Dachschaden. Marion Reddy

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Название Dachschaden
Автор произведения Marion Reddy
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990011249



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Die aufgetretenen Komplikationen machten das notwendig. Der Knochendeckel, den wir ihr abgenommen hatten, würde nach der Operation weg bleiben, für den Fall einer Schwellung oder weiterer Komplikationen. Ein Mensch, der sich nach dem Aufwachen auf den Kopf greift und feststellt, dass auf einer Seite seines Kopfes kein harter Knochen mehr ist, sondern ein Loch im Knochen mit etwas, das sich so ähnlich anfühlt wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon, hat sich darüber wahrscheinlich noch nie besonders gefreut.

      Nach dem zweiten Eingriff landete die junge Frau als Risikopatientin künstlich beatmet und stark geschwächt abermals auf der Intensivstation. Im weiteren Verlauf kamen dann internistische Probleme hinzu, eine schwere Lungenentzündung und Embolien. Ihr Zustand war mehrere Tage lang lebensbedrohlich. Erst nach einem ganzen Monat wachte sie wieder auf, und es war kein schönes Erwachen für sie. Das Loch im Kopf war dabei ihr geringstes Problem. Ihr Sprachzentrum war ausgefallen. Sie konnte weder sprechen noch schreiben. Sie konnte auch den Worten, die sie hörte, keinen Sinn entnehmen. Sie konnte zum Beispiel eine Banane zwar sehen, aber nicht benennen, und das, obwohl sie bei vollem Bewusstsein war.

      Das war noch immer nicht das Schlimmste, denn sie hatte durchaus eine Chance, dass ihr Sprachzentrum eines Tages wieder funktionstüchtig sein würde. Das Schlimmste war, dass sie an einer Hemiplegie litt, einer kompletten Halbseitenlähmung.

      Gewöhnlich bekamen wir nicht mehr viel von den Patienten mit, wenn sie unsere Station einmal verlassen hatten. In diesem Fall war es anders, weil es sich um eine Branchenkollegin handelte. Deshalb weiß ich, dass ihre Mutter sie jahrelang zur Rehabilitation begleiten musste, bei der sie dank harten Trainings das Sprechen und Lesen tatsächlich wieder erlernte. Das verbesserte ihre Lebensqualität, aber gegen die halbseitige Lähmung hätte ihr auch das beste Training nicht mehr geholfen.

      Hätte ein erfahrener Facharzt aus dem Team die gleiche Operation durchgeführt, dann wäre die junge Frau vollkommen geheilt worden und würde ein normales Leben führen. Sie wäre wieder in ihrem Job tätig, den sie gerne mochte, sie wäre vielleicht verheiratet und hätte Kinder. Auf jeden Fall würde sie nur noch ganz selten an den Eingriff in ihrem Schädel denken.

      Doch so hatte ein Neurochirurg, der aus Prestige- und Karrieregründen eine Operation durchführte, für die ihn nichts qualifizierte, ihr Leben zerstört. Aus der Traum von einem normalen, glücklichen Leben, von Sport, Fernreisen, beruflichem Aufstieg, Hochzeit und eigenen Kindern.

      Der Oberarzt, der sie ganz sicher schon völlig vergessen hatte, noch ehe sie zu ihrer ersten Rehabilitationsstunde antrat, hatte nicht einmal mit Konsequenzen zu rechnen. Denn sowohl halbseitige Lähmung als auch Verlust des Sprachzentrums standen als mögliche Begleiterscheinungen am Beipackzettel dieser Operation.

      Zwölf Uhr Mittag an einem sonnigen Tag Anfang März. Ich hatte meinen Dienst vor vier Stunden angetreten und war fit und relativ gut ausgeschlafen. Als ich in den Schockraum gerufen wurde, klang die Vorabinformation zu der Patientin drastisch. Eine deutsche Skifahrerin war ohne Helm kopfüber auf einen Stein gestürzt. Sie kam mit einer großen Platzwunde am Kopf und, logischerweise, dem Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma. Also mussten Neurochirurgen zur Stelle sein. Wer nicht gerade im OP arbeitete, musste sich in so einem Fall einfinden.

      Wir, zwei Neurochirurgen und ein Anästhesist, warteten auf den Hubschrauber, der sich als schwarze Silhouette vor dem wolkenlosen Himmel auf die Landeplattform am Krankenhausdach herabsenkte. Mit einem Blick durchs Fenster auf die Landefläche stellte ich bereits fest, dass der Kopfverband der Frau komplett mit Blut vollgesogen war und das Blut schon über die Trage rann. Nach den Informationen, die ich vom Notarzt und den Sanitätern am Ort des Unfalls bekommen hatte, war mir klar, das sie keine Chance hatte. Sie würde sterben. Denn neben der Blutung deutete auch alles auf ein Hirnstamm-Schertrauma hin. Dabei entsteht durch durch den harten Aufprall des Schädels eine derartige Beschleunigung, dass der Hirnstamm vom Grosshirn abgetrennt wird, als Folge tritt eine diffuse Gehirnschädigung auf. In so einem Fall kann kein Arzt der Welt helfen.

