Название | Richard R. Ernst |
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Автор произведения | Richard R. Ernst |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199600 |
Später, als ich dann zur Schule ging, verbesserte sich meine Situation etwas; zuweilen kamen auch Schulkollegen zu uns nach Hause. Und ich wurde immer abenteuerlustiger – wahrscheinlich auf der Suche nach Anerkennung und Liebe, die ich von meinen Eltern nicht spürte. Ich kletterte im dritten Stock auf das Fenstersims und hangelte mich zehn Meter über dem Boden zum nächsten Fenster. Meine Schwester Verena musste Schmiere stehen und aufpassen, dass uns niemand entdeckte. Leider war Mutter fast überall, sie ertappte mich in flagranti – und war geschockt. Sie schalt mich streng aus, doch es half nichts – ich wurde bloss wachsamer, um bei meinen Streichen nicht mehr entdeckt zu werden. Ich balancierte gefährlich über das steile Dach des Hauses, das, vor allem wenn es geregnet hatte, sehr rutschig war. Doch ich fiel nie hinunter.
Das machte mich nur verwegener. Ich entwickelte mich fast schon zu einem «bösen» Jungen. Einmal bekleckerte ich aus Wut und Ärger über eine schlechte Beurteilung absichtlich das Notenheft des Lehrers. Selbst im Gymnasium leistete ich mir einige Streiche. Einmal erhielt mein Vater Post vom Rektor: «Ihr Sohn Richard muss wegen schlechten Betragens mit Arrest bestraft werden», heisst es in einem Verweis vom Juli 1948. «Es zeigt sich, dass der Knabe einen ungünstigen Einfluss auf die Klasse ausübt […] Ihr Sohn hat sich diesen Samstag, 10. Juli, 14 Uhr zur Absitzung seines Arrestes im Rektorat zu melden.» Mein «Vergehen»: Ein Schulkollege namens Werner Hablützel und ich schwänzten an einem sonnigen Sommernachmittag eine Schulstunde, und statt brav dem Unterricht zu folgen, erforschten wir die Ablenkung von Sonnenlicht mit Spiegeln oder Glasscherben. Allerdings machten wir das nicht irgendwo im Garten oder zu Hause, sondern postierten uns an einem strategisch günstigen Standort unweit des Schulhauses, mit freier Sicht ins Klassenzimmer, wo unsere Klassenkameraden gerade sassen. So machten wir uns einen Spass daraus, die tanzenden Lichtstrahlen auf die Pulte und Gesichter unserer Mitschüler zu lenken – eine Störung des Unterrichts, welche die Autoritäten nicht goutierten.
Abenteuer im Reich der Chemie
Die ersten dreissig Jahre meines Lebens verbrachte ich im Familienhaus an der Gottfried-Keller-Strasse 67. Hier erlebte ich meine Kindheit, mit all ihren Freuden und Sorgen. Hier hatte ich aber auch so etwas wie mein wissenschaftliches Erweckungserlebnis. Doch davon später. Das Haus stand in einem grosszügigen Garten mit alten Obstbäumen, mitten in einem grünen Quartier unweit des Hauptbahnhofs von Winterthur. Es war keine frei stehende, riesige Villa wie der «Frohberg». Trotzdem könnte man es eine Stadtvilla nennen, erbaut aus rotem Klinkerbackstein, dreistöckig, mit einem steil abfallenden Dach, das von verschiedenen Erkern durchbrochen war. Es war ein wunderbares Haus, das die Fantasie anregte. Es hatte herrlich hohe Räume mit verzierten Gipsstuckaturen an der Decke, und im repräsentativen Treppenhaus gaben Lampen und geschmückte Glasfenster, die im Jugendstil gestaltet waren, Licht. «S’Anneli wohnt im Schloss», sagten die Freundinnen und Freunde meiner Tochter Anna, als ich später mit meiner Familie eine Zeit lang hier wohnte. Heute steht der Bau als wichtiger Zeuge der Gründerzeit sogar unter Denkmalschutz.
Das abenteuerliche Haus und der grosse Garten liessen uns Jugendlichen viele Freiheiten. Jeder hatte ein eigenes Zimmer, und in jedem befand sich ein kleines Waschbecken mit einem Wasserhahn, der mich zu allerlei Unfug, wie kurzfristig veranstalteten Überschwemmungen, verleitete. Die Villa hatte einen verwinkelten Estrich und geräumige Kellergeschosse. Eigentlich war sie viel zu gross für unsere kleine Familie. Das mittlere Stockwerk wurde deshalb immer vermietet. Der dunkle Dachboden mit seinen verschiedenen Kammern gehörte jedoch uns Kindern. Er war für uns eine Art Geisterschloss voller Geheimnisse, die uns magisch anzogen. Vor einem gotisch geformten Seitenerker stand ein grosses, hölzernes Kreuz, das uns ermahnte, ein gottgefälliges Leben zu führen. Doch eigentlich war dieses Kreuz ein Gewehrständer, in welchem mein Vater und seine drei Brüder in ständiger Erwartung eines nächsten Kriegseinsatzes ihre uralten Langgewehre aufbewahrten.
