Richard R. Ernst. Richard R. Ernst

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Название Richard R. Ernst
Автор произведения Richard R. Ernst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039199600



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      Spitzenforscher sind eigenartige Menschen, mich eingeschlossen. Für den Erfolg ist eine enorme Disziplinierung der eigenen Bedürfnisse notwendig; es gilt, die Ziele vollkommen in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Emotionen, Befindlichkeiten, ja die «Seele» des Wissenschaftlers haben da keinen Platz; es geht einzig und allein darum, die Naturgesetze so «objektiv» wie möglich darzustellen. Deshalb verzichtet ein Wissenschaftler in vielen Dingen auf das Ausleben persönlicher Freiheiten. Trotzdem sind es Menschen, die im Labor stehen, mitsamt ihrem emotionalen Auf und Ab, den irrationalen Zwischentönen, die in der objektiven Wissenschaft auf den ersten Blick nur zu stören scheinen. Ich bin jedoch überzeugt, dass dieses ganzheitliche Menschsein für den Fortschritt unerlässlich ist. Ein Mensch, der nur auf einem Bein steht, kommt selten schnell vorwärts. Mir war zuerst die klassische Musik, dann die tibetische Kunst sehr wichtig. Ich habe mich in die buddhistische Kultur vertieft und eine Sammlung von kostbaren tibetischen Rollbildern, den Thangkas, aufgebaut. Sie wurde mir zu einem Ausgleich und zuletzt auch zu einer erfüllenden Leidenschaft, die mir über viele Krisen hinweggeholfen hat. Emotional war mein Leben eine wilde Reise voller Höhen und Tiefen. Ich hatte nie das Gefühl, ein Glückspilz zu sein; das Schicksal hat mich nie begünstigt, doch allen Hürden zum Trotz bin ich meinen Weg gegangen. Aber auf keinen Fall wollte ich je nur als «der Wissenschaftler» oder «der Spektroskopiker» gelten.

      Inhalt

       Kindheit und Jugend, 1933–1952

       Studium und Dissertation an der ETH Zürich, 1952–1962

       Silberstreifen über dem Pazifik, 1963–1968

       Rückkehr an die ETH, 1968–1990

       Am Ende das Licht – der Nobelpreis 1991

       Thangkas – Die andere Dimension

       Das Vermächtnis

       Nachwort

       Anhang

      Kindheit und Jugend

       1933–1952

      Ein schwieriger Start

      Als ich jung war, wurde mein Denken von der Suche nach der Wahrheit und nach den Gesetzen der Natur beherrscht. Ich war damals, wie fast immer später, ein einsamer Mensch, der an einem tiefen Abgrund zwischen sich und den anderen litt. Erklären lässt sich das kaum. Schon gar nicht, wenn man meine Herkunft und die ziemlich optimalen Startbedingungen betrachtet, unter denen mein Leben begann.

      Als ich am 14. August 1933 in eine traditionelle Winterthurer Familie geboren wurde, war das zunächst Anlass zu grosser Freude. Ich war der Erstgeborene, ein Sohn und Stammhalter. Mein Vater war Architekt und Professor am Technikum Winterthur, meine Mutter Hausfrau. Wir lebten in einer alten Backsteinvilla aus der Gründerzeit, mit einem grossen, baumreichen Garten, direkt an der Bahnlinie in die Ostschweiz gelegen. Die Familie Ernst weist einen Stammbaum auf, der sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. In der eindrücklichen Familienchronik ist alles minutiös notiert. Die Geburt in eine solche Verwandtschaft ist ebenso Privileg wie Verpflichtung.

      Winterthur hatte damals bereits eine lange Tradition als Handels- und Industriestadt, deren Wohlstand hauptsächlich im Geschäft mit Baumwolle begründet war – eine Entwicklung, die sich im ganzen industrialisierten Europa beobachten liess. So waren im 19. Jahrhundert die Maschinenfabriken Sulzer und Rieter dank dem Bedarf an Maschinen für die Textilindustrie gross und zu nationalen Ikonen des Industriezeitalters geworden. Aus der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik rollten jahrzehntelang die dunkelgrünen Lokomotiven mit dem Schweizerkreuz, die das Land prägten und verkehrsmässig erschlossen. Die Familien Volkart und Reinhart bauten weltweit tätige Handelsimperien auf, die urbanen Wohlstand schufen, der in der schnell wachsenden Stadt auch Kunst und Kultur aufblühen liessen. Banken und Versicherungen wurden gegründet und bildeten die Bindeglieder zwischen investitionsfreudigen Bürgern und den emporstrebenden Fabriken. An etlichen dieser Unternehmungen waren meine Vorfahren beteiligt: Mein Grossvater, Walter Ernst, handelte mit Eisenwaren, einem Grundbedarf des anbrechenden Industriezeitalters. Sein Bruder, Rudolf Ernst-Reinhart, war Ingenieur und Teilhaber der Maschinenfabrik Sulzer und Verwaltungsrat bei der «Bank in Winterthur», aus der später die heutige Grossbank UBS entstand.

