Название | Heinrich Zschokke 1771-1848 |
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Автор произведения | Werner Ort |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198825 |
Alljährlich wurde der Eroberung und Vernichtung Magdeburgs vom 10. Mai 1631 gedacht, und wenn eine wandernde Gesellschaft sich gerade zu dieser Zeit in der Stadt aufhielt, unterliess sie es kaum, das Stück aufzuführen.223 Friedrich Ludwig Schmidt, Schauspieler und seit 1798 Direktor des Magdeburger Aktientheaters, brachte am 10. Mai 1799 sein neues Stück «Der Sturm von Magdeburg. Ein vaterländisches Schauspiel in fünf Aufzügen» zur Uraufführung.224 Innerhalb einer Woche wurde es fünfmal wiederholt und bis 1876 jedes Jahr am 10. Mai aufgeführt.225 Der Magdeburger Philosoph Karl Rosenkranz (1805–1879), der wie Zschokke das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen besuchte und mit ihm über seine Schwester, die Zschokkes Neffen Friedrich Wilhelm Genthe heiratete, verwandt wurde, schrieb in seinen Erinnerungen: «Es war damals die ganz sinnreiche Sitte, daß Kinder gewöhnlich zum ersten Mal am 10. Mai in das Theater mitgenommen wurden, weil dann die Zerstörung Magdeburgs durch Tilly von Schmidt gegeben zu werden pflegte.»226
Frau Wäser jedenfalls zeigte im Winter 1786, als sie mit ihrer 25-köpfigen Schauspielertruppe in der Stadt weilte, die Eroberung Magdeburgs trotz ihrer Behauptung weder in Zschokkes noch in einer anderen Fassung. Es war ja auch gar nicht Frühling, und sie war nur wenige Monate in Magdeburg. Selbst wenn die Truppe das Stück einstudiert hätte, hatte es nur einen lokalen Bezug und wäre in Stettin und Breslau, wohin sie sich nachher wandte, nicht spielbar gewesen.
Frau Wäsers Ablehnung hatte Heinrich keineswegs entmutigt, eher angespornt. Er war mittlerweile so sehr von seinem Talent überzeugt, dass er jede Zurückweisung als ein Zeichen dafür nahm, missverstanden und verkannt zu werden, wie einst, als man ihn aus dem Pädagogium warf oder die Familie Lemme ihm die Beleuchtung seines Zimmers verweigerte und seine Manuskripte als Papier für Münzrollen missbrauchte. Sein Selbstbewusstsein nährte sich daraus, dass er sich in der Schule und durch Eigenstudium ausgedehnte Kenntnisse erworben hatte, überzeugend argumentieren konnte und als Dichter, wenn auch oft nur in Nachahmung anderer, Leistungen erbrachte, wofür er hin und wieder Anerkennung erhielt. Zschokke verfügte über eine rasche Auffassungsgabe, einen wachen Verstand, ein gutes Gedächtnis und inzwischen auch über viel Sprachgefühl und zunehmende rhetorische Kraft. Der Stolz darauf und auf seine wachsenden geistigen Fähigkeiten, die ihn vor den Mitschülern und, wie er meinte, auch unter den Erwachsenen auszeichneten, wird in «Eine Selbstschau» kaum sichtbar. Man muss ihn aber zwingend aus anderen Zeugnissen und Zusammenhängen schliessen.
Sein erster schriftstellerischer Erfolg war das Gedicht «Wechselgesang der Barden Ortho und Sghuna», das im letzten Stück des «Magdeburgischen Magazins» Ende Dezember 1796 erschien.227 Am 17. August 1786 war der preussische König Friedrich der Grosse gestorben. Als sein Neffe Friedrich Wilhelm II. inthronisiert wurde, beeilten sich Würdenträger, Beamte und Dichter, ihm in Prosa und Versen zu huldigen. Zschokke, der sich hinter dem Kürzel «J. Z. D......kke.» verbarg,228 hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: In einem sängerischen Wettstreit preisen zwei altgermanische Barden abwechselnd Friedrich den Grossen und Friedrich Wilhelm II.: Der alte König sei ein grosser Krieger und Beschützer der Unschuld gewesen, lobt der eine; der neue werde sich als Freund deutscher Musen unsterblichen Ruhm erwerben, meint der zweite. Dies war ein Wink an den neuen König, die deutschen Dichter und Künstler zu fördern. Friedrich der Grosse hatte bekanntlich die französische Sprache und Kultur bevorzugt und der deutschsprachigen Literatur Verachtung entgegengebracht. Nach Carl Günther weisen verschiedene Indizien auf Zschokke als Urheber dieses Stücks hin: jugendlicher Überschwang und unbeholfene Verse, der für den frühen Zschokke typischen Hang zu Originalität und die Tatsache, dass er sich damals intensiv mit der «Mythologie der alten Teutschen» befasste.229 Die Harfe, die Ortho und Sghuna anrufen, um den Tod des grossen Friedrichs zu beklagen und den deutschen Gesang wieder zu beleben, verweist auf Ossians Gesänge (erstmals auf Deutsch 1764), die als urtümlich keltische Lieder eines blinden schottischen Barden die Suche nach germanischen Sagen und Volksliedern anregten. Zschokke war ebenfalls von der Ossian-Begeisterung erfasst.230 Zschokkes Verse im «Wechselgesang der Barden Ortho und Sghuna» waren bewusst unbeholfen, um die archaische Sprache und Welt der germanischen Helden und Sänger heraufzubeschwören und mit dem aktuellen Königtum zu verknüpfen. Wie Johann Gottfried Herder – oder vielleicht dank ihm? – war er fasziniert von einer sagenumwobenen, im mystischen Dunkel liegenden, grossartigen Vergangenheit der Völker.
