Heldenstoff. Axel Rabenstein

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Название Heldenstoff
Автор произведения Axel Rabenstein
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783840337819



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der Welt. Im Jahr 2011 erreichte sie den Gipfel des 8.611 Meter hohen K2 und war damit die dritte Frau, die alle 14 Achttausender der Erde bestiegen hatte, die erste, der dies ohne zusätzlich mitgeführten Sauerstoff gelang.

      „Als ich mit 23 Jahren auf dem Vorgipfel des Broad Peaks stand, da wusste ich, dass ich immer wieder kommen würde“, erzählte sie mir über den Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie ihr Leben dem Alpinismus widmen wollte.

      „Seitdem suche ich die hohen Berge, diese grandiosen Dimensionen, die man im Himalaya und im Karakorum erlebt. Die Berge strahlen so eine Kraft und Wucht aus, das gefällt mir einfach wahnsinnig. Ich weiß nicht, wie intensiv andere leben. Aber ich bin mir sicher, dass ich viele Momente erlebe, die besonders intensiv sind. Sie gehen so tief, dass ich mich voll und ganz erfüllt fühle. Von diesen Momenten kann ich sehr lange zehren.“

      Auch, wenn die meisten Bergsteiger immer wieder darauf hinweisen, dass der Gipfel mitnichten das Ziel, sondern erst die Hälfte des Weges markiere, weil darauf in den meisten Fällen ein potenziell ebenso riskanter Abstieg folge, sind es die Momente dort oben, die in besonderem Maße bewegen und in Erinnerung bleiben.

      Auf dem Gipfel eines Achttausenders ist Eile geboten. Ein ungünstiger Wetterumschwung kann sich innerhalb weniger Minuten vollziehen. Bei Windstille ist es mal eine Dreiviertelstunde, meistens allerdings deutlich weniger. Umso intensiver wird der Moment ausgekostet.

      „Es sind immer zwei oder drei Minuten, in denen gar nicht gesprochen wird“, erzählte mir Gerlinde über die Zeit auf dem Gipfel eines Achttausenders: „Ich fühle dann eine demütige Freude, eine tiefe Erfüllung, dort oben stehen zu dürfen. Es gibt nur die Wolken oder den blauen Himmel, und die riesigen Sechstausender liegen irgendwo dort unten.“

      Gerlinde Kaltenbrunner beschrieb mir wunderbare Momente in lebensfeindlichen Regionen. Sie erzählte von knirschendem Schnee, der sich in ihren Worten so behaglich anhörte, als redeten wir über Kaminfeuer. Ich bekam Lust auf von Kälte errötete, eisige Wangen. Und ich bekam ein Gefühl dafür, dass die Natur uns auf viele Weisen ihre Geborgenheit schenken kann. Nicht nur im warmen Sand oder unter einem schattigen Baum; sondern überall dort, wo wir bewusst ihre Nähe suchen und uns auf die ureigene Faszination der Natur einlassen, deren Teil wir sind.

      Das Gespräch liegt mehr als zehn Jahre zurück, aber ich erinnere mich noch genau daran, wie Gerlinde mir von ihrem Heiratsantrag erzählte, auf den sie mit Schmelzwasser angestoßen hatte.

      Es waren -23 Grad Celsius, als ihr damaliger Lebensgefährte und Kletterpartner während einer Himalayaexpedition um ihre Hand anhielt. „Wir haben im Freien übernachtet. Die Nacht war sternenklar und mondhell, die Berge haben geleuchtet und drüben hat man den Mount Everest gesehen.“

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      Ich erlebe in den Bergen, wie vergänglich der Mensch ist.

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      Geht es um aussagekräftige Gesprächspartner in Sachen Bergwelt, führt kaum ein Weg an Thomas Huber vorbei, der mit seinem Bruder Alexander das Duo der „Huberbuam“ bildet. Weltberühmt wurden die beiden Bayern, nachdem sie im Oktober 2007 in der Rekordzeit von 2:45 Stunden die „Nose“ geklettert waren, eine rund 1.000 Meter lange Kletterroute durch eine Granitwand am El Capitan im kalifornischen Yosemite- Nationalpark, für die normale Seilschaften drei bis vier Tage benötigen.

      Ich traf Thomas erstmals bei einem Sponsorentermin am österreichischen Mondsee. „Der Weg zu meinem inneren Frieden geht über die Berge. Dort spüre ich, dass ich lebe“, diktierte er mir in den Block. Ich kann mich noch genau an seinen Blick erinnern, funkelnde Augen unter buschigen Brauen, umrahmt von einer Mähne langer Haare, die ihm bis über den Rücken fielen; eine ungezähmte Erscheinung, die erkennen ließ, dass Thomas Huber kein großer Anhänger der Komfortzone mit ihren geordneten Verhältnissen ist. An seinem Händedruck, an seinem Blick, an seiner Gestik war zu spüren, dass er nach Grenzsituationen sucht, nach Wirklichkeit und Intensität.

