Название | Ich zähle jetzt bis drei |
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Автор произведения | Egon Christian Leitner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990471173 |
Und einmal erzählt ihm ein Gewerkschafter, sagen wir einmal, im Frühjahr 2001, dass die Gewerkschaft gar nicht streiken könne, denn die Streikkassen seien in Wahrheit leer und die Gewerkschaft müsse, wenn sie wirklich streiken wolle, zuvor ihre Bank verkaufen. Und so weiter und so fort. Falls Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, all diese Dinge nicht nur als langweilig und ermüdend, sondern auch als an den Haaren herbeigezogen und als viel zu dick aufgetragen erscheinen, als peinlich, weil egoman und megaloman, dann muss ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, enttäuschen: Sie sind, wie soll ich sagen – wahr. Romanwahr.
Zurück zu Werner Vogt, Baujahr 1938, aufgewachsen im Krieg, aber daheim in Sicherheit, da, so sagt er, in einer klassenlosen Frauen- und Kindergesellschaft und behütet von einem verlässlichen Großvater. Vogt hat in seinem Leben von seinen Dienstgebern oft Rede- und Schreibverbot bekommen. Hat sich natürlich nie daran gehalten. Wollte auch, dass der Sozialstaat zentrales Wahlkampfthema werden soll; und wenn die etablierten Parteien dazu nicht imstande seien, dann müsse man eben eine Sozialstaatspartei gründen, und zwar auch, um dadurch auf die anderen Parteien einzuwirken. Die Idee des Sozialstaates sei, so Vogt anno 2002, die Idee der Menschen-Achtung, der Chancengleichheit, der staatlich garantierten Absicherung bei den großen Lebenskrisen, die Gefahrengemeinschaft. / Nicht jeder gegen jeden, sondern: Alle zahlen und wer braucht, bekommt. Der Staat müsse, so Vogt 2002, die Finanzierung des Sozialstaates sichern, indem er alle Gewinne der Finanzindustrie radikal besteuere. Eine Idee von Vogt war es auch, wenn ich richtig verstanden habe, das Gesundheitswesen und das Sozialwesen in Ausbildung und Verwaltung zusammenzulegen; es müsse jedem Helfer klar sein, dass er einen Sozialberuf erlerne, und es müsse eben eine gemeinsame erste Ausbildungszeit geben, in der ein solider Überblick über die Möglichkeiten von Institutionen gewonnen werden kann. Und die Schutzbefohlenen müssen am eigenen Leib erfahren können, wie wertvoll und gut die Arbeit ist, die für sie getan wird. Dass also Qualität möglich ist. Und dass man ein unverzichtbares Recht darauf habe. Vogt ist überzeugt, dass wirkliche Qualität in den Folgewirkungen billig ist, schlechte Hilfe hingegen Folgekosten noch und noch verursache.
Er arbeitete in der Kreiskyzeit mit an einer Aufsehen erregenden und auch verfilmten Studie über das österreichische Gesundheitsssicherungssystem; war Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin, kämpfte für die gefolterten und vergessenen Spiegelgrund-Kinder, für den Spiegelgrund-Erwachsenen Friedrich Zawrel und gegen den Herrn Zawrel verfolgenden hochgeehrten sozialdemokratischen Nazipsychiater, Gutachter, mörderischen Primarius Gross. Vogt war Oberarzt der AUVA, arbeitete als Unfallchirurg auch in Nicaragua und in Rumänien, war Mitglied der Fact-Finding-Missionen im Kosovo. Pflegeombudsmann der Stadt Wien war er bekanntlich auch und später dann im Sozialministerium tätig. Aus diesen beiden Funktionen wurde er entfernt. Von Sozialdemokraten. Die Begründung war meines Wahrnehmens, dass er kein Pflegewissenschaftler sei. Eine solche Begründung ist selbstverständlich absurd, denn was wäre die österreichische Pflege samt dazugehöriger Wissenschaft ohne die Verdienste Werner Vogts.
Zitate Vogt: Alles, was es »draußen« gibt, existiert auch »drinnen«. [Anstalten, Spitäler, Altersheime] sind nicht die heile Gegenwelt zur schrecklichen Außenwelt. / Die Eingesperrten betreuen die Ausgesperrten. Und der Gesetzgeber ist zugleich der Gesetzesbrecher. – Arm pflegt Arm, beide sind desintegriert, isoliert, stigmatisiert, nagen häufig – physisch wie psychisch – am Existenzminimum. Worauf Vogt immer gesetzt hat, war die Mobilisierung der Öffentlichkeit, die Mobilisierung des Rechtsstaates. / Öffnung, Herstellen von Öffentlichkeit. / Gegenöffentlichkeit. Allen erzählen, was wirklich war. / Das Schlimmste ist, dass sich alle Beteiligten an das gewöhnen, was ist. / Eines von Vogts Lebensprinzipien stammt von Elias Canetti, nämlich: Sag dich von allen los, die den Tod hinnehmen. Vogts beharrliche Gegenmaßnahme: Es gehört Normalität hergestellt. Zu diesem Zweck rief er etwas ins Leben, das er Aktion unschuldiger Blick nannte.
