Heinrich Zschokke 1771-1848. Werner Ort

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Название Heinrich Zschokke 1771-1848
Автор произведения Werner Ort
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198825



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und musste den sonntäglichen Gottesdienst besuchen.

      Seiner religiösen Entwicklung räumte Zschokke in «Eine Selbstschau» viel Platz ein, und nirgends so stark wie hier entsteht der Eindruck des nachträglich Konstruierten. Heinrich suchte in dieser Phase seines Lebens einen persönlichen Gott, einen Gott der Zwiesprache, von dem er sich Geborgenheit und Liebe erhoffte, die er im Leben entbehrte, einen Gott, der ihm den Vater ersetzte oder ihn über seinen Verlust hinwegtröstete. «Ich hielt Unterredungen mit Gott, und auf meine Bitten antwortete ich, in seinem Namen, selber.»173 Er dachte, mit einem himmlischen Wesen müsse man in Versen verkehren, und so entstanden seine ersten poetischen Versuche, die sich an Kirchenliedern und an den Dichtungen des Pietisten Barthold Heinrich Brockes174 orientierten. Dies war seine private Welt, von der die Lemmes keine Ahnung hatten und wofür sie wohl auch kein Verständnis gehegt hätten.

      Der Zwang, in die Kirche gehen zu müssen, ohne innerlich dafür bereit zu sein, führte zu Zschokkes Forderung: «Der erste Tempelbesuch eines jungen Menschen sollte ihm nur bei hinlänglicher Verstandesreife gestattet und sein erster religiöser Festtag seyn.»175 Bei seinen Kindern setzte er dieses Prinzip konsequent durch: Ihre religiöse Erziehung geschah zu Hause durch die Eltern, und ihr erster Kirchgang war verbunden mit dem ersten Empfang des Abendmahls, also mit der Konfirmation.

      Im Religionsunterricht, der ihn auf die Konfirmation vorbereiten sollte, lernte Heinrich «Katechismus, Bibelstellen und Gebete in Prosa und Versen in Fülle» auswendig, konnte aber nichts damit anfangen. «Sie lagen, wie todter Wörterkram, im Gedächtniß aufgespeichert.»176 Umgekehrt erhielt er keine Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten und denen er 1796 seine philosophische Reise «Salomonische Nächte» widmete: Wer bin ich? Warum und für wen und für welchen Zweck lebe ich?177 Dabei verstieg er sich eine Zeitlang zu gefährlichen Ansichten:

      «Zuweilen glaubt’ ich, die Welt sey ungefähr, wie ein Uhrwerk, dergleichen ich schon gesehn hatte, worin sich die Figuren bewegen müssen, ohne es zu wissen und zu wollen. Fragt’ ich darüber bejahrtere Personen, bekam ich entweder ungnädige, oder unbefriedigende Antworten. ‹Der liebe Gott hat das von Ewigkeit einmal so eingerichtet, du Dummkopf!› war der gewöhnliche Bescheid. Da dacht’ ich eine geraume Zeit, die ganze Welt sey ein weites Marionettentheater, auf welchem sich Gott, zu seiner Unterhaltung, der Thiere und Menschen, statt der Puppen, bediene. Diese Vorstellung bildete sich zuletzt in die seltsame Grille aus: ich sey mit Gott allein in der Welt, und sein Kind; er wolle mich aber noch erziehn, eh’ ich zu ihm in seinen Himmel komme. Darum habe er das wunderbare Theater für mich gebaut, auf welchem sich Menschen- und Thiergestalten nur bewegen, wann ich zu ihnen komme, und reglos sind, wenn ich sie nicht sehe. Indessen stelle Gott die Figuren in der Geschwindigkeit wieder anders, um mich damit zu überraschen.»178

      Die Vorstellung, dass nur Gott und er selber existierten, während die restliche Welt aus lauter Marionetten bestehe, habe einige Wochen angehalten, schrieb Zschokke. Es war der Höhepunkt des Versuchs, sich gegen das schmerzliche Gefühl des Ausgestossenseins zu wehren. Die Schilderung in «Eine Selbstschau» und vor allem in den «Salomonischen Nächten», die seine innere Einsamkeit rückhaltlos preisgibt, erinnert an Anton Reiser und dessen seelische Nöte als Kind.

      In der Tat wurde Zschokke stark von Karl Philipp Moritz’ Seelenerfahrungskunde und vor allem von der Seelenkrankheitskunde geprägt.179 Die Selbstbeobachtung und Selbstüberprüfung, die von seinem pietistischen Hintergrund angeregt wurde, erhielt durch Moritz einen wissenschaftlichen Aspekt. Indem die Herausgeber des «Magazins zur Erfahrungsseelenkunde», das den Nebentitel «Gnothi Sauton», Erkenne dich selbst, trug,180 die Leser ermunterten, ihre eigenen oder von Dritten erfahrene Beispiele seelischer Erschütterung und Zerrüttung mitzuteilen, lösten sie ein breites Interesse an psychischen und psychopathologischen Vorgängen aus. Dass sich Zschokke an dieser Zeitschrift nicht beteiligte, ist wohl hauptsächlich dem Umstand zuzuschreiben, dass nur bis 1792 Leserbeiträge aufgenommen wurden.181

      Das zitierte Erlebnis ist zeitlich schwer einzuordnen. Einige Indizien lassen vermuten, es sei im letzten Jahr am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen passiert, als sich Heinrich der Verachtung der Lehrer und dem Spott der Mitschüler ausgesetzt sah, im Alter von neun bis zehn Jahren also. Eingeordnet ist die Schilderung in «Eine Selbstschau» aber nach den beiden Anekdoten um Lehrer Capsius, als er bei seiner Schwester Lemme wohnte. In den «Salomonischen Nächten», wo er den gleichen Seelenzustand, den er als Paroxysmus (Anfall) bezeichnete, ein erstes Mal beschrieb, setzte er die Zeit noch später an, mit ungefähr 14 Jahren.182 Da befand er sich aber bereits nicht mehr bei seiner Schwester und ging nicht mehr auf die Friedrichsschule.

