Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner

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Название Ich zähle jetzt bis drei
Автор произведения Egon Christian Leitner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990471173



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sehr ungesunde Sache.

      Ein Journalist sagte freundlich lächelnd zu mir, für meinen Sozialstaatsschuber brauche man einen Waffenschein. Und jemand anderer, einer, der Menschen dabei hilft, gesund zu werden und zu bleiben, scherzte neckisch, man könne durch die Lektüre meines Sozialstaatsromans krank werden. Kritisiert wurde freilich auch, ich sei zu weit oben in den Wolken; die Menschen seien nicht so, wie ich meine; ich überschätze sie. Man sei nur in beschränktem Ausmaß lernfähig. Und zu verächtlich und vorurteilsbeladen Politikern gegenüber sei ich auch. Und mein Kriegsvorwurf an die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft sei unsinnig, ja hetzerisch. Auch kämen die redlichen Bemühungen der Unternehmer, der sogenannten sozialen Kapitalisten, von denen manche sogar für das bedingungslose, voraussetzungslose, allgemeine Grundeinkommen sich stark machen, im Sozialstaatsroman gar nicht vor.

      Dem ist meiner Meinung nach nicht so. Denn zum Beispiel die sozialen Unternehmer Hans Pestalozzi und Daniel Goeudevert kommen im Sozialstaatsroman ausgiebig zu Wort. Die sind vor gar nicht so langer Zeit an ihrer sozialen Gesinnung fast respektive tatsächlich zugrunde gegangen. Goeudevert, jahrzehntelang Spitzenmanager und Vorstandschef verschiedener Konzerne der Autoindustrie, hat sich öffentlich Gedanken gemacht über Lebens-, Wirtschafts-, Energie- und Automobilalternativen und hat derlei Forschungen finanziell massiv gefördert. Von VW-Piëch wurde er daher ein für alle Male abserviert. Und Pestalozzi, den viele mit Jean Ziegler verglichen haben, war Spitzenmanager des Schweizer Migros-Konzerns, welcher später dann, nach Pestalozzis Hinauswurf, den pleitegegangenen roten Konsum Österreich hätte retten sollen, aber nicht wollte. Der in St. Gallen ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler Pestalozzi war die rechte Hand seines Ziehvaters Duttweiler, dessen Genossenschaftskonzern Migros eigentlich den Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus hätte gehen sollen und dies bis zum Tod Duttweilers und dem Hinauswurf Pestalozzis auch tat. Für Duttweiler war das Ziel nicht Wirtschaftswachstum gewesen, sondern die Demokratisierung der Schweizer Wirtschaft und das Lösen elementarer gesellschaftlicher Probleme, nämlich die faire Grundversorgung. Pestalozzi veranstaltete in diesem Duttweilerschen Sinne und in Analogie zum Prager Frühling einen M-Frühling. Und unterlag damit endgültig seinen konzerninternen Konkurrenten. Ein Schweizer Spitzenmanager einer Bank sagte einmal zu ihm, würde seine Bank bei ihren Geschäften ethische Verantwortung übernehmen, hätte das für die Schweiz Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Und der in der BRD dazumal wichtigste Headhunter sagte zu Pestalozzi, damit die Wirtschaft weiterflorieren könne, brauche es endlich wieder einen Krieg. Besagter Headhunter bezeichnete sich selber als Psychotherapeuten, da ohne ihn so viele Spitzenmanager den modernen wirtschaftlichen Realitäten nie und nimmer gewachsen wären. Von Managern, die allen Ernstes und stolz sagen, ihrem Unternehmen und ihnen selber gehe es exzellent, der Beweis dafür sei, dass sie selber schon den ersten Herzinfarkt gehabt haben, erzählte Pestalozzi auch. Und von machiavellistischen Managerkursen im schönen Florenz. Tagungsthema: Wie treibe ich meinen Kontrahenten in der Firma in den Herzinfarkt. Also: Wie bringe ich ihn um? Antwort: Ein Anfang ist, dass ich in sein Privatleben eindringe und sukzessive seine Ehe und damit seine Familie kaputt mache. Von Pestalozzi und Goeudevert berichte ich Ihnen, geschätzte Damen und Herren, der schönen neuen Welt hier und jetzt wegen und zum Zwecke der Illusionslosigkeit den heutigen sozialen Kapitalisten gegenüber, die Goeudevert und Pestalozzi in der Realität, so fürchte ich, nicht das Wasser reichen können. Von Höhn hätte ich andererseits auch erzählen können. Von ihm stammt der Begriff Delegieren. Höhn hat in den Jahrzehnten seines Tätigseins an der Deutschen Akademie für Führungskräfte zwischen einer viertel und einer halben Million Manager ausgebildet. Die Arbeitgebervertreter haben ihn dafür sehr geschätzt und ihn einen Humanisten genannt. Allerdings war er SSler und Geheimdienstler gewesen, im Stabe Heydrichs. So viel davon, dass der Krieg ein Chamäleon ist.

