Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket). Eugene McCabe

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Название Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket)
Автор произведения Eugene McCabe
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958299986



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nicht lesen.« Dann hörte sie, wie die Männer die Küche verließen.

      Sie ging mit dem Frühstücksgeschirr zur Küche, dann in die Spülküche, wo Mercy ihm, wie an jedem Wochentag, sein Mittagessen in eine schwarze Ledertasche packte: in feuchtes Butter-Musselin eingewickelte Specksandwiches, ein Stück Kümmelkuchen und eine Glasflasche mit kaltem Tee. Durch das Spülküchenfenster sah Billy Winters den drei Männern nach, die den Hof überquerten, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Vor genau fünfundzwanzig Jahren, an diesem Tag und etwa zu dieser Stunde, hatte er von der Treppe her den Schrei eines Säuglings vernommen, unterlegt von der Stimme des alten Doktors McAllister, der mit der Hebamme sprach. Überfordert hatte er sich davongemacht, ohne zu wissen, wohin und für wie lange. Hier nun blickten ihn die gleichen grünen Augen an, aus dem gleichen Gesicht – ein lebendiges Abbild des Betrugs? Beth legte die Kanüle, die sie gesäubert und ausgekocht hatte, in die Schublade des Veterinärschranks zurück. Was sollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Er ging auf sie zu, nahm ihren Ellbogen und lenkte sie in Richtung Hintertür. Er öffnete sie, trat hinaus auf das trockene Pflaster in das trübe Sonnenlicht und die jähen, grellen Schreie früher Schwalben.

      »Scheint in gewisser Weise etwas dürftig … dein Geburtstag.«

      »Ich bin zufrieden, Sir, wirklich.«

      »Mit diesem Haus, diesen Feldern … nicht mit mir.«

      »Bisweilen.«

      »Sag mir, was dich so verdrießlich stimmt.«

      »Jetzt?«

      »Ja, raus mit der Sprache, damit wir’s endlich hinter uns bringen. Du hegst einen Groll gegen mich.«

      Der Vortäuschungen mit einem Mal müde, sagte Beth:

      »Ich denke, Sie wissen es, Sir, und ich weiß, dass Sie es wissen.«

      »Ich habe dir nie etwas zuleide getan, Beth.«

      In die darauf folgende Stille ertönte vom fernen Festungshügel die Coda der Wiesenralle.

      »Oder?«

      »Ich weiß nicht, Sir.«

      »Ich würde eher sterben, als dir ein Leid zuzufügen, Mädel … das weißt du.«

      »Wollen Sie es wirklich wissen?«

      »Ja.«

      »Das letzte Mal sind Sie hereingekommen, haben sich auf mein Bett gesetzt, mich auf unväterliche Art geküsst und dann etwas gesagt, das ich lieber nicht wiederholen möchte. Da bin ich zornig geworden, Sir, und zu Mercy gegangen, um in ihrem Bett zu schlafen.«

      »O Gott«, stöhnte Billy, »und das eröffnest du mir an einem sonnigen Tag im Mai?«

      »Sie wollten es wissen, Sir.«

      Er durchquerte den Hof, drehte sich um und sagte:

      »Immerhin hat der Tag gut angefangen, du hast dich tapfer geschlagen, und das werde ich dir nicht vergessen.«

      Beth schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und versuchte, Worte zu finden, mit denen sie das Gespräch beschließen konnte.

      »Jede andere hätte genauso gehandelt, Sir.«

      »Lass uns ein andermal reden«, sagte Billy, »ich mache es wieder gut.«

      Zu spät, dachte Beth, als sie zusah, wie er Mickey Dolphin nachging, der jeden Morgen mit seinen zwei weißen Emailleeimern den halben Weg zum Steinbruch zurücklegte, um aus einem oberirdischen Quellbrunnen Wasser für das Haus zu schöpfen. Das Wasser, das vom Brunnenhügel durch den Hof floss, war bernsteinfarben und schmeckte morastig.

      Bei trockenem Wetter zog es Billy Winters sommers wie winters vor, zu Fuß zum Steinbruch zu gehen. Dabei gab es mehr zu sehen: Rinder, Schafe und, zu dieser Zeit, den Obstgarten in voller Blüte – und wenn er sich dem Steinbruch näherte, kam immer wieder der Lower Lough in den Blick. Außerdem war es so eine Meile kürzer, als wenn er mit dem Einspänner die Auffahrt zur Landstraße hinunterfuhr und dann außen herum zum Steinbruch. Jetzt ging Billy unter dem Torbogen hindurch zum hinteren Weg. Er gab acht, wohin er trat, damit er seine feinen Lederstiefel nicht mit Kuhdung beschmutzte. Mickey Dolphin hörte ihn, drehte sich um und blieb stehen, um auf ihn zu warten. Während er sich näherte, blickte Billy Winters unablässig zum Himmel empor, und es kam Mickey Dolphin vor, als sei das Gesicht seines Dienstherrn in Ärger erstarrt.