Dass ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, die Sie der Sozialarbeiterschaft oder deren Wissenschaft oder Politik angehören, einmal mehr Werner Vogt in Erinnerung rufe, hat den Grund darin, dass ich von Ihnen als Ausübende von helfenden Berufen auf diesem Kongress, bitte, erfahren möchte, ob das, was der Berufshelfer Vogt sich gemeinschaftlich ausdenkt, Ihnen wertvoll, sinnvoll, verwendbar, machbar, hilfreich erscheint. Oder eben nicht. Jedenfalls hat Bourdieus Sozioanalyse, die Menschen ja ausdrücklich ein zweites Leben ermöglichen will, mit Vogts Aktion unschuldiger Blick m. E. sehr viel gemeinsam.
Wie Ihnen vermutlich weit besser als mir bekannt ist, gibt es in Graz die beharrliche Vinzenzgemeinschaft und den unbeirrbaren Pfarrer Pucher. Was mir – Kirche hin, Kirche her – daran für Berufshelfer und Berufshelferinnen existenziell wichtig erscheint, ist, dass sich Pucher und die Vinzigemeinschaft offensichtlich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen. Ich glaube nicht, dass das alle Berufshelfer von sich sagen können. Und schon gar nicht angesichts der üblichen Arbeitsteilungen in der sogenannten arbeitsteiligen Gesellschaft. Und während manch andere Helfer ob der Grauzonen und beruflichen Abhängigkeiten in gewissem Sinne gar Angst haben, immer, wie man so sagt, mit einem Fuß im Kittchen zu stehen, kann Puchers schnelle Eingreiftruppe auf den Schutz durch die Gesetze und den Rechtsstaat vertrauen. Auch das Modell Pucher & Co hat, wie das Modell Vogt, m. E. Wesentliches mit Bourdieu gemeinsam, nämlich das Verständnis von Autonomie und Beruf.
In Graz findet sich des Weiteren seit neuestem ein vorbildliches Modell für ganz selbstverständliche Fehlerkultur. Eine deutsche Pflegewissenschaftlerin hat ein inzwischen mit einem Preis ausgezeichnetes Konzept zur Sturzvermeidung in steirischen Spitälern entwickelt. Die Stürze pflegen nämlich für die Patientenschaft folgenschwer zu sein. Alle durch das Krankenhaus und das Personal verursachten Fallen werden jetzt aber ab sofort konsequent unschädlich gemacht. Bis dato war das unverständlicherweise alles andere als selbstverständlich. Auch diese konsequente Fehlersuche und Fehlerbehebung erscheint mir mit Bourdieus Sichtweisen wesensverwandt. Ob ein solches pflegewissenschaftliches Modell der Fehlerkultur auch für die Sozialarbeit wünschenswert ist, interessiert mich von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, im Laufe des Kongresses zu erfahren.
Bourdieu (geboren 1930, gestorben wie gesagt 2002) meinte, gegenwärtig sei eine rechte Revolution nach der anderen im Gange – eine permanente neoliberale Revolution, durch die der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt werde; und die Linken und Alternativen seien aber immer 2, 3, 4 Revolutionen hintennach; können gar nicht so schnell begreifen, geschweige denn dazwischengehen, geschweige denn wirklich, rechtzeitig und gemeinsam; sie seien auch nicht in der Lage und nicht imstande, untereinander, untereinander das Konkurrenzprinzip Jeder gegen jeden und Jeder muss selber schauen, wo er bleibt wo nur irgend möglich außer Kraft zu setzen. Aber dass sie das zustande bringen werden, sozusagen die kleinen Wunder und Kostbarkeiten, darauf setzte er und arbeitete er hin. Unter anderem auf autonomie- und verantwortungsbewusste Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler, Künstlerinnen, Künstler und auf illusionslos aufbegehrende Jugendliche hoffte er, desgleichen auf Arbeitnehmer, die schon lange in den Unternehmen sind und – da altgedient – wissen, wie die Dinge laufen. Vor allem aber auch auf die Ausübenden der helfenden Berufe;