Название | Richard R. Ernst |
---|---|
Автор произведения | Richard R. Ernst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199600 |
Die auf Papier gebannten Melodien faszinierten mich fast mehr als die Musik. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir die Partituren aller mir bekannten Werke und ging mit diesen in die Hauptproben der Abonnementskonzerte, die wir als Musikschüler kostenlos besuchen durften. Dort verfolgte ich das auf der Bühne Gespielte in meinen Partituren, die ich nicht selten mit ebenso musikbegeisterten Kameraden diskutierte und tauschte. So machte ich mir die Musik zu eigen. Mir gefiel die Idee, mit den Partituren die Musik quasi zu «besitzen» und die transzendente Kraft der Melodien auf diese Weise «fassen» zu können.
Die klassische Musik war mir in meiner Jugend sehr wichtig, sie half mir, trotz meines kümmerlichen Selbstbewusstseins zu «überleben». Mein erstes Berufsziel war sogar Musiker oder Dirigent, doch dafür hatte ich dann doch zu wenig Talent. Heute wage ich zu behaupten, dass mir die Beschäftigung mit den Partituren den Zugang zu den Geheimnissen der Chemie erleichterte. Denn ist die Chemie nicht im weitesten Sinn vergleichbar mit einer Symphonie? Wie hier die einzelnen Instrumente, die Geigen, die Celli, die Hörner und Pauken zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfinden, mischen sich dort die Elemente, die Atome und Moleküle, und lassen etwas Neues entstehen. Und wie der Dirigent die einzelnen Partituren, so muss der Chemiker die Materie und deren Eigenschaften vollständig durchdringen, damit statt einem Chaos etwas Schönes entstehen kann.
Die Leidenschaft für die klassische Musik ist mir bis heute geblieben. Noch immer habe ich eine Sammlung von Taschenpartituren, die ich mir als Jugendlicher von meinem Taschengeld gekauft hatte. Heute, in meinem fortgeschrittenen Alter, ist mein Gedächtnis nicht mehr das beste, aber die Melodie einer Solosuite von Bach oder das Oktett von Igor Strawinsky summt mir immer wieder wohltuend durch den Kopf.
«Du wirst einmal den Nobelpreis erhalten, grosser Bruder»
Meine jugendliche Sturm-und-Drang-Zeit endete eines Nachts in Polizeigewahrsam. In Winterthur gab es ein traditionsreiches Restaurant an der Marktgasse: das Restaurant Walfisch. Damals fanden dort regelmässig Volksmusik- und Oberkrainerkonzerte statt. Vor und während des Krieges war das Lokal als Treffpunkt der Fröntler, der Schweizer Nazi-Sympathisanten, berüchtigt gewesen. Nach dem Krieg blieb es vor allem in rechtsgerichteten, konservativen Kreisen beliebt.
Diese waren die «natürlichen» Feinde von uns Kantonsschülern. Deshalb versuchten wir, ihre Versammlungen immer wieder zu stören, mehr aus einer jugendlichen Rebellion heraus als aus politischer Überzeugung. Im Jahr 1951 brachte uns unser Rebellentum in erhebliche Schwierigkeiten. Im Restaurant Walfisch fand wieder einmal eine politische Veranstaltung statt. Ein etwas älterer Kollege hatte sich illegal Tränengaspetarden aus Armeebeständen beschafft. Diese warfen wir durch die Fenster, mitten in den Versammlungsraum. Die Teilnehmenden stoben auseinander und retteten sich mit einem Sprung durch Türen und Fenster auf die Marktgasse. Ob ich selbst eine Granate warf, weiss ich nicht mehr, aber ich war dabei. Mit Genugtuung verfolgten wir das Geschehen, doch unsere Schadenfreude verging uns schnell, als die Polizei eintraf. Passanten hatten uns an die Ordnungshüter verraten, die uns umgehend in Gewahrsam nahmen und aufs Revier brachten. Als sich herausstellte, dass wir aus angesehenen Winterthurer Familien stammten, entschärfte sich die Situation für uns. Eine Busse setzte es dennoch – und mein Vater regte sich mächtig auf, dass sein Sohn in eine solche Affäre verwickelt war und sein Name beschmutzt wurde.
