Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner

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Название Ich zähle jetzt bis drei
Автор произведения Egon Christian Leitner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990471173



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wahrgenommen, gedacht, geredet wie jemand, der zwar der Zerstörung entkommen sei, der aber innen und außen immer noch inmitten allgegenwärtiger Zerstörung und ständiger Bedrohung lebt, leben muss. Lévinas habe angesichts der Vernichtung, der Qualen, der Unentrinnbarkeit, der völligen Sinnlosigkeit, welcher die Menschen, die er liebte, erbarmungs- und endlos ausgesetzt waren, keinen anderen Sinn mehr fühlen können als den, von dem er berichtet. Es bestehe die Gewissenspflicht eines jeden Menschen, das Leiden eines jeden anderen Menschen auf sich zu nehmen, zu tragen und zu beheben, steht bei Lévinas festgeschrieben. Die jeweiligen Eliten freilich, meinte er, neigen zu einem heuchlerischen Verständnis von Gewissen, Nächstenliebe, Gott. Man mag meinen und zugestehen, Lévinas rede von Extremen, gegen Extreme sei er vielleicht gut. Doch Lévinas redete von jedem Tag, vom Alltag, von Alltagsmenschen, von alltäglichem Leben. Lévinas’ seltsames Denken will Menschen unbeirrt und unnachgiebig vor der Gewalt schützen, die sie einander antun. Für Richard Sennett jedenfalls ist Lévinas vielleicht das wichtigste Gegenmittel gegen die Gegenwart mit ihrer neuen Wirtschaft, neuen Politik, neuen Kultur und ihrem neuen Seelenleben samt neuer Arbeit. Die Unverletzlichkeit des menschlichen Antlitzes und die absolute, rückhaltlose Hingabe an den Anderen, darauf beruht diese seltsame Ethik. Lévinas’ Verständnis von Identität z. B. bedeutet, Zitat Sennett 1998, daß ich verantwortungsvoll handeln muß, selbst wenn ich mir meiner nicht gewiß bin und egal, wie verwirrt oder gar zerstört mein eigenes Identitätsgefühl ist, denn andere müssen sich auf mich verlassen können. Im Gräuel der NS-Zeit und des Lagers habe Lévinas die Aufrechterhaltung des Ich an anderen und durch andere erfahren, nämlich gebraucht zu werden und daher verlässlich sein zu müssen. Für den Soziologen Sennett und seinen Metaphysiker Lévinas ist Solidarität und ist Charakter möglich, weil Solidarität und Charakter möglich sein müssen. Soviel zu Lévinas’ Ethik des menschlichen Antlitzes, zur Moral der Visage als Ausweg. Eine spontane Replik des Humanisten Zilian auf Lévinas’ Humanismus lautete einmal: In die Augen eines Menschen schaut die ganze Welt hinein und aus den Augen eines Menschen schaut die ganze Welt heraus.

      3.) Am Anfang war der Wortbruch. Meiner. Scheint es. Ich habe den Wortbruch, scheint’s, bislang durchgezogen. Angekündigt habe ich nämlich einen Vortrag folgenden Titels und Inhalts: Auswege? Ja sicher! Aber wie? Versuch einer philosophischen Provokation angesichts dessen, dass die Menschen gut und klug sind, wenn man sie es sein lässt, und Systeme änderbar, wenn man sich ihrem Verhängnis nicht fügt. Wiedergegeben, mit Bourdieuschen Mitteln analysiert und zur öffentlichen Diskussion gestellt werden Gespräche mit folgenden Ausübenden von helfenden, recherchierenden und wissenschaftlichen Berufen: Werner Vogt, Friedrich Orter, Markus Marterbauer. Wie sehen sie die anomische Wirklichkeit und ihre Arbeit in selbiger? Das also habe ich angekündigt. So also habe ich mich in die Veranstaltung eingeschlichen. [...]

      Auswege? Ja sicher, aber wie? Normalarbeit – Vergangenheit oder Zukunft? 20 Jahre Denkwerkstätte Graz in Gedenken an Hans Georg Zilian, Fachhochschule Joanneum

      Habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass die Lieblingsfarbe der Silke Müller eines der dunkelsten Blau auf der Welt ist und HKS 41 heißt. Des Weiteren, dass Stephan Roiss voll der Hase ist. Wie alle Hasen ist er immun gegen Tod und Mumps. Wenn er nicht gerade zurückrudert, rudert er nach vor. Alle weiteren Informationen unter Hase Roiss 4020 Internet. Die Kurz-Graphic-Novel Hafen wurde von eben dieser Silke Müller illustriert, von eben diesem Stephan Roiss beschlagwortet, 2013 beim Literaturwettbewerb der Akademie Graz sowohl durch einen Vergleich mit Sartre und Beckett als auch mit dem 1. Preis ausgezeichnet – und wird jetzt dann präsentiert, und zwar derart, dass die Arbeit auf diese jene Leinwand projiziert wird, Silke Müller die Bilder durchklickt und Stephan Roiss den Text liest. – Sobald ich still.

      Der Roiss, die Müller leben in Linz. Er ist 1983 geboren, sie – ich weiß nicht, wann. Er arbeitet unter anderem als Vokalist, Performer, Radiojournalist. Sie ist Kommunikationsdesignerin. Aufgewachsen an der Ostsee. Prinzipiell illustriert Silke Müller fast naturalistisch, Lebewesen treten dabei nie in Massen auf, sondern einzeln oder in Paaren.