      „Das Einzigartige an den Bergen ist, dass man dort Gebiete findet, die absolut unberührt sind. Der Berg ist wunderschön, er steht für die pure Wildnis. Ich erlebe in den Bergen, wie vergänglich der Mensch ist. Man muss nur mal einen Stein in die Hand nehmen: Ein Stein ist fast unzerstörbar, keiner gleicht dem anderen. Ich finde, dass Berge etwas Göttliches haben. Oben auf dem Gipfel ist man Gott eindeutig näher. Ich bin gläubig, auch wenn ich nicht der klassische Kirchgänger bin. Meine Kirche ist die Natur, und mein Weg zu Gott geht über die Berge.“

      Thomas Huber begann in den heimischen Alpen bei Berchtesgaden das Klettern, später bestieg er Berge und Gipfel rund um den Globus, von der Antarktis über Patagonien bis zum Karakorum.

      Warum wird er nicht müde, loszuziehen und die Wände hochzugehen?

      „Ich möchte immer weiter hinter den Horizont schauen. Deshalb suche ich mir immer wieder neue Ziele. Bei jedem neuen Weg muss man sich fragen, ob man ihn überhaupt gehen kann. Der Berg bietet dir unendlich viele Wege, er gibt dir eine Aufgabe, und du kannst sie lösen. Nur, dass es dem Berg ziemlich egal ist, ob du die Aufgabe am Ende wirklich löst.“

      Aber was genau ist der Reiz daran, in einem lebensbedrohlichen Umfeld herauszufinden, ob eine selbstgewählte Tour zu begehen ist, oder ob man sich vielleicht doch verkalkuliert hat und sich plötzlich in einer mehr als misslichen Lage wiederfindet?

      „In einer komplett industrialisierten Welt suchen wir Bergsteiger das Elementarste im Leben: das Überleben“, sagte Thomas: „Stell’ dir vor, du stehst nackt im Dschungel. Worum geht es dann noch? Ums Überleben! Wenn jemand einmal in seinem Leben knapp überlebt hat, dann wird er noch 20 Jahre später davon erzählen, als wäre es gestern gewesen.“

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      Meine Eltern haben mir nie gesagt, was ich tun sollte. Sie haben es mich einfach tun lassen.

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      Der US-Amerikaner Bode Miller war während seiner aktiven Karriere als Skirennläufer für seinen riskanten Fahrstil und seinen Querkopf bekannt, immer wieder griff er Funktionäre des Weltskiverbandes FIS an und warf ihnen Engstirnigkeit vor, zwischenzeitlich verließ er das US-Skiteam und reiste mit eigenem Betreuerstab durch den Weltcup, einige Winter tat er dies während der Rennen in den Alpen sogar im eigenen Wohnmobil, das er den für die Weltcup-Fahrer reservierten Hotels vorzog.

      „Meine Eltern haben mir als Kind sehr viele Freiheiten gegeben“, erzählte mir Bode, als ich ihn im Jahr 2009 nach mehr als 20 Anrufversuchen endlich am Hörer hatte; trotz eines verabredeten Interviewtermins war er zwei Tage lang nicht ans Telefon gegangen, bis es ihm dann irgendwann doch noch in den Kram passte: „Meine Eltern waren der Ansicht, es sei gut, wenn ich die Dinge selbst herausfinde. Sie haben mir nie gesagt, was ich tun sollte, sondern haben es mich einfach tun lassen.“

      Bode Miller wurde 2010 Olympiasieger, viermal Weltmeister und ist bis heute der einzige Athlet, der mindestens fünf Weltcup-Siege in allen fünf alpinen Disziplinen einfuhr. Aufgewachsen ist er gemeinsam mit drei Geschwistern in den White Mountains im nördlichen New Hampshire, in einem von seinen Eltern errichteten Holzhaus ohne elektrischen Strom und fließendes Wasser.

      „Es gab weit und breit keine Stadt, deshalb war ich in einer sicheren Umgebung, meine Eltern brauchten sich keine Sorgen zu machen. In einer Stadt kann viel passieren, dort draußen in der Natur ist es viel sicherer. Und ich war den ganzen Tag draußen, das ganze Jahr über. Im Sommer und im Winter. Du bist allein, läufst stundenlang durch den Wald und hörst auf deine innere Stimme. Es prasseln nicht die ganze Zeit irgendwelche Sachen auf dich ein, die dich gar nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Ich habe schon als Kind viel nachgedacht und die Unabhängigkeit genossen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Das tut dir gut, weil du lernst, die Konsequenzen deiner Entscheidungen zu tragen. Wenn ich mich dort draußen verlaufen hätte, wäre es meine Schuld