Heinrich Zschokke 1771-1848. Werner Ort

Читать онлайн.
Название Heinrich Zschokke 1771-1848
Автор произведения Werner Ort
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198825



Скачать книгу

sondern ein Fachlehrersystem, wobei es Rötger wichtig war, dass die Lehrer in ihren Fächern zugleich in höheren und unteren Stufen unterrichteten.

      Die Rahmenbedingungen waren für Heinrich somit ausgezeichnet, als er am 26. April 1779 in diese Schule eintrat. Es wurde ein Fiasko daraus, das an Pfingsten 1781 zu seinem Ausschluss führte. Es lässt sich kaum eine Schulkarriere vorstellen, die bei so guten Voraussetzungen – pädagogischen und fachlichen der Schule und intellektuellen des Schülers – einen schlechteren Verlauf hätte nehmen können. Sie scheint ein einziges grosses Missverständnis gewesen zu sein; alles lief schief. Für Heinrich war die Schule ein Martyrium, für die Lehrer war Heinrich ein Ärgernis und der Schule drohte ein Reputationsverlust. In seiner «Selbstschau» erinnerte sich Zschokke mit Bitterkeit an die beiden verlorenen Jahre.

      «Ich ward in die unterste der Klassen gesetzt. Allein mir Unglücklichen, dem noch die dürftigsten Vorkenntnisse fehlten, blieb aller Unterricht dunkel. Ich saß da, von langer Weile geplagt. Mich ihrer zu entschlagen, überließ ich mich dem sanften Zuge angenehmer Träumereien; zeichnete ungeschlachte Riesen und Ungeheuer aufs Papier; sah in den geometrischen Figuren, welche uns der Lehrer auf die schwarze Wandtafel abbildete, Irrgärten, Thürme und fantastische Brücken. Für kleine Gegengefälligkeiten ließ ich mir von einem Mitschüler die Schulaufgaben lösen, um Strafen und Vorwürfen zu entgehn.»101

      Heinrich scheint beim Schuleintritt von Latein und Französisch nichts verstanden zu haben und ein Jahr später nicht viel mehr. Wie es mit den andern Fächern stand, wissen wir nicht.

      Direktor Rötger gab 1783 den Lehrern, Eltern und Schülern mit seiner «Ausführlichen Nachricht von dem Pädagogium am Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg», eine Anleitung, wie seine Schule funktionieren sollte. Darin schrieb er in seiner etwas skurrilen Orthografie:

      «In den Unterricht bei uns kan jeder aufgenommen werden, der mit Fertigkeit teutsch und lateinisch lesen, etwas ihm Vorgesagtes ohne mühsame Zusammensuchung zu Papier bringen kan, und die lateinischen Paradigmen der Deklinazionen und regulairen Konjugazionen wenigstens mechanisch und mit nothdürftiger Fertigkeit ins Gedächtniß gefaßt hat; und von dem es mir nicht wahrscheinlich sein muß, daß er in Absicht der Sitlichkeit ein Verderber unserer andern Schüler sein mögte.»102

      Vom Eintrittsalter hänge das nicht ab, schrieb Rötger weiter; man habe schon 8-Jährige aufgenommen, «die uns gar nicht lästig wurden».103 Er empfehle aber, Schüler nicht unter zehn oder zwölf Jahren anzumelden, da sie schon einigermassen erzogen sein müssten. Beidem, den erforderlichen Lateinkenntnissen und einer Erziehung, war Heinrich bisher nur ungenügend teilhaftig geworden. Er wurde mit seinen acht Jahren der Schule durchaus lästig.

      Nach Zschokkes «Selbstschau» müsste man annehmen, dass er sich keiner Eignungsprüfung unterziehen musste. Im Lehrkörper war man sich nicht einig, ob an die Anfänger überhaupt schulische Bedingungen gestellt werden sollten. Auf die Frage Rötgers an einer Schulkonferenz, «was für Fähigkeiten und Käntniße der mitbringen müße, welcher in unsrer Quarta aufgenommen zu seyn wünschte», antwortete ein Lehrer: «Aber warum will mann nicht ieden, der lesen kann aufnehmen? Es war, wo ich nicht irre, der Zweck der Einrichtung dieser Klaße, auch die ersten Anfänger aufzunehmen.»104 Selbst wenn Heinrich also eine Prüfung ablegte, die für jeden Neuen Pflicht war, hiess das nur, dass er überall in die unterste Stufe kam, und nicht, dass man ihn zurückstellte.

      Dabei war der Schulleitung durchaus bewusst, dass die angemeldeten Schüler sehr unterschiedliche Vorkenntnisse mit sich brachten. Deshalb wurde 1778 noch eine Vorbereitungsklasse (Quinta) eingeschaltet, welche die bisherigen vier Hauptklassen (Quarta bis Prima) ergänzte. Man stellte dafür einen neuen Lehrer ein, den Kandidaten der Theologie Johann Ferdinand Laue.105 Möglicherweise wurde Heinrich dieser Vorbereitungsklasse zugeteilt. Eine Erwähnung Zschokkes finden wir aber erst ein Jahr später als Schüler der Quarta. Er selber entsann sich, an der Klosterschule hauptsächlich Unterricht von Laue empfangen zu haben.106 Da Laue die Fächer Geografie und Geschichte auch in der Quarta unterrichtete, könnte er zwar auch in die Quarta eingetreten sein; der Besuch der Quinta ist bei seinen mangelhaften Kenntnissen aber wahrscheinlicher.

