Heinrich Zschokke 1771-1848. Werner Ort

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Название Heinrich Zschokke 1771-1848
Автор произведения Werner Ort
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198825



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erbrachte, aber nur Latein bestimmte den Rang. Als Rötger Probst wurde, wollte er dies abschaffen und eine Versetzung nach der Gesamtleistung einführen. Er habe aber einsehen müssen, «daß die Sache zuviel Schwürigkeiten, und zu wenig Nutzen» bringe, und alles beim Alten gelassen.117

      Seit 1780 wurden in der Quinta und Quarta monatliche Zensuren vergeben und in Tabellen eingetragen.118 Ebenfalls 1780 wurden vierteljährliche «Konduitenlisten» eingeführt, in denen der Hauptlehrer Betragen und Fleiss jedes Schülers und seine Entwicklung gegenüber dem Vorquartal festhielt. Diese Beurteilungen wurden in der Schulkonferenz besprochen und hernach den Schülern unter vier Augen mitgeteilt.119 Rötger wollte dadurch den Charakter eines Schülers kennen lernen und mit ihm mit «Vater- und Freundes-Ernst» reden.120 «Einflössung guter, den Fleiß und das Verhalten des Schülers lenkender, und sein Herz für Tugend und Religion erwärmender Grundsätze ist und bleibt bei aller Erziehung durchaus Hauptsache.»121

      Schüler, die sich auszeichneten, wurden an einem schwarzen Brett belobigt. Auch andere Anreize sollten den Ehrgeiz anspornen oder von Fehlverhalten abschrecken. Dazu stellte Rötger in 118 Schulgesetzen Richtlinien zusammen, die, genauso wie die abgestuften Strafen und Belohnungen, den Lehrern, Schülern und Eltern bekannt gegeben wurden, so dass alle wussten, wie man sich zu verhalten hatte und welche Konsequenzen zu erwarten waren, falls man gegen die Regeln verstiess.122

      Ob Rötgers Regeln umgesetzt wurden, wäre näher zu untersuchen. Er formulierte pädagogische Ziele, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass man sie auch erreichte, denn «Ideale sind für diese Welt nicht».123 Der Erfolg seiner Pädagogik, die auf Charakterbildung abzielte, sei aber deutlich sichtbar, denn der Schulfleiss gehöre seither zum herrschenden Schulton, und man müsse einzelne Schüler sogar bremsen, damit sie nicht übertrieben.124 Was Körperstrafen betrifft, so hat Uwe Förster gezeigt, dass sie auch unter Rötger noch ausgeübt wurden.125

      Während die Zensurtabellen vor 1817 fehlen, sind die Konduitenlisten noch da. Die Quarta wurde seit Februar 1780 von Johann Friedrich Wilhelm Koch (1759–1831) geführt, der zuvor an der Domschule, einem anderen Magdeburger Gymnasium, unterrichtet hatte. Er war ein enorm vielseitiger Lehrer, gab Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik, Physik, Religion und Singübungen und betreute die Schulbibliothek. Für Rötger, der seine fachlichen und pädagogischen Qualitäten schätzte, wurde er bald unentbehrlich; Koch wurde 1785 in den Klosterkonvent aufgenommen, zum Rektor des Pädagogiums ernannt und 1792 dritter Prediger an der St. Johannis-Kirche.126

      Kochs Urteil in der Konduitenlisten vom Sommer 1780 über Heinrich war vernichtend: «Schokke kann ich kein erträglich Prognostikon stellen, denn hier konkurriren schlechter Kopf und Faulheit. Seine Sitten sind Sitten eines Bauers.»127 Heinrich musste erkennen, dass es mit der Schonung und Nachsicht vorbei war, die er bei Lehrer Laue genossen hatte. Koch war nicht geneigt, ungenügende Leistung oder Unaufmerksamkeit im Unterricht zu übersehen. Auch über einen zweiten Schüler urteilte er hart: «Walstorffs ganzes Seyn ist ein Komplexus von unerträglicher Dummheit und stinkender Faulheit, strafbarer Bosheit und Tükke.» Andere Schüler erhielten erfreulichere Qualifikationen, etwa: «Lemme und Lehmann verdienen wegen ihres Fleißes und Betragens Aufmunterung, nur ist dieser noch zu sehr Kind.»128

      Lemme war niemand anderes als Heinrichs Neffe Gottlieb, Sohn seiner Schwester Dorothea. Er war nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn bestimmt, sondern wurde Tuchmacher wie sein Vater, stellte sich aber besser auf die Schule ein als Heinrich. Während Koch über Heinrich Schocke im Herbst 1780 feststellte, es habe sich nichts zum Positiven verändert, schrieb er in der Beurteilungen zu Gottlieb Lemme: «Lemmen hat mir durch seinen Fleiß und Geseztheit viel Freude gemacht.»129 Auf Kochs Vorschlag hin wurde Gottlieb Lemme in die Tertia versetzt, nach Weihnachten folgten ihm Lehmann und Friedrich Schultze nach, während Heinrich und die vier anderen sitzen blieben und sich die Klasse um zwei neue Schüler vermehrte, die aus der Tertia abstiegen.130

      An Ostern 1781 trat ein zweiter Neffe Heinrichs in seine Klasse ein, Fritz Schocke, Sohn seines Bruders Andreas. Fritz war, wie es scheint, noch weniger für die Quarta vorbereitet als Heinrich. Zu ihm notierte der neue Hauptlehrer nach dem ersten Quartal 1781: «Schocke II. Lernt gut. ist aber noch nicht weit. Kann fast gar nicht lesen.» Zu Heinrich lautete sein Kommentar: «Schocke. Ein Spott seiner Mitschüler. Es fehlt ihm immer an allem, hilft auch kein Erinnern, ist sonst aufmerksam. antwortet auch.» Der neue Lehrer, dessen Namen wir nicht kennen, empfand, anders als der strenge Koch, Mitleid für Heinrich, der sich nicht nur das Wohlwollen seiner Lehrer verscherzt hatte, sondern auch noch von seinen Kameraden ausgelacht wurde.

