Richard R. Ernst. Richard R. Ernst

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Название Richard R. Ernst
Автор произведения Richard R. Ernst
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039199600



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nach der anderen trug ich die Flaschen vom Dachboden in die Kellerwerkstatt hinunter und baute mir ein eigenes kleines Labor auf. Dann begann ich zu experimentieren. Bald entdeckte ich auch einen Bunsenbrenner und durfte diesen an die Gasleitung anschliessen, die das Licht speiste. In der Folge deklinierte ich mich durch die grundlegenden Experimente der Chemie: mischen, schmelzen, verdampfen, destillieren; ich versuchte sogar, Glas zu blasen. Ich erinnere mich, dass im Keller auch mal konzentrierte Salzsäure oder andere gefährliche Chemikalien in unbeschrifteten Apfelsaftflaschen herumstanden. Meines Onkels Koffer war alles andere als ein kindersicherer Chemiebaukasten, wie man ihn heute kennt, mit Anleitung und Warnhinweisen und dem eindringlichen Aufruf, dass jegliche Handhabung «nur im Beisein eines Erwachsenen» ausgeübt werden dürfe.

      Fragmentarisches Wissen holte ich mir selbst aus alten Chemielehrbüchern, die ich in der Bibliothek meines Vaters fand oder später in der Stadtbibliothek auslieh. Ich erinnere mich an das Lehrbuch mit dem Titel «Die Schule der Chemie oder erster Unterricht in der Chemie, versinnlicht durch einfache Experimente». Verfasst war es von Dr. Julius Adolph Stöckhardt, «Königlich-Sächsischer Hofrath und Professor an der Königlichen Akademie zu Tharand», erschienen als 16., verbesserte Auflage im Jahr 1870. Wenn ich heute in einem Anflug von Nostalgie die vergilbten Seiten durchblättere, stosse ich auf Kapitel wie «Unorganische Chemie» oder lese in der Einleitung über «Lebenskraft und chemische Vorgänge», Beschreibungen und Erklärungen, die wortwörtlich aus einem anderen Zeitalter stammen. Darin wurden viele Erkenntnisse vermittelt, die eigentlich schon damals überholt waren und die ich mir später wieder abgewöhnen musste.

      Doch für mich war diese geheimnisvolle Welt eine Offenbarung. Dass zur gleichen Zeit am anderen Ende der Welt, in Kalifornien, ein aus der Schweiz stammender Physiker namens Felix Bloch mit seinen Experimenten eine Grundlage für die Kernmagnetresonanz schuf, die später zu meinem Spezialgebiet werden sollte, wusste ich noch nicht; dass ich eben diesem Bloch, der für seine Entdeckungen 1952 den Chemie-Nobelpreis erhielt, in wenigen Jahren begegnen und ganz direkt von ihm lernen würde, natürlich auch nicht.

      Zunächst einmal kämpfte ich bei meinen Experimenten in meiner kleinen Welt im Kellergeschoss mit unerwarteten Effekten und entdeckte immer neue, erstaunliche Reaktionen. Ich fühlte mich wie ein Seefahrer auf dem Weg zu unbekannten Küsten. Nichts anderes als die letzten Geheimnisse der Natur schienen nur darauf zu warten, von mir entdeckt zu werden. Gepackt von einer unbändigen Neugierde wurde die Chemie zu einem Zeitvertreib, der mich nie langweilte.

      Heute ist mir bewusst, dass diese Beschäftigung auch eine Art Flucht aus meinem komplexbehafteten Dasein war. In meiner verzweifelten Sehnsucht und Suche nach Akzeptanz und Anerkennung fand ich etwas, was mir Respekt vor mir selbst verschaffte. Mein Vater verbot mir die Beschäftigung mit Chemikalien im Keller nicht, unterstützte mich allerdings auch nicht. Meiner Mutter waren meine Tätigkeiten nicht ganz geheuer, sie liess mich jedoch gewähren. In der Schule hatte ich ein Fach gefunden, in dem ich mit guten Noten brillieren konnte, ohne dass das den Lehrer sonderlich beeindruckt hätte. So wurde die Chemie zu dem Betätigungsfeld, das nur mir gehörte, in dem ich mich aber auch von allen anderen abhob. Ich wollte der Einzige sein, der sich damit auskannte, und ich wollte der Beste darin, etwas Besonderes sein. Weder meine Eltern noch meine Schulkollegen hatten die geringste Ahnung von Chemie, auch gab es niemanden in meinem Umfeld, der nur im Entferntesten damit zu tun hatte – diese Wissenschaft war allen so fremd, dass ich sie nicht einmal damit beeindrucken konnte, aber das störte mich nicht. Das Abenteuer Chemie war mir selbst gut genug.

