Название | Karmische Rose |
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Автор произведения | Ulrike Vinmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783937883588 |
Er hatte nur wenige soziale Kontakte, denn seine Stiefmutter sah es nicht gerne, wenn Freunde von ihm im Haus waren. Ein paar Mal hatte sie sich sehr unfreundlich verhalten. Es war Wilhelm peinlich gewesen und er hatte die Freunde nicht mehr eingeladen. Mit seinem Vater traute er sich nicht darüber zu reden, aus Angst vor einer abweisenden Reaktion. So blieb er stumm und litt.
In diesem Moment betrat die Krankenschwester das Zimmer. Sie fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, und er nickte mit dem Kopf, denn er konnte kaum mehr sprechen.
Als sie wieder gegangen war, sah er den Tag, an dem er mit zweiundzwanzig Jahren Helena Schubert kennengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Selbst jetzt noch breitete sich Wärme in seinem sterbenskranken Körper aus, wenn er daran dachte.
Helena stammte aus einer begüterten Bauernfamilie. Sie war bodenständig, konnte gut arbeiten und hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Ernst Wollenberg war mit der Heirat einverstanden. So mieteten Wilhelm und Helena Anfang der Dreißiger Jahre eine Metzgerei in einem anderen Stadtteil und bauten sich in vielen Jahren fleißiger Arbeit ein gut gehendes Geschäft auf.
Neun Monate nach der Hochzeit wurde der erste Sohn, Alexander, geboren. Helena war im achten Monat der Schwangerschaft eine steile Kellertreppe hinuntergestürzt und das Kind hatte einen kürzeren Arm und ein schielendes Auge. Man führte diese leichte Behinderung auf den Sturz zurück. Zwei Jahre nach Alexander wurde sein Bruder Andreas geboren. Wilhelm war glücklich – er hatte eine hübsche Frau, die er liebte, zwei kleine Söhne und ein gut gehendes Geschäft.
Aber es gab auch Tage, an denen ihn die Vergangenheit einholte. Dann dachte er daran, dass er jetzt vor seinen Schülern stehen könnte und dass er sich seinem Vater gegenüber hätte durchsetzen müssen.
Als dieser 1934 starb, war Wilhelm sehr traurig, zum einen darüber, dass er seinen Vater verloren hatte, und zum anderen darüber, dass er eigentlich nicht wirklich einen Vater gehabt hatte. Kurze Zeit später erfuhr er, dass seine Stiefmutter eine Änderung des Testamentes bewirkt hatte, sodass sie nun die alleinige Erbin des Hauses, der Metzgerei und aller sonstigen Vermögenswerte war. Wilhelm war schockiert, denn trotz allem war er doch das erste Kind seines Vaters und konnte nicht begreifen, dass dieser einer solchen Maßnahme zugestimmt hatte.
Magdalena hatte sich inzwischen mit einem sehr dominanten jungen Mann verlobt. Robert Schmitz besaß ein Waffengeschäft. Er und Wilhelm hatten von Anfang an eine intensive Abneigung gegeneinander verspürt.
Als er seine Stiefmutter nach seinem Pflichtteil fragte, sagte sie ihm, dass sie ihm dieses momentan nicht auszahlen könne, da ihr als Witwe dazu die Mittel fehlten. Und sie wolle das Haus nicht verkaufen, in dem sie mit Magdalena lebte.
Wilhelm wusste, dass es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, an sein Erbe zu kommen. Er hätte seine Stiefmutter verklagen müssen, aber das war nicht seine Art. Und so viel Distanz es auch zwischen ihm und Magdalena gab, letztlich war sie seine Schwester. So verzichtete er zu diesem Zeitpunkt auf seinen Anteil. Helene erkannte, dass grobe Ungerechtigkeit im Spiel war, und drängte ihren Mann zu handeln. Aber als ihr bewusst wurde, dass juristische Schritte unabdingbar sein würden, war auch sie ratlos. Die Angelegenheit wurde vorerst fallen gelassen.
In den nachfolgenden Jahren wurde der Kontakt zwischen Wilhelm und Magdalena immer spärlicher. Als die Schmitz-Familie 1942 ausgebombt wurde, ersuchten sie um Asyl bei ihm und er gewährte es ihnen. Wilhelms Elternhaus war völlig zerstört. Robert Schmitz baute es nach dem Krieg wieder auf.
Als diese Szenen jetzt vor seinem inneren Auge vorbeizogen, verstärkte sich der Schmerz in seinem Hals. Plötzlich dachte er: »Vielleicht hätte ich reden müssen – mit meinem Vater, mit meiner Stiefmutter und mit Magdalena. Ich hätte mich nicht abspeisen lassen dürfen, sondern viel mehr für mich einstehen müssen, vielleicht wäre mir dann diese Krankheit erspart geblieben.«
Ludmila – 1939-1945
Tatjanas Familie lebte relativ gut bis zum Jahr 1939. Als sie im Radio hörte, dass England nach dem Einmarsch der Nazis in Polen und dem abgelaufenen Ultimatum Hitlerdeutschland den Krieg erklärt hatte, begriff sie intuitiv, dass dieser Krieg nicht nur England und Deutschland, sondern alle europäischen Länder erfassen würde.