Im Kellergeschoss hatte sich mein Vater eine Werkstatt eingerichtet. Erst zögerlich, dann leidenschaftlich eroberte ich auch diesen Ort für mich. Bald verdrückte ich mich, so oft ich konnte, in den Keller, energisch darauf bedacht, alleine werken zu können. Ich ertrug es nicht, kontrolliert, angewiesen oder gar korrigiert zu werden, vor allem nicht von meinem Vater. Die Werkstatt wurde allmählich zu meinem Zufluchtsort, wenn ich wieder mal genug von den «normalen» Menschen da oben hatte. Hier konnte ich tun und lassen, was ich wollte.
Wenn ich nicht unten war, lag ich im Zimmer auf meinem Bett und verschlang die Bücher von Karl May sowie abenteuerliche Reisegeschichten aus fernen Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas. Die fremden Welten faszinierten mich und weckten meine Sehnsucht und meine jugendliche Neugierde.
Unser zweites Reich war der Garten, der bis zu den Bahngleisen reichte, die in die Ostschweiz führten. Noch heute kann, wer nach St. Gallen, Romanshorn oder Stein am Rhein fährt, einen Blick darauf erhaschen. Von schweren Loks gezogen, fuhren damals die Züge aus der ganzen Ostschweiz langsam vorbei. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schleppten sich regelmässig Verwundetenzüge aus dem kriegsversehrten Deutschland von Stein am Rhein nach Winterthur, wo die Soldaten interniert wurden. Sie erschienen uns unheimlich. Manchmal stoppten sie eine Weile vor der Einfahrt in den Bahnhof, sodass wir direkt in die Augen der Soldaten blicken konnten. Wir winkten den Verwundeten zu oder schlüpften sogar durch den Zaun zwischen unserem Garten und der Bahnlinie und warfen den verletzten Männern durch die heruntergelassenen Fenster Orangen, Zigaretten oder Schokolade zu, welche sie dankbar entgegennahmen.
An uns Kindern zog der Zweite Weltkrieg vorbei wie hinter einem Nebelschleier. So erging es wohl den meisten Kindern, die zu dieser Zeit in unserem kriegsverschonten Land aufwuchsen.
Richard Ernst im Alter von rund sieben Jahren.
Richard Ernsts Geburtshaus, eine Stadtvilla aus der Gründerzeit, erbaut von Grossvater Walter Ernst im Jahr 1898. Im Keller führte Richard Ernst als Junge gewagte chemische Experimente durch.
Die für uns dramatischste Folge des Krieges war, wie erwähnt, dass unser Vater die meiste Zeit abwesend war. Im Garten hatte meine Familie im Rahmen der «Anbauschlacht» Gemüsebeete angelegt, und wir zogen Kaninchen, mit denen wir spielen konnten, zumindest bis sie als Sonntagsbraten auf den Tisch kamen. So war das damals, aber für uns Kinder war es natürlich ein Schock, zu erfahren, dass unser «Fritzli» gebraten worden war. Uns allen sind auch noch die Nachrichten von Radio Beromünster mit den aufregenden Meldungen zum Stand des Kriegs im Ohr, die wir hörten, sobald unser Vater nach Hause kam. Unausgesprochen klar war jedoch in unserer Familie, wer die «Bösen» in diesem Krieg waren, nämlich unsere nördlichen Nachbarn. Natürlich begriffen wir damals weder die Gründe noch die Bedeutung dieser Ansichten.
Als Bub interessierte mich sowieso mehr die abenteuerliche Seite der Ereignisse als die politische. Wenn ich zum Beispiel abends die Dachluke öffnete und mit dem Feldstecher die GI-Bomber auf ihrem Weg nach Deutschland über uns hinwegdonnern sah, erfasste mich ein Schauer. Dazu beigetragen haben mag auch, dass uns die Eltern diese nächtliche Ausschau strikte verboten, weil eine strenge Verdunkelungspflicht herrschte. Wie sollte ich denn auch wissen, dass von den Fliegern eine reale Gefahr ausging? Erst später erfuhr ich, dass die Stadt Schaffhausen, nur etwas mehr als zwanzig Kilometer von Winterthur entfernt, 1944 von amerikanischen Flugzeugen bombardiert worden war und 37 Todesopfer und Hunderte von Verletzten zu beklagen waren.
Es muss wenige Monate nach Kriegsende gewesen sein, als ich, mit etwa 13 Jahren, eine schicksalhafte Entdeckung machte. Auf einem meiner Streifzüge auf dem Dachboden fand ich eine Kiste voller Glasflaschen mit verschiedenen Chemikalien. Später erfuhr ich, dass diese meinem Onkel Karl gehört hatten, der Ingenieur gewesen war, sich aber auch für Fotografie und Chemie interessiert hatte. Onkel Karl war, lange bevor ich geboren wurde, beim Skifahren tödlich verunglückt, doch einige seiner