      Der nächste Eintrag zu den beiden Schockes findet sich nicht mehr in der Konduitenliste, sondern im Protokoll der Schulkonferenz vom 21. Juni 1781: «Der Stadt Schüler Bekmann wird seiner bisher verübten Diebstäle wegen relegirt, und die beiden Stadt Schüler Schokke erhalten ihrer Liederlichkeit wegen das consilium abeundi. Bekman bekommt noch vorher vor der ganzen Schule den Stock, auch werden die beiden Stadt Schüler Richard und Berghauer mit dieser Strafe, iedoch ohne Relegation belegt.»131

      Selbst wenn wir nichts Genaueres wüssten, müssten wir uns fragen, ob hier nur die Schüler versagt hatten oder nicht auch die Lehrer. Man rekrutierte sie aus Absolventen der Theologie frisch von der Universität; sie betrachteten den Lehrerberuf oft nur als Sprungbrett auf dem Weg zu einer einträglichen Pfarrstelle. Dies war eine in Deutschland übliche Praxis, wie Jean Paul sehr schön an seinem Egidius Zebedäus Fixlein, Konrektor des Gymnasiums von Flachsenfinger, erzählt.132 Der Lehrerstand war schlecht angesehen und kärglich bezahlt. Wie wollte man unter diesen Umständen erwarten, dass sich die angehenden Pfarrherren an der Schule voll engagierten? Pädagogisches Interesse oder Können wurden nicht einmal vorausgesetzt.

      Das Kloster Unser Lieben Frauen hatte Patronatsstellen an verschiedenen Kirchen zu vergeben,133 und die meisten Lehrer hofften, möglichst rasch dorthin zu kommen. Zuvor mussten sie sich einige Jahre als Lehrer bewähren und dann in den noch schlechter bezahlten Status eines Konventualen aufsteigen.134 Dort mussten sie abwarten, bis eine Pfarrei frei wurde, die dann nach dem Anciennitätsprinzip besetzt wurde. Wohlweislich war es den Konventualen – ein Überbleibsel der alten Klosterzeit – untersagt zu heiraten, da sie ja doch keine Familien hätten ernähren können. So musste Schummel die Schule verlassen, als er Vater wurde, nicht aus sittlichen Gründen, sondern wegen des Eheverbots. Probst Rötger war der einzige verheiratete Konventuale am Pädagogium.

      Durch einen Zufall sind wir genau informiert, weshalb die beiden Schocke von der Schule mussten. Das Kloster Unser Lieben Frauen legte eine Akte mit der Überschrift «Wider den Tuchmacher Schock zu Magdeburg» an,135 wo der Fall aufgerollt wurde. Nachdem Heinrich und Fritz weggewiesen wurden, weigerte sich Andreas Schocke nämlich, das aufgelaufene Schulgeld zu bezahlen, mit der Begründung, die Schule habe nicht genügend auf die beiden Knaben aufgepasst. Eigentlich müsse sie ihn, Andreas Schocke, für seine Umtriebe entschädigen. Der Rektor reagierte empört auf das «impertinente und injuriöse Billet» und übergab die Angelegenheit dem Gericht, das einen Termin einberief und mit Schocke und dem Rektor einen Vergleich schloss.

      Aus dieser Akte geht hervor, dass Heinrich «in Betracht daß er eine Waise und arm ist» statt der üblichen zwölf Taler Schulgeld pro Jahr nur acht gezahlt hatte und dass ihm auch am Eintritts- oder Federgeld zwei Taler erlassen worden waren. Andreas Schocke konnte nachträglich auch das Schulgeld für seinen Sohn Fritz herunterhandeln. Mit dem Vergleich wurden die Affäre und das Intermezzo mit den beiden Schockes für das Pädagogium aus der Welt geschafft.

      Aus den Akten ersehen wir auch den Tatbestand: Heinrich und Fritz waren eine Woche vor Pfingsten 1781 unentschuldigt der Schule fernblieben. Mitschüler hatten den Lehrern erzählt, die beiden Schocke würden die jährliche Revue besuchen, eine Truppeninspektion durch Friedrich den Grossen mit Manövern, Schiessübungen und Parade, die vom 25. bis 28. Mai in der Nähe von Magdeburg stattfand.136 Es war ein Riesenspektakel, der viele Schaulustige anzog. Schon zuvor war die Stadt in Aufregung: Es gab umfangreiche militärische Verschiebungen, damit Magdeburg während der Manöver von Truppen nicht entblösst war.

      Da die Schocke-Kinder öfters