Wenn sie mit Ivan darüber sprach, beruhigte er sie. »Du weißt doch, dass es den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin gibt – und Hitler wird es nicht wagen, diesen zu brechen.«
Tatjana dachte anders. Der deutsche Tyrann, von dem sie nur die Stimme kannte, wirkte ganz und gar nicht vertrauenswürdig auf sie und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seine Meinung von einem Tag auf den anderen ändern würde, wenn es in seine Machtpläne hineinpasste.
1941 war es dann so weit. Das Unfassbare – das, was viele Menschen nicht hatten glauben wollen –, geschah. Hitler erklärte Russland den Krieg. Die wolgadeutsche Republik, die 1918 gegründet worden war und etwa 600.000 Einwohner hatte, wovon etwa zwei Drittel deutscher Abstammung waren, wurde aufgelöst. Am 18. August 1941 wurden die im Wolgagebiet lebenden Deutschen zu Staatsfeinden erklärt. In den Monaten danach wurden die etwa 400.000 verbliebenen Wolgadeutschen der kollektiven Kollaboration beschuldigt und nach Sibirien und Zentralasien deportiert und dort in Arbeitslager gezwungen. Tausende von Menschen starben.
Auch Tatjana blieb dieses Schicksal nicht erspart. Sie wurde in ein Arbeitslager deportiert, Ivan wurde als Kulak erschossen, ihre Kinder – die drei erwachsenen Mädchen und die knapp fünfzehnjährige Ludmila – blieben sich selbst überlassen. Ihr Haus wurde kurz darauf beschlagnahmt, die vier Schwestern in den Wald gejagt. Dort bauten sie sich eine Erdhütte, in der sie notdürftig hausten. Es gab nichts zu essen. Aber für sie war all das besser, als nach Kasachstan oder Sibirien vertrieben zu werden. Stets lebten die Schwestern in der Angst, dass dieses Schicksal sie doch noch ereilen würde.
Es vergingen Monate, ohne von den Behörden behelligt zu werden. Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt, irgendwo Lebensmittel zu ergattern, obwohl dies unter strengster Strafandrohung verboten war. Und eines Tages passierte es dann. Ludmila war am Markttag im Dorf und kam an einem Obststand vorbei. Sie wollte unauffällig zwei Äpfel mitnehmen, aber die Besitzerin des Standes hatte sie gesehen und schrie: »Polizei, Diebstahl!«
Ludmila versuchte zu entkommen, aber es gelang ihr nicht. Zwei bis an die Zähne bewaffnete Soldaten ergriffen sie und steckten sie ins Gefängnis. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen, doch ihr entkräfteter, halb verhungerter Körper hatte nicht mehr genug Energie.
Als sie mit anderen Gefangenen zusammen in der dunklen, feuchten Zelle saß, dachte sie, dass ihr Leben nun zu Ende sei. Es war schrecklich, dort zu sein, aber dennoch war es wärmer als in dem Erdloch, in dem sie mit ihren Schwestern wohnte. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter war, sie wusste nicht, welches Schicksal ihre Schwestern ereilt hatte und ob sie überhaupt noch lebten, sie wusste nur, dass sie diesen Tag überleben wollte und dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als lebend aus dem Gefängnis herauszukommen.
Nach ein paar Tagen ließ der Gefängniswärter alle deutschen Gefängnisinsassen aus ihren Zellen holen. Sie wurden auf einen Transporter verladen. Als Ludmila sich, eingezwängt zwischen zitternden und weinenden Menschen, auf dem Laster wiederfand, wusste sie genau, was das bedeutete: die Zwangsdeportation nach Sibirien oder Kasachstan – dorthin, wo sich wahrscheinlich auch ihre Mutter befand. Aber sie war noch nicht bereit aufzugeben. Sie dachte: »Wenn sich eine Gelegenheit bietet, verschwinde ich.«
Ein paar Minuten später setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Am ersten Tag waren sie stundenlang unterwegs. Es gab nur wenige und kurze Pausen, in denen sie von russischen Soldaten mit Maschinengewehren bewacht wurden. Ein Entkommen war unmöglich.
Nach ein paar Tagen Fahrt änderten sich Landschaft und Temperatur zusehends. Es wurde viel kälter, obwohl es erst September war, und es sah immer eintöniger aus. Die Menschen wurden stiller und stiller. Drei hatten sie bereits verloren. Schwerkranke und Sterbende wurden