottgleiches. Das trifft sich perfekt mit der Selbstwahrnehmung eines Neurochirurgen.
Der Neurochirurg glaubt an das Image seines Faches. Ein Eingriff in den Schädel, das klingt ja schon so interessant, und es hat auch etwas mit Nervenkitzel zu tun. Dazu kommt der Kick des Risikos, das Spiel mit den Schicksalen, die sich unter den eigenen Händen entscheiden. Das Gehirn ist mit Abstand das komplizierteste Organ, und wer einmal die topographischen Bilder des Gehirns, Bilder der Funktionsfelder und des Gefäßsystems gesehen hat, kann die Komplexität nur erahnen. Dazu kommt, dass das Nervengewebe sich nicht regenerieren kann. Dadurch ist es, wenn es einmal angekratzt ist, gleich immer irreparabel geschädigt, und der betreffende Patient kann nicht mehr sprechen oder ist vollkommen gelähmt. Das Gehirn ist nun einmal extrem fragil.
Die schwierigsten Fälle, die kompliziertesten Eingriffe und die längsten Operationen sind dem Neurochirurgen gerade gut genug, um sich zu beweisen und glänzen zu können. Der Neurochirurg sieht Patienten als Mittel zu diesem Zweck. Den Zugang vieler Ärzte, anderen Menschen helfen zu wollen, kennt er nicht. Ihn interessiert neben seiner Karriere im bestenfalls noch die Krankheit, aber sicher nicht der Mensch, der sie hat. Wenn sich ein Neurochirurg karenzieren lässt und unentgeltlich zum Beispiel in Vietnam operiert, dann ist das garantiert