Название | Ich zähle jetzt bis drei |
---|---|
Автор произведения | Egon Christian Leitner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990471173 |
Infolge des Sozialstaatsschubers – das viele Freundliche und Ermutigende, für das ich dankbar bin, lasse ich im Moment beiseite, insbesondere die schriftlichen Rezensionen im Falter, in den Salzburger Nachrichten, in der Presse, im Wiener Literaturhaus – ist spontan in Gesprächen allerlei geargwöhnt, ja befürchtet worden. Zum Beispiel sei ich maßlos, übertreibe das Leid, wolle auf diese Weise moralisch erpressen, Privilegien lukrieren, mich gegen Kritik immunisieren. Und ich beschriebe fast nur Verhängnisse und Finsternis. Überfordere auch dadurch. Sei hermetisch. Zwischendurch unglaubwürdig. Redundant sowieso. Und was die Kindergeschichten anlange, so seien diese oft weder alters- noch kindadäquat. Kinder seien nicht so, denken nicht so. Auch das Kind nicht, von dem ich vor allem erzählte. Des Weiteren sei der Sozialstaatsschuber ein Schlüsselroman. Und Schlüsselromane seien ganz einfach keine Literatur, sondern eine Gemeinheit. Und wie ich gewisse verantwortliche Entscheidungsträger darstelle und wie bestimmte staatliche Institutionen oder gemeinnützige Hilfseinrichtungen schildere, sei ungerecht und entspreche so gewiss nicht der Realität. Ich wolle mich offensichtlich rächen. Und ich verlöre kein Wort über all den Idealismus, den Heroismus, die Bescheidenheit, die Selbstlosigkeit trotz Arbeitsleides und Geldmangels.
Sollten auch Sie, verehrte Damen und Herren, den Eindruck haben, ich sei respektlos, irren Sie sich – wie man so sagt – gewaltig. Ich habe nämlich sehr wohl Hochachtung vor den Menschen, die so, wie gerade berichtet, auf den Sozialstaatsschuber reagiert haben und in Beruf und Alltag aus allem, auch aus dem Schlimmsten, das Beste zu machen gewohnt sind und sich bemühen. Es sind Menschen oft in Zwangs-, Not- und Extremsituationen. Auch diejenigen unter ihnen, die im System sehr gut positioniert sind. Was Letztere wissen, macht ihnen, meine ich, selber Angst. Auch wenn sie öffentlich ganz anders reden. Zum Beispiel mannhaft. Oder wie große Kommunikatoren oder Organisatoren oder Macher. Das Insgesamt ist unterm Strich dennoch eine Form von Helferhilflosigkeit.
Ich habe jedenfalls kein einziges Leid erfunden. Leid und Leidende zu erfinden ist mir unmöglich. Kein einziges Leid im Sozialstaatsroman ist erfunden und kein einziger leidender Mensch. Das Leid habe ich auch nicht übertrieben. Es ist in der Realität zu viel. Das kommt daher, wenn den Hilfsbedürftigen nicht geholfen wird. Dann nimmt das Leid kein Ende, wiederholt sich dauernd. Für den Hilfsbedürftigen ist das im Gegensatz zum Leser keine langweilige Angelegenheit, sondern eine Qual. Und jede, jede Situation ist von neuem und auf andere Weise bedrohlich. Der Leser kann ein Buch weglegen, ein Hilfsbedürftiger hingegen entkommt der Realität nicht. Die Notsituation nimmt in der Realität kein Ende, solange keiner in der Realität Abhilfe schafft.
Der Sozialstaatsroman ist kein Schlüsselroman, aber wenn man sich als Mensch darin wiederfindet oder einen Menschen, den man liebt, ist der Sozialstaatsroman gelungen. Den Sozialstaatsroman als Schlüsselroman zu lesen, würde ihn nicht verständlicher machen, sondern ihn verschließen und zerstören. Denn man würde irgendwelche XYZs lautstark beschuldigen und verteufeln, anstatt die Systemfehler zu benennen und zu beheben, die potentiell jeder der heute hier Anwesenden, mit Verlaub, jeder von uns, begehen kann. Als Schlüsselroman wäre der Sozialstaatsschuber wirkungslos und bloß eine Art Ablenkungsmanöver. Was im Schuber, wenn es nach mir geht, beschrieben wird, sind vielmehr Menschen in Milgramexperimenten, sprich: in Hilfseinrichtungen. Die Experimentatoren dabei sind die Politiker und die Wirtschaftsherren. Die malträtierten Versuchspersonen sind die Ausübenden der helfenden Berufe und die Hilfesuchenden.