      Wollte Heinrich von der Quinta aufsteigen, so musste er bestimmte Leistungen in Latein erbringen, die Rötgers so umschrieb: «[...] ein Schüler kan aus derselben nicht eher versezt werden, bis er sich einen ziemlichen Vorrath von Wörtern der lateinischen Sprache, die am häufigsten vorkommen, gesamlet, die regulairen Flexionen der Verben sich bis zur Fertigkeit geläufig gemacht, und leichte Sprachsätze auseinander wikkeln und konstruiren kan.»107

      Zschokke behauptete, er sei mangelnder Leistungen wegen aus der Schule geworfen worden. Nachdem er sich lange durchgemogelt habe, sei er bei einer öffentlichen Prüfung vor der gesamten Lehrerschaft aufgeflogen. «Ich hatte in Jahr und Tag nichts gelernt; und ward, wie billig, um der berühmten Schulanstalt kein Vorwurf zu werden, wegen Mangel an Geistesfähigkeit, aus ihr verwiesen.»108

      Es gelang Heinrich offenbar, den Lehrer, also Laue, hinters Licht zu führen: «Ich, der noch nicht französisch lesen konnte, lernte, mit kräftigem Gedächtniß, ganze Seiten französisch auswendig, die ich mir deutsch geschrieben hatte, und die Übersetzung dazu.»109 Nach dieser Selbsteinschätzung ist es merkwürdig, dass er binnen eines Jahrs von der Quinta in die Quarta versetzt wurde, es sei denn, er hätte es fertiggebracht, Laue auch in Latein so zu täuschen, dass seine Unwissenheit verborgen blieb.

      Im Dezember 1780 wurde erstmals nach vielen Jahren wieder eine öffentliche Prüfung abgehalten und von da an jedes Vierteljahr.110 Hier wurde «dem Schüler Gelegenheit gegeben zu zeigen, ob und wieviel er von dem, was er lernen konte, wirklich gefaßt und behalten, oder nicht».111 Heinrichs Mogelei kam an den Tag. Seine Blamage erinnert an jene von Tom Sawyer in Mark Twains Roman, der, statt Bibelstellen auswendig zu lernen, von seinen Mitschülern Gutscheine eintauscht und an der Preisübergabe vor der ganzen Kirchgemeinde bei der einfachsten Frage versagt.

      Zwar erfolgte der Schulausschluss Heinrichs nicht «wegen natürlicher Stupidität»112 oder, wie an anderer Stelle zu lesen ist, weil er «unfähig zur Erlernung höherer Wissenschaft erklärt» wurde,113 in Zschokkes Erinnerung aber wird die Verbindung zwischen schwacher Schulleistung und seiner Relegation in dieser Weise bestanden haben. Wie wäre er sonst dazu gekommen, die Schande einzugestehen, wegen Dummheit von der Schule gewiesen worden zu sein?

      Carl Günther äusserte als erster Zweifel an diesem Konnex, weil die Schulordnung keine Wegweisung wegen Unfähigkeit kannte, und er beruft sich auf Behrendsens Notizen, wonach eine eigenmächtige Reise nach Böhmen die wahre Ursache dafür gewesen sei.114 Wenn ein Schüler in einem Fach nicht genügte, blieb er einfach sitzen; hinausgeworfen wurde er nicht. Uwe Förster führt Schüler an, die bis zu siebzehn Semester im Pädagogium verbrachten.115 Wenn einem Schüler die Zeit zu lang wurde, ging er noch vor der Prima ab, ohne dass dies seinen Universitätseintritt behinderte. Erst 1789 wurde dafür in Preussen zwingend eine Reifeprüfung verlangt.

      Heinrich, der eingestandenermassen während des Unterrichts mehr träumte als lernte, wurde von drei Fächern besonders gefesselt: von Geografie und Geschichte, die gemeinsam unterrichtet wurden, und von Französisch. Bei letzterem reizten ihn nicht die Sprache, sondern die Erzählungen von 1001 Nacht. In Geografie und Geschichte konnte er seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen. Auf Landkarten reisten die Schüler der Quinta rund um die Welt und quer durch Europa und Deutschland; «zur Ermunterung der Aufmerksamkeit und zur Belohnung des Fleißes» wurden ihnen von Zeit zu Zeit «einzelne sehr merkwürdige und zugleich sehr interessante, vorzüglich Moralbefördernde Begebenheiten aus der Geschichte, oder auch besondere geographische Merkwürdigkeiten, Volkssitten und dergleichen» erzählt.116 Was konnte es für Heinrich und seine Mitschüler Schöneres geben, als sich solche Geschichten erzählen zu lassen? Wenn nur Latein nicht gewesen wäre!

      Der Lateinlehrer war zugleich Hauptlehrer der Klasse und für die Einschätzung der Schüler zuständig, da er dank den meisten Stundenzahlen am ehesten mit ihnen vertraut war. Sein Urteil bestimmte, ob ein Schüler am Ende des Semesters vorrückte oder sitzen blieb. Jede Stufe wurde in zwei Ordnungen unterteilt, so dass ein Schüler