      »Was können Sie da oben lesen, Mr Billy, Sörr?«

      »Da steht geschrieben, dass du letzte Nacht betrunken warst und es mit aller Wahrscheinlichkeit immer noch bist… Eines Morgens wird man dich tot auffinden, und keiner wird da sein, der dich beerdigt.«

      Billy Winters ging ohne anzuhalten an Mickey vorbei, der seine Eimer aufhob und ihm im Laufschritt hinterhereilte.

      »Sie würden mich beerdigen, Billy, Sörr.«

      »Warum sollte ich?«

      »Sie haben mich halt mächtig gern.«

      »Aber warum sollte ich… Was hast du in den letzten dreißig Jahren je für mich getan, außer deinen Lohn zu kassieren? Einen Scheißdreck.«

      »Lohn, Billy, Sörr … zehn Schilling im Monat?«

      »Ja, und immer was zu beißen, ein Dach überm Kopf und meine abgelegten Hemden und Stiefel und Wollsachen.«

      »Sie sind heut Morgen aber schlimm verquer, Billy, Sörr.«

      Da brüllte Billy plötzlich:

      »Vier Männer: du, ich, Gerry Boyle und Jim Ruttledge und eine Kuh, die ihre Qualen herausschreit – und wer rettet sie vor dem Abdecker? Nicht ich, nicht du, nicht Gerry, nicht Jim Ruttledge, sondern ein schmächtiges Mädchen, Elizabeth Rosaleen.«

      »Ja, Miss Beth, ein wahres Wunder, dieses Mädchen. Und schauen Sie, die Kuh ist gesund und munter, Sörr.«

      »Kannst du mir erklären«, sagte Billy mit bedächtiger Stimme, »was es an Mr Percy French auszusetzen gibt? Du bist Bänkelsänger, spielst Mundharmonika, treibst dich an Wegkreuzen herum, bist Volksmusikant, Steptänzer und Fuselschlucker; sag du mir, Mickey Dolphin, was es an Mr Percy French auszusetzen gibt?«

      »Rein gar nichts ist an ihm auszusetzen, Sörr … nach allem, was man hört.«

      »Dann sieh zu, dass du um fünf das Torffeld verlässt, dich rasierst und deine besten Sachen anziehst und Punch so rechtzeitig angeschirrt hast, dass wir um sechs aufbrechen können. Heute Abend wirst du im Rathaussaal Mr French hören.«

      Plötzlich blieb Billy stehen, hielt mit der linken Hand Mickey fest und legte den Zeigefinger der rechten auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu mahnen. Dort, wo sie jetzt standen und lauschten, fiel der Hohlweg zum Steinbruch zwei Gräber tief zu einer Wildnis aus Birken, Erlen und Ahorn ab, einem Morgen abgetragenen Moorlands, wo seit alters her der Unrat von Clonoula abgekippt und verscharrt wurde, eine Schicht über der anderen und zum Teil schon überwuchert: Räder von Karren und Kinderwagen, Reifen, verfaulende Fässer und Kübel, Scherben von Gefäßen und Geschirr, rostige Sturmlaternen, dazu Bauschutt, Latten und Putz, alte Rechnungen und Wirtschaftsbücher und – ein grotesker Anblick – eine blinde Puppe, die von einem neueren Müllhaufen schief herabgrinste.

      In der Stille hörten sie etwas, das wie gleichmäßiges Schnarchen klang. Billy kämpfte sich durch totes Farnkraut und Dornengestrüpp, bis sie den Moorgrund erreichten. Getüpfeltes Licht, trübe wie in einer Kathedrale, und mittendrin, wie auf einer Insel inmitten schwarz schimmernder Moorlöcher, sahen sie den schlafenden Depp McGonnell, den Kopf auf Farnwedeln in die Astgabel einer Birke gebettet. »Der Depp«, flüsterte Billy, und Mickey erwiderte: »Hier wird er wohl kaum Feuer legen, Sörr.«

      Nach einer Minute hatten ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt, und Mickey fragte:

      »Wie wäre ein Mensch in dieser Welt wohl besser dran: blind oder taub?«

      »Taub«, sagte Billy. »Was man hört, ist schlimmer als das, was man sieht.«

      »Blind.