Ein Kulturmanager war mir übrigens einmal kurz gram, auch das eine Folge des Schubers, weil ich treuherzig gesagt hatte, das Problem sei, dass es keine Fehlerkultur gebe, und ein Ausweg wäre, wenn es endlich eine Fehlerkultur gäbe. Man nahm das als unfairen Vorwurf an den gegenwärtigen Kulturbetrieb, insbesondere gerade auch an den sich sozial engagierenden. Ich hatte das gar nicht so gemeint und war sehr erstaunt über die heftige Reaktion. Sie gab mir zu denken. Ich bleibe daher dabei: Dass eine Fehlerkultur nicht selbstverständlich ist, ist ein großer Teil des Problems.
Was die Vorhaltung anlangt, ich beschreibe nur Verhängnis – nun: Ich behaupte, Sie werden im Sozialstaatsroman auf keinen einzigen Menschen stoßen, egal, ob er Ihnen sympathisch ist oder widerwärtig, der nicht versucht, aus irgendeinem Verhängnis herauszukommen. Die meisten dieser Versuche wären m. E. tatsächliche Auswege gewesen und sie sind das m. E. immer noch. Und, mit Verlaub, es waren und sind oft einfache Auswege. Der Sozialstaatsroman will, soweit es nach mir geht, in jeder seiner Geschichten sichtbar machen, was alles im Guten ohne sonderlich großen Aufwand und ohne sonderlich große Anstrengung möglich gewesen wäre. Alle angeblichen Tragödien im Sozialstaatsschuber handeln davon, dass die Hilfe so leicht wäre und trotzdem unterbleibt. Jeder Ausweg ist, behaupte ich, im Sozialstaatsroman ablesbar; gerade in der jeweiligen scheinbaren Ausweglosigkeit. Man kann diese scheinbare Ausweglosigkeit als Leser versuchsweise von neuem durchspielen und man würde, hoffe ich, erkennen, was man alles tun hätte können, tun könnte – und wie leicht.
Apropos schwer und leicht: Von Leuten, die in den Sozialstaatsroman hineingelesen haben, wurde mir im Gespräch des Öfteren gesagt, dass es im Schuber ja doch offensichtlich um Salutogenese und Resilienz gehe. Und dass die Salutogenese und die Resilienz eben so wichtig und faszinierend seien und einem das Leben leichter und schöner machen, wurde mir gesagt. Was mir jedoch am 08/15-Alltagsgerede über die sogenannte Resilienz- und Ressourcenforschung und auch über die Positive Psychologie heutzutage gar so unheimlich ist: Man interessiert sich zwar vernünftigerweise und lebhaft dafür, wodurch Menschen überleben und sich des Lebens freuen können. Durch welche Fertigkeiten, Fähigkeiten, Werte, mitmenschlichen Konstellationen. Aber man schaut, so will mir aufgrund des 08/15-Alltagsgeredes scheinen, nicht nach, wie viele Menschen nicht überleben oder sich des Lebens nicht freuen können, weil ihr Überlebenskampf, ihre Fertigkeiten, Fähigkeiten und Werte, ihre Schönheiten und ihr Einfallsreichtum nicht wahrgehabt werden, weil also all das, was diese Menschen alles versucht haben und gekonnt haben, ignoriert oder für wertlos erachtet wurde. Gerade davon handelt der Sozialstaatsschuber. Und auch von Leuten, Funktionären, feinen Maxln, die liebend gerne von Resilienz und Ähnlichem reden, aber sich von ihren Mitarbeitern, besser gesagt Untergebenen, hinten und vorn bedienen lassen. Und dabei gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles können würden oder was diese selber an Hilfe brauchen. Das übliche 08/15-Gerede von Resilienz kaschiert da nur, dass Hilfe verweigert wird und dass ein Konkurrenzkampf herrscht.
Mit dem, was ich soeben über Resilienz und Ähnliches vorgebracht habe, will ich kein Wort gegen Martin Seligmans Positive Psychologie gesagt haben, ich verstehe bloß Seligmans gute Beziehungen zur Wallstreet und zur US-Army nicht; und mit dem vielumjubelten sogenannten Flow ist das auch so eine Sache. Jörg Haider, als er rauschig in den Tod raste, war nämlich gewiss auch im Flow. Jeder Suchtkranke will dorthin. Und jede Neonazihorde, die einen Migranten hetzt, ist im Flow. Sei dem, wie es sei, selbstverständlich handelt der Sozialstaatsschuber von Resilienz, Salutogenese, Flow, Flourish, Kreativität und so weiter. Aber auf der anderen Seite