Trotzdem wäre der Eindruck, dass ich ein besonders rebellischer Schüler war, falsch. Mehrheitlich war ich ein ruhiger, eher unauffälliger Gymnasiast. Zu Hause war ich gehorsam, die strenge Erziehung meiner Eltern nahm ich stoisch hin, genauso wie meine Schwester Verena. Wir hatten ja alles, es mangelte uns an nichts, ausser vielleicht an Liebe und Anerkennung. «Dumm geboren und nichts dazu gelernt», schalt mich mein Vater oft, wenn er unzufrieden mit meinen Leistungen war oder schimpfte. Ich litt sehr unter Selbstzweifeln und mangelndem Selbstvertrauen. Ich war nie zufrieden mit mir selbst, und ich weiss nicht, ob das Fluch oder Segen ist. Der Begriff «Zufriedenheit» existiert schlicht nicht in meinem Vokabular, noch heute nicht. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich den Nobelpreis überhaupt verdient habe. Mit diesen Zweifeln zu leben, ist nicht einfach – für mich nicht, aber auch nicht für meine Nächsten.
In dieser Zeit interessierte ich mich auch sehr für Literatur. In meiner Jugend fesselten mich zum Beispiel die grossen russischen Romane ganz besonders: «Der Idiot» oder «Die Brüder Karamasow» von Fjodor Dostojewski verschlang ich, die Werke von Leo Tolstoi, Alexander Puschkin oder Boris Pasternak machten mir grossen Eindruck. Aber auch die Romane des schwedischen Autors August Strindberg las ich mit Leidenschaft. Als ich das Gedicht «Im Nebel» von Hermann Hesse las, traf es mich wie ein Blitz. Es drückte genau das aus, was ich fühlte:
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein
Kein Mensch kennt den anderen
Jeder ist allein.
So erinnere ich mich an die Gymnasiumszeit vor allem als eine Zeit seelischer und intellektueller Qual. Die Dinge, die wir dort lernten, schienen mir sinnlos. Vor allem die Sprachen machten mir Mühe; in Englisch, Deutsch und Französisch pendelten meine Noten zwischen einer ungenügenden Drei und einer knappen Vier. Französisch war meine Hasssprache, in Latein brachte ich kein vernünftiges Wort heraus. In meinen Lieblingsfächern Chemie und Physik war ich den Lehrern jedoch schon weit voraus, sodass ich gezwungenermassen in die Oberrealschule wechseln musste, also in die mathematisch-physikalisch orientierte Abteilung. Im Sprachunterricht konnte ich mir einfach die Wörter nicht merken. Die schwierigsten chemischen und mathematischen Formeln zu behalten, fiel mir hingegen sehr leicht.
Die Oberrealklasse der Kantonsschule Im Lee von Lehrer Hans Läuchli (4. Reihe, 1. v. r.), 1951. Richard Ernst (2. Reihe, 3. v. l.) sitzt neben seinem Schulfreund Werner Hablützel (1. Reihe, 1. v. l.).
Ausflug mit den Kadetten Winterthur in die Schweizer Alpen, um 1946. Richard Ernst war als Jugendlicher einige Jahre Mitglied der Kadetten, der Jugendorganisation der Schweizer Armee.
Man erkannte in mir einen Legastheniker, der die Sprachen schlecht lernte, keinen geraden Satz hinkriegte, die Buchstaben verwechselte. Auch mein Vater litt an dieser Schwäche. Wenn er einen Brief oder einen Bericht schreiben musste, gab er diesen meiner Mutter, damit sie ihn korrigierte. Heute würde man mir wohl eher ein Aspergersyndrom attestieren, das als schwache Ausprägung im Autismusspektrum eingeordnet wird. Meine Frau Magdalena, die jahrelang Primarlehrerin war, sagt, sie habe bei mir so ziemlich alle Symptome, die dieser Störung entsprechen, entdeckt.
Denn nicht nur Fremdsprachen bereiteten mir Mühe, auch das Sprechen selbst. Ein Gespräch zu führen, vor allem in Gesellschaft, lag mir gar nicht; mir fehlte jegliche Schlagfertigkeit. Deshalb schwieg ich lieber. Meine Kollegen hielten mich für verschroben, vielleicht sogar arrogant, ein Muttersöhnchen aus guter Familie. Im Studium weigerte ich mich, eine Assistenz anzunehmen, obwohl mir eine angeboten wurde. Der Gedanke, vor einer Klasse von Studenten referieren zu müssen, bereitete mir unendlich viel Pein. Meine Mitstudenten glaubten, ich hätte es als