TÖDLICHE KRÄNKUNGEN
Abgesehen von der «Selbstschau» sind Andreas Gottfried Behrendsens Aufzeichnungen die ergiebigste Quelle für Zschokkes Magdeburger Zeit und, soweit überprüfbar, zuverlässiger als jene.231 1785 lernte Zschokke Behrendsen bei der Familie Eltzner kennen, in einem Haus auf dem Werder, einer Insel in der Elbe. Dort lag auch die Bachmannsche Villa, ein Anziehungspunkt für Geistesgrössen und Dichter damaliger Zeit und Versammlungsort der Mittwochsgesellschaft.232 Davon bekam Heinrich nichts mit. Er hatte bei der Schwester seiner Mutter, einer geborenen Jordan, einen sonntäglichen Freitisch, das heisst, er durfte bei ihr zu Mittag essen, und traf dabei den zehn Jahre älteren Andreas Gottfried Behrendsen (1761–1841), einen Stuhlmacher mit philosophischen Neigungen, der um die jüngste Eltznertochter Juliana Charlotte warb. Bevor er sie im Juni 1787 heiratete, sah Heinrich ihn jede Woche einmal. Er schloss sich Behrendsen an und half dem aufgeweckten jungen Handwerker in der deutschen Orthografie, während dieser ihm seine Freundschaft anbot und ein Leben lang mit ihm verbunden blieb.233 Gerne erinnerte sich Zschokke, wie sie beide «mit einander an den Ufern der Elbe umherwandelten und über Gott und Welt gemeinsam philosophirten».234
Mit Bitterkeit registrierte Heinrich dagegen, dass er nicht bei allen Verwandten erwünscht war, dass die Freitische als Almosen verstanden und von seiner Schwester Lemme und von Tante Eltzner manchmal sogar gestrichen wurden.235 Für seine Auslagen standen ihm nur 60 Taler zur Verfügung, die sein väterliches Vermögen jährlich an Zinsen abwarf. Davon wurden die Kosten für Unterkunft und Schule abgezogen, und die restlichen acht Groschen in der Woche mussten für alle anderen Ausgaben reichen, «Licht, Papier, Trinken, Abendessen, Frühstük u. s. w.» Oft sei er hungrig ins Bett und morgens mit leerem Magen zur Schule gegangen, schrieb er in der Rückschau auf die für ihn schwierige Zeit. Um sein Taschengeld aufzubessern, zog er einen kleinen Buchhandel auf. Auch Behrendsen, auf den wir uns hier einzig abstützen, deckte sich bei ihm ein: «Rabeners Satyren und Just von Effens natürlicher Philosoph, wohl conditioniert in ganzem Franzband».236
Zu seinem Unglück war Zschokke nicht besonders geschäftstüchtig. Er nahm Kredite auf, um den Buchhandel zu finanzieren, ging Schulden ein, die er nicht zurückzahlen konnte und musste zu kleinen Betrügereien greifen. Vielleicht verspekulierte er sich mit Buchtiteln, die nicht den Absatz brachten, den er sich erhoffte. In einem einzigen Brief an Behrendsen äusserte er sich über diesen dunklen Fleck in seiner Kindheit:
«[...] in kleine Schulden verfallen, die ich nicht zu befriedigen im Stande war, ohne einen Freund der mir helfen konnte und wollte – Von Schwerin her Vorspieglungen eines bessern Lebens – sehn Sie, alles dies würkte dahin, daß ich, ehe ich fortfuhr, Lügner, kleiner Betrüger, Speichellekker und Stein des Anstosses zu sein, mich lieber durch einen gewagten Schritt in eine ruhigere, reellere von allen Schurkereien abgeschiedne Lebensart zu versezzen suchte, ob ich gleich einen übeln Nachruf zu hoffen hatte.»237
Ausser Behrendsen, Lemme und Henri Faucher hatte Heinrich in Georg Ernst Gottlieb Kallenbach (1765?–1832)