      Da ich ausdrücklich dazu angehalten bin, Subjektives von mir zu geben, gebe ich hiermit von mir, dass ich angesichts all der Arbeiten, die ich zu Gesicht bekommen habe, mit Müllers akademischer Abschlussarbeit am meisten sympathisiere. Da hat sie nämlich u. a. in Schwerin und Hamburg Menschen interviewt, ihnen Wunschgutscheine gegeben, sie gefragt, was sie ihnen zeichnen soll. Diese fertigen händischen Illustrationen wurden dann wiederum von diesen Menschen kommentiert, also mündlich retour-illlustriert. Das erinnert mich, Pardon, an das Marxwort von der freien Assoziation freier Individuen und an die Gerechtigkeitsmaxime Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten. Denn in Müllers akustischem Bilderbogen äußern Menschen, was ihnen das Leben leichter macht.

      Roiss beeindruckt mich zuvorderst mit seiner Romanerzählung Gramding, erschienen 2012, handelnd – so scheint mir – von den Menschen, die ein Zivildiener 12 Monate lang in Not und Tod erlebt, und davon, dass infolge von Organisationsverschulden nie Abhilfe geschaffen wird. Gramding wurde von der Kritik mit Gottfried Benn assoziiert. Ich halte Gramding für ein zapatistisches Ding. Das ist das bessere Ding. Vielleicht nämlich müsste man bloß einmal 30 junge Zivildiener ihre Memoiren schreiben lassen. Das reicht aus, die Politik neu zu erfinden. Vorausgesetzt, sie wurden im Sozialdienst nicht hilflos und unklug gemacht, wie die Erwachsenen sind.

      Die Jurybegründung für den Literaturpreis an Roiss und Müller verweist, wie gesagt, auf Beckett und Sartre. Das wäre nicht nötig. Roiss und Müller sind selber wer. Können etwas, das einmal – von wem auch immer – wie folgt formuliert wurde: Freiheit ist jene kleine Bewegung, die einen Menschen macht. Müller und Roiss können das. Es ist auch sinniger als jene kleine Bewegung, die in einem berühmten Meerfahrer-Comic erzählt wird, nämlich dass der Handfläche eines Kindes die Glückslinie fehlt. Da nimmt es ein Messer und schneidet sich selber seine Schicksalslinie neu. Werte Damen und Herren – Silke Müller, Stephan Roiss und ihre Novelle Hafen.

      Lesefest NEUE TEXTE 2014, Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz

      So Sie, sehr geehrte Damen und Herren, gestatten, möchte ich Ihnen in der verbleibenden Zeit Ihres heutigen langen Arbeitstages kurz und bündig die Welt erklären, nebstbei die österreichische, die steirische sowieso. Also den Globus mittels Graz. – Wenn man den Österreichern den Sozialstaat [weg]nimmt, dann müsste jeder [zum Ersatz] das Vierfache von dem verdienen, was er jetzt verdient. Diese Schätzung stammt erstens nicht von mir und zweitens aus dem Jahr 2002; Sie können also davon ausgehen, dass Sie hier und jetzt anno 2013 inmitten der Weltwirtschaftskrise mit einem vierfachen Verdienst längst nicht mehr das Auslangen finden würden, lebten Sie nicht in einem Sozialstaat. Die eben genannte Schätzung ist nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, sondern hat ihre Urheber unter anderem in Stephan Schulmeister, seines Zeichens WIFO-Wirtschaftsforscher, und in Werner Vogt.

      Pierre Bourdieu hat, wie Sie wissen, in den letzten Jahren seines Lebens vehement und konsequent daran gearbeitet, dass es EU-weit, in den einzelnen Staaten und insgesamt, mit Hilfe der Sozialbewegungen möglichst bald zu so etwas Ähnlichem wie zu einem Volksbegehren oder einer Volksabstimmung für respektive über ein soziales, also sozialstaatliches Europa kommt.

      Was Bourdieu da im Sinne hatte, hat der Arzt Werner Vogt zeitgleich und völlig unabhängig von Bourdieu für Österreich zu realisieren versucht. Und zwar von 1996 an. Bis es im Frühjahr 2002 – Bourdieu war gerade gestorben – vor allem auf Initiative von Werner Vogt wirklich zum Volksbegehren Sozialstaat Österreich kommen konnte, vergingen nicht weniger als 5½ Jahre vorbereitende Überzeugungsarbeit an Rot, Grün und Gewerkschaftern. Der Caritas war es damals, wenn ich mich richtig erinnere, politisch nicht möglich, als kirchliche Organisation das Volksbegehren offiziell zu unterstützen. Das Ziel des Volksbegehrens war jedenfalls, wie Sie wissen, dass der Sozialstaat Verfassungsrang erhält, also die sogenannte Staatszweckdefinition, und daraus resultierend verbindliche, automatische Sozialverträglichkeitsprüfungen aller künftigen Gesetze. Das Volksbegehren 2002 erhielt immerhin 717.000 Unterschriften. Jedoch konnte es unter anderem deshalb keine Wirkung entfalten,