      So wurde ich in eine Familie hineingeboren, die ein gewisses Standesbewusstsein hatte. Doch mein persönlicher Start war alles andere als einfach. Bis zum Alter von drei Jahren weigerte ich mich, auch nur ein verständliches Wort zu sprechen. Die Einzige, die mich verstand, war meine Schwester Verena. Sie kam ein Jahr nach mir zur Welt. Verena wurde in meinen ersten Lebensjahren meine Gefährtin durch dick und dünn. Die kryptische Geheimsprache, die ich erfunden hatte, verstand nur sie. Erstaunlicherweise kann ich mich noch heute an einzelne Wörter erinnern. Ich sagte zum Beispiel «Ma päng gi-ga-gi». Das bedeutete «Soldaten». «Gi-ga-gi» bedeutete «viele». Meine kaum den Stoffwindeln entwachsene Schwester Verena verstand mich genau und übersetzte meine Worte für meine Eltern, für die Grosseltern und für andere Besucher dieses Unikums. Ich galt ihr das mit Grimassen und Spässen ab. Ich brachte sie oft so sehr zum Lachen, dass sie sich in die Hosen machte. Für die Dritte und Jüngste im Bund, Lisabet, war das nicht einfach. Verena und ich hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wir rannten zusammen durch den Garten, Lisabet lief hinterher und holte uns doch nicht ein. Wir foppten sie, trieben sie auch manchmal zur Weissglut, wie es nur Geschwister können. So lernte sich Lisabet behaupten – und ist bis heute die Rebellischste von uns drei Geschwistern.

      Da ich kaum sprechen konnte, befürchteten meine Eltern bereits, mit mir stimme etwas nicht. Sie glaubten, dass ich dringend mit anderen Kindern in Kontakt kommen müsse. So schickten sie mich im Sommer für drei Wochen in ein Ferienheim nach Ägeri, in die Innerschweiz. Das machte die Sache nicht besser. Ich litt furchtbar unter Heimweh und weinte viel. Meine Schwierigkeiten, auf andere Kinder zuzugehen, traten brutal zutage. Ich erfuhr erstmals schmerzhaft, wie alleine ich war, ausgeschlossen von den Kindern im Ferienheim und ihrem Spiel. Ich war überglücklich, als mich meine Eltern wieder nach Hause holten. Doch ich wurde zum Bettnässer. Wegen der Plastikeinlagen in meinem Bett riefen mir andere Kinder den Spottnamen «Gummioberst» nach. Ich schämte mich so sehr dafür, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.

      Ich hatte immer das Gefühl, dass sich mein Vater mehr um seinen Stammbaum sorgte als um mich. Ich glaube, er hielt mich für geistig behindert, weil ich nicht richtig sprechen konnte. Er hatte in München studiert, war nach dem Ersten Weltkrieg am Wiederaufbau von Strassburg beteiligt gewesen und dann wieder nach Winterthur zurückgekehrt, wo er bald in den Staatsdienst eintrat. Er wurde Professor am Technikum und baute nur wenige Häuser, doch war er in verschiedenen Baukommissionen vertreten. Mein Vater war streng, konservativ, aber als Lehrer nicht unbeliebt. Seine Studenten nannten ihn manchmal «Papa». Sein grosses Vorbild war sein fast dreissig Jahre älterer Cousin, Johann Rudolf Ernst, der zugleich sein Patenonkel war. Johann Rudolf war mit Abstand das erfolgreichste Mitglied der Ernst-Familie. Er war der Sohn des Sulzer-Ingenieurs und -Teilhabers Rudolf Ernst-Reinhart und übertrumpfte seinen Vater sogar noch. Er leitete 1912 den Zusammenschluss der «Bank in Winterthur» und der «Toggenburger Bank» zur Schweizerischen Bankgesellschaft ein und war dann bis 1941 deren Verwaltungsratspräsident, danach Ehrenpräsident auf Lebenszeit bis zu seinem Tod im Jahr 1956. Zudem sass er in den Verwaltungsräten unzähliger grosser Konzerne aus Maschinenindustrie, Bankwesen und Versicherungsbranche,