Название | Heinrich Zschokke 1771-1848 |
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Автор произведения | Werner Ort |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039198825 |
Darauf «wurden sie nach gefaßtem Conferenz-Schluße, da sie ohnedem ungezogene junge Leute waren, von unsrer Schule excludiret», wie der Rektor sich ausdrückte.137 Behrendsen fügt das Motiv für ihr Davonlaufen hinzu: Im Geografieunterricht hätten sie vernommen, in Böhmen lägen an den Flussufern Diamanten herum, und sich rasch entschlossen auf den Weg dorthin gemacht.138 Da sie aus der Landkarte wussten, dass Böhmen irgendwo in südöstlicher Richtung lag, wanderten sie einfach der Elbe entlang aufwärts.
Vermutlich war ihr Entschluss nicht ganz so spontan gefallen. Immerhin hatten sie für ihr Verschwinden eine Zeit gewählt, zu der ihre Abwesenheit in der Schule nicht gleich auffallen würde; es hatte ja fast drei Wochen gedauert, bis die Lehrer sich nach ihnen erkundigten. Daraus kann man auch schliessen, dass sie ihr Wegbleiben nur als einen Ausflug betrachteten und im Triumph und mit Taschen voll von Diamanten zurückkehren wollten, bevor man ihr Fernbleiben entdeckte. Dass sie von den Verwandten vermisst und gesucht würden, mussten sie hinnehmen. Aber dass sie deswegen gleich aus dem Pädagogium geworfen würden, hatten sie wohl nicht erwartet, denn unentschuldigtes Fernbleiben wurde normalerweise nur mit Karzer bestraft.
Im Februar davor hatte sich ein ähnlicher Fall zugetragen, der wochenlang Schulgespräch war und Heinrich und Fritz vielleicht zu ihrem Vorhaben inspiriert hatte. Ein Schüler namens Gossler war davongelaufen und von Bauern aus Fähliz halberfroren und -verhungert zurückgebracht worden. Der Rektor heizte den Karzer schon ein, aber von Mitleid übermannt sah er davon ab, ihn einzusperren, bevor er wieder bei Kräften war.139
Drei Schüler mit Namen Gossler, vermutlich Söhne des Kriegs- und Domänenrats Christoph Friedrich Gossler, Grosshändler und Woll- und Seidenhalbzeugmanufaktur-Unternehmer, besuchten damals gleichzeitig das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen. Zwei waren Musterschüler in den oberen Klassen, und die Lehrer waren des Lobes voll über sie. Einzig der jüngste, der geflohen war, in die Tertia ging und nur Gossler der Dritte genannt wurde, galt als flatterhaft und unbeständig.140 Er war zerknirscht und machte glaubhaft, nicht die Schule, sondern das abweisende Verhalten seines Vaters habe ihn zu seinem Weglaufen veranlasst.
Gosslers Fall war also völlig anders gelagert als derjenige der beiden Schockes, die aus purer Abenteuerlust davonzogen, zu einer angenehmen Jahreszeit und vermutlich mit genügend Proviant ausgestattet. Ob sie nur bis Dessau gekommen waren – in Luftlinie etwas über 50 Kilometer – oder umgekehrten, als sie entdeckten, dass der Weg weiter war als gedacht, wissen wir nicht; einziger Zeuge für das Ziel ihrer Reise und den Abholort war Behrendsen, der das Ganze anekdotisch erzählte. Zschokke selber erwähnt den Vorfall nicht. Vom Rektor erfahren wir im Entwurf eines empörten Briefs an Schocke noch, dass Fritz, schon bevor er in die Schule eingetreten war, Heinrich «zu dem nämlichen Exzeß zu verführen suchte, zu dem sich derselbe endlich von ihm verleiten ließ».
Andreas Schocke hatte mit seinem Vorwurf, die Schule beaufsichtige ihre Schüler nur ungenügend, einen empfindlichen Punkt berührt. Zwar hatte sie in der Tat keine Aufsicht über die Freizeit ihrer Stadtschüler, wie der Rektor sich verteidigte, andererseits dauerte der Unterricht von 7 bis 10 Uhr (im Winter von 8 bis 11 Uhr), am Nachmittag von 2 bis 5 Uhr, und der Rest war schulfrei; die Externen mussten in dieser Zeit die Schulräume verlassen.141 Was konnte man anderes erwarten, als dass einige von ihnen herumstrolchten und Schabernack trieben?