      Mit Igor Strawinsky am Bahnübergang

      Natürlich musste ich als «Sohn von Familie» auch ein Musikinstrument lernen. Ich war acht oder neun Jahre alt, als ich mit dem Flötenunterricht begann. Zuerst spielte ich Sopranblockflöte, dann Altblockflöte. Kürzlich kam eine Vertreterin des Nobelmuseums zu Besuch und bat mich um diese beiden Flöten. Heute sind sie also in Stockholm in der Vitrine «Richard R. Ernst» zu sehen. Eigentlich mochte ich die Blockflöte nie besonders; am liebsten hätte ich Klavier gespielt. Doch das entsprach nicht dem Plan meines gestrengen Vaters. Er hatte jedem seiner Kinder nach dem obligatorischen Blockflötenunterricht ein bestimmtes Instrument zugedacht: mir das Cello, Verena die Geige und meiner jüngsten Schwester Lisabet das Klavier. Wir sollten, so war wohl die Absicht, bei gesellschaftlichen Anlässen ein Hauskonzert geben können, wie es sich in kultivierten Haushalten gehörte. Verena und ich schluckten die Anweisungen klaglos, doch bei meiner jüngsten Schwester Lisabet kam die Order nicht gut an. Sie beherrschte das Klavierspiel nie, und das viele Üben bereitete ihr grosse Mühe. Doch wusste sie sich zu wehren und setzte sich gegen meinen Vater durch: Sie brach das Experiment ab.

      In mir jedoch entflammte eine grosse Leidenschaft für die Musik, genährt von der kulturliebenden Atmosphäre meiner Heimatstadt. Heute hat Winterthur bei vielen Schweizerinnen und Schweizern das Image einer glanzlosen Industriestadt. Vielen unbekannt ist ihre andere Seite: die Museen, die Kunstsammlungen und das Musikkollegium, das ich heute noch gerne finanziell unterstütze. Es würde mich nicht wundern, wenn Winterthur einmal zur Kulturhauptstadt Europas ernannt würde. Aber wie war das erst während des Krieges, als viele Künstler und Musiker nirgendwo sonst in Europa mehr auftreten konnten! Winterthur war zu einem Eldorado für Kultur geworden, die Stadt beherbergte ein berühmtes Symphonieorchester, und die grössten Solokünstler gaben sich im Konzertsaal des Stadthauses die Klinke in die Hand. Der legendäre katalanische Cellist Pablo Casals war da, der Komponist und Dirigent Igor Strawinsky, Schöpfer des Balletts «Der Feuervogel» und des Oktetts für Blasinstrumente (das Originalmanuskript befindet sich noch heute bei der Stiftung Rychenberg in Winterthur), oder immer wieder auch die rumänisch-jüdische Pianistin Clara Haskil, die später das Schweizer Bürgerrecht erhielt.

      Weihnachten im Familienkreis, um 1946. Vordere Reihe (v.l.n.r.): Onkel Erwin Brunner, Marina Brunner-Sulzer, Grosspapa Brunner, Evi Brunner, Grossmama Brunner, Richard Ernst, Mutter Irma Ernst-Brunner, Georg Brunner. Hintere Reihe (v.l.n.r.): Verena Ernst, Lisabet Ernst, Vater Robert Ernst.

      Richard Ernst mit Onkel Erwin Brunner auf dem Zugersee. Die Familie Ernst verbrachte ihre Sommerferien einige Male in einem Kurhaus in Risch.

      Und ich als kleiner Junge befand mich mittendrin in dieser ansteckenden Atmosphäre! Oft sah ich die Künstlerinnen und Künstler von Angesicht zu Angesicht, wenn sie nach ihrem Galaauftritt zur Villa Reinhart spazierten, wo sie sich mit ihrem Gönner und Kulturförderer Werner Reinhart zum Stelldichein trafen oder dieser ihnen eine Übernachtungsgelegenheit anbot. Der Weg dahin führte über den Bahnübergang vor unserem Haus, und nicht selten warteten die bekannten Künstler vor der geschlossenen Schranke. Als Kind kannte ich die Musiker nicht, und ich getraute mich auch nicht, mich ihnen zu nähern. Doch allein ihre Präsenz und Ausstrahlung im ehrfurchtgebietenden Konzertaufzug beeindruckten mich.

      Meine Flötenlehrerin Linda Bach bewunderte meine Hände und sagte immer wieder, wenn ich zu ihr in die Stunde kam, ich hätte die Finger eines begabten Cellospielers. Das muss mir wohl geschmeichelt haben. Mit elf Jahren begann ich mit dem Cellounterricht. Doch ein Meisterschüler wurde ich nicht, obwohl ich es doch so sehr wollte. Ich schaffte es einfach nicht, die Töne auf den Saiten richtig zu greifen; meine manuellen Fähigkeiten entsprachen zu meiner eigenen Enttäuschung nicht meinem Gehör. Und den Unterricht fand ich langweilig, es schien mir wie ein mühevolles Erlernen eines Handwerks, das dem Hochgefühl, das ich beim Hören empfand, so gar nicht entsprach.

      Letztlich war mir die Musiktheorie sowieso lieber. Im Musikunterricht mussten wir Schüler jeweils Musikdiktate üben – und darin war ich regelmässig der Beste. Ich erkannte die Intervalle blitzschnell und konnte sie korrekt notieren. Ich liebte es auch, die Musik zu analysieren – und zu komponieren. Mit zwölf Jahren schrieb ich kleine Stücke für zwei Streichinstrumente, später fügte ich einen Part für Klavier hinzu, und dann führte ich meine «Werke» mit meinen Schwestern an den Geburtstagen unserer Eltern vor deren halb offener Schlafzimmertür auf.

      Bald wollte ich auch Klavier spielen lernen, um meine eigenen Kompositionen mehrstimmig testen zu können. Doch