      Selbst bei einem Notfall wie diesem laufen die Vorbereitung für die Operation kontrolliert und ohne Panik. Das Ärzteteam legt die Zugänge, untersucht die Extremitäten auf Brüche und legt die Patientin auf den Tisch für die Computer-Tomographie. Die Helfer entledigen sie ihrer Kleidung, wobei sie sich nicht lange mit Reißverschlüssen oder Knöpfen aufhalten. Um die Verletzte nicht ungünstig zu bewegen, schneiden sie die Kleider mit einer scharfen Schere herunter. Bei Skifahrern denke ich manchmal, tausend Euro Anorak. Sechshundert Euro Skihose. Aber egal, diese Dinge spielen dann keine Rolle. Die Skischuhe brechen die Helfer einfach auf. Ringe schneiden sie mit Zangen von den Fingern.

      Auf dem Computertomographie-Bild sah ich ein Epiduralhämatom, eine Blutung außerhalb des Gehirns, zwischen der harten Hirnhaut und dem Schädelknochen. Ein Epiduralhämatom ist grundsätzlich nicht besonders schwer zu operieren, es muss bloß alles sehr schnell gehen. Außerdem zeigte das CT-Bild, wie ich erwartet hatte, eine offene Fraktur der Schädeldecke, wobei das eingebrochene Stück Knochen im Gehirn der Patientin steckte. Überlebens-Chance meiner Einschätzung nach: gegen null.

      Trotzdem musste ich operieren, denn das Herz der Patientin schlug noch. Sie hatte auch keine Scheinwerfer, wie wir es nennen, sprich keine bis an den Rand der Augäpfel erweiterten Pupillen, die auf einen Hirntod hingewiesen hätten. Sie war offensichtlich noch am Leben.

      Ich schnitt die Haut ihres inzwischen vollständig rasierten Schädels an der Scheitellinie auf, klappte den Hautlappen zur Wange herunter und fixierte ihn dort mit Haken, die wie Fischerhaken aussehen. Mit der Bohrmaschine bohrte ich mehrere Löcher mit je zehn bis fünfzehn Millimetern Durchmesser in den Knochen. Beim ersten Loch setzte ich das Kraniotom an und schnitt den Knochen von Loch zu Loch auf.

      Durch die Fraktur hatte ich danach zwei Stücke des Schädelknochens in der Hand und ein drittes steckte nach wie vor im Gehirn. Es hatte die harte Hirnhaut, die das Gehirn umgibt, durchdrungen und war ins Gehirn selbst eingedrungen. Es sah so ähnlich aus wie diese dreieckigen Eiswaffeln, die manchmal in den Eisbechern im Eis stecken. Gewöhnlich schnitt ich in so einem Fall die harte Hirnhaut sternförmig auf und klappte die Ecken auseinander. Aufgrund der Form der Verletzung ging das bei der Skifahrerin nicht. Ich konnte nichts tun, als das Knochenstück nehmen und es aus dem Gehirn ziehen.

      Das Stück Schädeldecke, das ich entnahm, legte ich normalerweise zur Seite, um es später in eine zertifizierte Knochenbank zu schicken. Die lagerte es bei minus siebzig Grad Celsius ein, bis ich es meinem Patienten wieder einsetzen konnte. In diesem Fall ging auch das nicht. Ich hatte am Ende drei Teile der Schädeldecke in der Hand. Mit denen wäre selbst im besten Fall für die Patientin, ihrem Überleben, nichts mehr anzufangen gewesen. Ich warf sie in den Müll. „Für den Flocki“, also für den Hund, sagen die OP-Pfleger dann gewöhnlich makabererweise.

      Vor mir sah ich jetzt das Hämatom, einen Klumpen geronnenes Blut, und ich begann, es mit dem Sauger abzusaugen. Danach legte ich die Hirnhaut wieder über die offene Stelle und wollte gerade mit dem Zumachen beginnen, als ich bemerkte, dass es überall wieder zu bluten begonnen hatte. Vor lauter Blut unter meinen Händen konnte ich nicht sehen, was passiert war, ich konnte nur absaugen, absaugen, absaugen. Minutenlang.

      Eigentlich war klar, was passiert war. Durch die starke Blutung nach dem Unfall hatte ihr Körper alle im Blut enthaltenen Gerinnungsfaktoren aufgebraucht, und dann blutet eben auf einmal alles, scheinbar ohne Ende. Der Anästhesist, der die Blutwerte kontrollierte, fing zu schreien an. „Mach was“, schrie er, „sie steht gleich“, womit er sagen wollte, dass die Patientin schon fast einen Herzstillstand hatte.

      Mir gingen damals verschiedene Überlegungen durch den Kopf. Einige hatten mit dem Überleben der Patienten zu tun. Einige mit meiner Angst zu versagen. Einfach ruhig bleiben, dachte ich. Tu, was du gelernt hast, und tu es, so gut du kannst. Die meisten der Überlegungen, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen, waren aber viel pragmatischerer Natur. Wenn ein Patient schon sterben musste, dann besser nicht auf dem Operationstisch sondern auf der Intensivstation. So hatten es mir meine erfahrenen Kollegen von Anfang an eingetrichtert. Tote auf dem Operationstisch machten nur Probleme. Sie machten eine Selbstanzeige erforderlich. Ich würde mich rechtfertigen