      Als Kontrapunkt zum Paroxysmus setzte Zschokke in «Eine Selbstschau» die Begegnung mit der Tochter seines Vormunds, Friederike Ziegener (1774 bis nach 1840).183 Ziegeners wohnten ebenfalls in der Dreiengelgasse, und Zschokke beschrieb Friederike oder Rikchen, wie er sie meist nannte, als «kleines, fröhliches Mädchen», «ein sehr schönes Kind», das in der warmen Jahreszeit im Freien mit ihm spielte, aber im Winter zu Hause und unsichtbar blieb.184 Womöglich hatte Heinrich sie schon kennen gelernt, als er noch in seinem Elternhaus wohnte; schliesslich waren die beiden Väter ja befreundet. Es bleibt bei dieser einzigen Erwähnung Friederikes im Zusammenhang mit ihrer Spielkameradschaft, die etwa zwei Jahre gedauert haben dürfte und auch mit Enttäuschungen verbunden war. Wenn er sie im Frühling nach langer Abwesenheit wieder zu Gesicht bekam, wurde aus dem Engel in überirdischer Schönheit, den er sich den Winter durch imaginiert hatte, ein «kleines, artiges Mädchen in seiner ganzen Gewöhnlichkeit».185

      Heinrichs erwachtes Interesse an der Schule und seine Fortschritte in Latein führten dazu, dass für ihn wieder ein richtiges Gymnasium ins Auge gefasst wurde. Ausschlaggebend für die Wahl sei ein «Beschluß der über ihn wachenden Behörden» gewesen.186 Der Schulwechsel fiel damit zusammen, dass Heinrich es bei seiner Schwester nicht mehr aushielt. Er sei mehr als «Kostgänger und Dienstbursche, denn als Bruder» behandelt worden, klagte er.187 Die Lemmes hatten ihm in einem Hintergebäude eine Kammer ohne Heizung und Licht zugewiesen. Dort verbrachte Heinrich die meiste Zeit mit Lesen, Malen und Dichten. Er hätte sich vermutlich auch im Wohnzimmer bei den anderen aufhalten können, aber das wollte er offenbar nicht.

      Man habe seinen schulischen und privaten Beschäftigungen kein Verständnis entgegengebracht, klagte er weiter. So habe man ihm Manuskripte seiner schriftlichen Arbeiten und Übersetzungen weggenommen, um Geld darin einzupacken. Zum Glück habe man seinen poetischen Briefwechsel mit dem Geist seines Vaters nicht entdeckt. «Insgesammt wackere Kaufleute und Handwerker, ohne größere Bildung, als zu ihrem Gewerbe genügte, waren sie eben nicht geeignet, den unruhigen Geist des kleinen Schwärmers auf richtigern Weg zu leiten.»188 Zwei Welten standen sich gegenüber: die kaufmännische und die gelehrte und poetische. Ob Zschokke den Lemmes gerecht wird, lässt sich im Nachhinein kaum mehr feststellen, da wir wie bei ihrer Beurteilung nur seine eigene Aussage besitzen. Immerhin schickten die Lemmes ihren Sohn Gottlieb ja ebenfalls aufs Gymnasium. Vielleicht stehen sie an dieser Stelle für den Kaufmannssinn und Krämergeist der Magdeburger schlechthin.

      Heinrich war ein zorniger, rebellischer Jugendlicher geworden, voller Groll auf die Welt und mit einem empfindlichen Gerechtigkeitssinn. Als man ihn dabei ertappte, wie er eine ausgehöhlte Rübe mit einer Kerze als Lampe benutzte, um in der Dämmerung lesen zu können, wurde sie konfisziert. Vermutlich spielte eine nicht unwesentliche Rolle, dass er durch eine unvorsichtige Hantierung das Haus hätte in Brand stecken können. Der Streit eskalierte zu gegenseitigen Beschuldigungen und Drohungen. Anderntags habe er sich bei seinem Vormund beschwert und verlangt, dass man ihn seinem Kostgeld entsprechend besser behandle. Ziegener habe ihn abblitzen lassen, worauf er sich an die oberste Instanz, das städtische Vormundschaftsamt, wandte, an dessen Präsidenten, Bürgermeister Stieghan.189 Der habe ihn angehört, ihm dann freundlich auf die Schulter geklopft und versprochen: «Geh, es soll besser werden.» Daraus schöpfte er neue Hoffnung. «Es wird wieder besser werden!», war ein Satz, den er später für sich gern wiederholte, wenn Unglück und Verzweiflung über ihn hereinbrechen wollten.190

      Die alte Tante Lemme – gemeint war die Ehefrau von Gottlieb Lemme, Anna Maria Lemme-Eulenberg (gest.