Gottlieb Lemme, der etwas gesitteter war als die beiden anderen, erinnerte sich mit Vergnügen an Streiche mit seinem Cousin Fritz und Onkel Heinrich: etwa wie sie über den Fürstenwall spazierten und durch die Kamine der unterhalb gelegenen Häuser den Leuten Steine in den Kochtopf schmissen. Auch das Klettern auf den Sandsteinblöcken vor der St. Katharinenkirche kommt hier vor.142 Die drei Buben hingen eng aneinander; Heinrich schrieb an Lemme, als er im Mai 1795 Fritz in Leipzig aufsuchte, vom «alten Trifolium» (Kleeblatt), das er gerne wieder einmal beisammen sehen möchte.143
Fritz blieb unternehmungs- und reiselustig und kam später doch noch nach Böhmen; er wurde Kaufmann und gründete 1801 mit einem Freund in Reichenberg (dem heutigen Liberec) eine Schönfärberei, die er bis 1807 betrieb; zuvor machte er einen Ausflug nach Konstantinopel.144 Heinrich schenkte ihm für die Reise durch den wilden Balkan einen Sarras (Säbel) mit Koppel, Vater Andreas ein Paar Pistolen.145
Ausser Fritz, Heinrich und dem Dichter Joachim Christoph Friedrich Schulz schlug ein weiterer ehemaliger Mitschüler eine abenteuerliche Laufbahn ein: Carl Friedrich August Grosse (1768–1847) besuchte von 1779 bis 1786 das Pädagogium und wurde im Schulkonferenz-Protokoll vom 19. Juli 1780 zu den hoffnungsvollsten Scholaren gezählt. Er studierte wie sein Vater Medizin, gab das Studium aber auf, bereiste eine Zeitlang Spanien und Italien, legte sich die Titel Marquis von Grosse, Graf von Vargas, stolbergischer Hof- und Forstrat und Ritter des Malteserordens zu und gelangte dann nach Dänemark, wo er sich mit den norwegischen Berg- und Hüttenwerken befasste, Kammerherr wurde und sich mit dem späteren König Christian VIII. befreundete.146 Daneben schrieb er Erzählungen und Romane. Sein bekanntestes und noch heute hie und da zitiertes Werk ist der Schauer- und Geheimbundroman «Der Genius» (1791–1795), der Zschokkes Romane «Die schwarzen Brüder» und «Männer der Finsterniß» beeinflusste. Grosse wird als «Romantiker der Trivialliteratur» bezeichnet.147 Wie Schulz und Zschokke war auch er ein «Opfer» von Lehrer Schummels Leidenschaft für Theater und Belletristik.
Wie ein Stossseufzer tönt es, wenn Rötger 1783 über das Pädagogium unter Schummels Einfluss nachdachte:
«Noch vor wenigen Jahren hatt eine Sündfluth von Lektüre fast allen wahren Fleiß, fast alles eigentliche Studiren weggeschwemt. Beschäftigt waren unsre Schüler auch damahls, aber sie pränumerirten in unsern Leihebibliotheken, nahmen da Bücher entweder ganz ohne, oder doch wenigstens bloß nach eigner Wahl, die denn oft schlecht genug ausfallen mußte, und ist irgendetwas verderbliche Schulpest, so ist es dies. Jezt ist ja diese Epidemie Gotlob fast ganz nun ausgerottet, wenigstens gar nicht mehr Epidemie. Zwar lesen unsre Schüler noch auch teutsche Bücher, und werden dazu gar sehr aufgemuntert, aber es ist das nicht Sucht mehr, der Aufseher regulirt selbst die Auswahl der Bücher und nicht die zum eigentlichen Studiren bestimten Stunden, sondern nur Stunden, die den Nebenbeschäftigungen gewidmet sind [...].»148
Selbst Joachim Christoph Friedrich Schulz schloss in seinen «Kleinen Wanderungen durch Teutschland in Briefen an den Doctor K.*» sein Lob auf Schummel mit einer Kritik (oder war es ironisch gemeint?) auf die «Epidemie» des Romanelesens, das in den Schulen grassiert habe:
«Indessen hatte dies den Schaden, daß einige Schüler die eigentliche Gelehrsamkeit versäumten und leidige Belletristen wurden. Ein Paar davon sind auch als Schriftsteller zur Genüge bekannt geworden. Es ist lobenswürdig, daß der jetzige Director einen großen Theil dieses bellettristischen Unwesens abgestellt hat.»149
Johann Friedrich Wilhelm Koch, der gestrenge Lehrer Heinrichs, in dieser Sache ganz Rötgers Meinung und kein Freund der Schummelschen Pädagogik, schrieb in das Zeugnis eines Schülers: «Klen mag noch izt lieber einen deutschen Roman oder ein Schauspiel leßen, als sich viel zu Nachdenken erfordernden Geschäften versteigen. Sonst ist seine Bescheidenheit, Stille und Artigkeit rühmlich, er qualifiziert sich bis izt nur zu einem empfindelnden Romanschreiber.»150 Dass das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen zu einer Brutstätte für Romanschreiber wurde, mag etwas übertrieben sein, aber die Häufung von Dichtern aus der Ära Schummel ist auffällig.
Und Zschokke? Mehrmals kam er auf seine Faszination der Märchen aus 1001 Nacht zu sprechen; «Aladins magische Lampe und seine ebentheuerliche Bewerbung um die schöne Prinzessin Badrulbudur entzückten mich, als Knaben, und, ich läugne es nicht, behagen mir in mancher Stunde noch izt.»151
IM REICH DER PHANTASIE
Heinrich befand sich in einer magischen Phase, die ihm ein Schutzschild gegen die Unbill der Welt bot, auch nachdem sein Verbleib am Pädagogium des Klosters Unser