      Ein paar Worte noch, was aus den Sozialstaatsromanmenschen geworden ist, zu einigen von ihnen; und zu den Auswegen; und worum es überhaupt geht. Der persische Flüchtling ist, sagen wir einmal, vor ein paar Monaten gestorben. Ich würde den freien Menschen des Romans Uwe alias Auweh Folgendes erzählen lassen: Zu dem Tages- und Monatsdatum, als der Iraner vor 20 Jahren hierher ins Land gekommen war, ist er gestorben. Ich weiß nicht, ob von eigener oder von fremder Hand oder ob er in der letzten Zeit wirklich so schwer krank gewesen war, jedenfalls war er am Ende. Wir hatten, meine ich, alles versucht, dass er ein Leben haben kann, 20 Jahre zuvor war das gewesen und wir waren Freunde gewesen. Die Männer, die seinen Sarg trugen, beteten und ihn eingruben, erschienen mir jetzt zwischendurch, als kämpfen sie beim Begräbnis vergeblich mit aller Kraft um sein Leben. Sein ganzes Leben hier, soweit ich sein Leben kenne, erschien mir genauso anstrengend und chancenlos wie der Kampf der Männer mit dem schweren Sarg und der harten Erde. Die Gäste bekamen süße Datteln. Ich wusste nicht, was damit tun; nach ein paar Stunden spuckte ich den Kern versehentlich in einen Mistkübel an einem Straßenrand. Meine Frau wird mit ihrem Dattelkern einen Baum zu setzen versuchen. Und natürlich werden wir einmal erfahren, was wirklich geschehen ist. Die ganze schiefe Bahn. Und aus der Familie des Auschwitzwärters hat sich ein junger Mann umgebracht. Ein Enkelkind des Auschwitzwärters. Und der erfolgreiche Ermittler, der beliebte Polizist, der Sonnyboy, hat seinen Dienst quittiert, nachdem bei einer Bewerbung andere ihm vorgezogen und vorgesetzt worden sind; er hat einfach seine Arbeit aufgegeben, ohne jeden Anspruch gekündigt, für seine Frau und seine Kinder ist das eine Katastrophe, für ihn selber sowieso. So also würde ich den Sozialstaatsroman weiterführen. So würde ich es meinen freien Menschen Auweh erzählen lassen. Und noch einiges dazu.

      Sie fragen sich vielleicht, verehrte Damen und Herren, was das alles denn mit dem Sozialstaat zu tun haben soll und wie der Sozialstaat bei solchen einzelnen Lebensgeschichten und Lebensereignissen überhaupt zuständig sein soll, das sei doch nicht einzusehen. Mit Verlaub, wenn der iranische Flüchtling viel früher, Jahre früher, hier hätte legal arbeiten können, hätte er hier seinen Platz im Leben gefunden und sein Leben wäre völlig anders verlaufen und er wäre noch am Leben. Darauf wette ich meines. Und der Polizist stand stets unter gewaltigem Leistungsdruck und hatte niemanden außerhalb seiner Familie, an den er sich um Hilfe wenden konnte. Es gab keine Hilfseinrichtung, keinen Helfer, an den, an die er sich vertrauensvoll mit seinen Problemen, zumal als Geheimnisträger, wenden konnte. Mit Verlaub, die Polizei ist, die PolizeibeamtInnen sind Teil des Sozialstaates. Die Suizidanten sind das auch. Der erwähnte junge Mann, das Enkelkind eines Auschwitzwärters, stammte aus einer Familie, deren Mitglieder nahezu alle in helfenden Berufen arbeiten, selber auch hilfsbereit sind und zwischendurch auch sehr katholisch. Oft hatten sie das Problem, sie, die Helfer, dass sie nicht wussten, an wen sie sich um Hilfe wenden können. Sie kannten nämlich ihresgleichen. Helfer, die selber nicht wissen, was sie tun sollen. Oder Helfer, die eben keine Schwächen zeigen wollen. Oder die ihren eigenen Kindern nicht helfen können. Oder die damit aufgewachsen sind, dass jeder selber schauen muss, wo er bleibt, inmitten all der Hilflosigkeit. Und inmitten all dessen, worüber man nicht reden darf. Die Probleme von Menschen in helfenden Berufen gehören m. E. zum Sozialstaat. Auch die sogenannten privaten Probleme. Bourdieu, wie Sie wissen, riet, über all die Dinge anders zu reden. Und über andere Dinge zu reden als üblich.

      Bourdieu für Österreicher / Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, SUPI-Konferenz zum Thema Social Vulnerability, FH Joanneum, Graz

      Ein üblicher Bericht über ein Kind, das nur zufällig überlebt hat. Davon, wie Menschen waren und was aus ihnen geworden ist. Und über die Hilfseinrichtungen, deren jeder Mensch im Laufe seines Lebens bedarf; wenn nicht er selber, dann die ihm Nahestehenden. Von den Glücks- und Unfällen darin. Von erlernter Helferhilflosigkeit, professionell unterlassener Hilfeleistung, Schweigepflichten und dem Totreden. Von Not- und Zwangssituationen quer durch die Milieus und Metiers, Klassen, Schichten und Institutionen und von Happy Ends. Und über das Unterleben und über berufliches Looping. Und darüber, dass man Zeit und Zeitverlust besser in Menschenleben und Menschenleid misst. Von Systemfehlern und Systemunfällen und vom Beheben und Verhindern derselben. Eine loyale Systemanalyse von innen und von den Folgen her. Und eine all dessen, was die geld- und gesetzgebenden Politiker aufzwingen.

      Ein Nachdenken über die Aussichten einer Frauen- und die Chancen einer Sozialstaatspartei. Über all die gegenwärtigen Versuche, die Politik neu zu erfinden,