Название | Karmische Rose |
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Автор произведения | Ulrike Vinmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783937883588 |
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Für Nils
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke,
ein Sturm oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke
20.9.1899, Berlin-Schmargendorf
Prolog – März 1965
Die blonde Frau saß mit dem Baby in der Küche. Es war Frühling in der Schweiz, aber er zeigte sich noch nicht wirklich. Immer noch war es kalt und die Knospen der ersten Frühlingsboten kamen nur zögerlich aus dem gefrorenen Boden heraus.
Sie schaute aus dem Fenster in die beginnende Dämmerung. Immer wenn es dunkel wurde, kamen ihre Beklemmungen wieder, das Herzstechen und die Angst. Und mit diesen Gefühlen kamen auch die Bilder wieder, Bilder, die sie vergessen wollte. Bilder vom Lazarett in Astrakhan an der Grenze zwischen Russland und Kasachstan. Immer wieder sah sie die blutigen Körper der verletzten Männer vor sich, hörte sie ihr Stöhnen und roch den Geruch von fauligem Fleisch.
»Wann ist es endlich vorbei?«, fragte sie sich, während sie ihr acht Monate altes Baby ansah. Sie hatte Schuldgefühle und dachte, dass sie ihre Tochter lieben sollte, aber sie konnte es nicht. Zu groß war die Last der Vergangenheit.
Es hatte ein paar Momente in den letzten Wochen gegeben, in denen sie versucht gewesen war, ihrem Mann alles zu erzählen. Aber es ging nicht. Wenn sie den Mund öffnen wollte, war es so, als wäre ein Knoten in ihren Stimmbändern, der es ihr verbot weiterzusprechen. Und außerdem trug er eine ebenso schwere Last aus seiner Vergangenheit wie sie. Sie wollte ihn nicht auch noch mit ihren Geschichten belasten.
Irgendwann hatte er aufgehört sie zu fragen. Jetzt führten sie eine zwar nach außen harmonische, aber nach innen erkaltete Ehe. Wenn sie nachts wach wurde und die Schreie der Männer aus Astrakhan hörte, wünschte sie sich zu sterben, nur damit sie die Schreie nicht mehr hören musste und die Bilder endlich aus ihrem Kopf verschwänden.
Ihre Tochter sah sie mit großen Augen an. Es war so, als spüre das Kind die Angst der Mutter.
Erneut begann ihr Herz zu stechen und sie griff in die Schublade, um noch eine Valium herauszunehmen. Als sie die Tablette schluckte, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie nahm die Medikamente heimlich, ohne Wissen ihres Mannes. Sie dachte: »Irgendwann werden mich diese ganzen Pillen umbringen – aber vielleicht ist es genau das, was ich will.«
Sie dachte an ihre Familie in Russland, die sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, und der Schmerz war so tief, dass er ihr fast das Herz zerriss.
Dann stand sie seufzend auf, versorgte mechanisch ihr Baby, das sie immer nur mit großen Augen ansah, und brachte es ins Bett.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es 17.30 Uhr war. In einer Stunde würde ihr Mann nach Hause kommen. Es war Zeit, das Abendessen vorzubereiten. Wie in Trance fing sie an, Kartoffeln zu schälen und den Salat zu machen. Das Valium dämpfte all ihre Gefühle, nicht nur die Angst. Sie dachte: »Ja, das ist es, was ich will. Ich will einfach gar nichts mehr fühlen.«
Als die Kartoffeln auf dem Herd standen und der Salat auf dem Tisch, nahm das Herzstechen zu. Sie schaute zu ihrem Kind und sah, dass das Baby in seinem Bettchen eingeschlafen war. Sie begann zu keuchen und setzte sich in den Sessel neben dem Ofen.
Dort fand sie ihr Mann, als er eine halbe Stunde später nach Hause kam. Da war sie schon tot.
Tatjana – Februar 1918
In Pokrowsk herrschte eisige Kälte an diesem Februartag des Jahres 1918.
Tatjana packte alles zusammen, was in den kleinen Leiterwagen passte. Ihr Mann Dimitrij war damit beschäftigt, die Papiere zu ordnen, die sie mitnehmen mussten. Die drei Töchter Anastasija, Irina und Jekaterina saßen aneinandergekauert in einer Ecke des kleinen Hauses. Anastasija und Irina waren Zwillingsschwestern. Sie waren fünf Jahre alt. Jekaterina war ein Jahr älter.
Die Mädchen hatten große Angst. Tatjana hatte ihnen nur gesagt, dass sie nach Amerika auswandern würden. Was das bedeutete, konnten die Mädchen in diesem Augenblick nicht im Entferntesten ermessen.
Dimitrij und Tatjana waren Wolgadeutsche und lebten auf einem Bauernhof in der Nähe von Pokrowsk. Ihre Vorfahren waren im Jahr 1764 auf den Ruf von Zarin Katharina II aus Deutschland nach Russland gekommen. Seit die Bolschewiken im Oktober 1917 die Macht ergriffen hatten, war die Familie immer größer werdenden Repressalien ausgesetzt, denn die neue Regierung betrachtete die Wolgadeutschen als Feinde.
Tatjanas Familie baute Getreide an und hielt Vieh. Mit ihren Nachbarn, die allesamt Wolgadeutsche waren, hatten sie ein gutes Auskommen. Mit Tränen in den Augen dachte Tatjana, dass es ihr niemals in den Sinn gekommen wäre, sie würden eines Tages einmal ihre Heimat verlassen. Aber nun war es so gekommen. Es hatte in den vergangenen Wochen immer wieder Überfälle auf benachbarte Höfe gegeben und es war zu gefährlich, in Pokrowsk zu bleiben. Sie wollte ihre Töchter in Sicherheit bringen.
Eine befreundete Familie war vor ein paar Wochen nach Amerika ausgewandert und Tatjana schien es in dem Moment das einzige sichere Land auf der Welt zu sein. Dimitrij hustete. Sie schaute zu ihm hinüber. Seine eingefallene Gestalt und das graue Gesicht gefielen ihr ganz und gar nicht und sie dachte: »Hoffentlich wird er nicht krank.«
Als sie fertig gepackt hatte, rief sie ihre Töchter. Dimitrij stand bereits vor dem Haus. Er weinte, versuchte dies aber zu verbergen. Sie nahmen den Zug nach Murmansk, von wo aus ihr Schiff nach Amerika gehen würde. Tatjana hatte all ihre Ersparnisse aufgebraucht, um eine Schiffspassage für die ganze Familie zu erstehen.
Als sie in Murmansk ankamen, sahen sie, dass die Hafenstadt voll war. Offensichtlich waren sie nicht die Einzigen, die die Idee hatten, nach Amerika auszuwandern. Als sie sich in die lange Schlange von Menschen einreihten, die auf das Schiff wollten, bemerkte Tatjana, dass ihr Mann noch schlechter aussah als bei ihrer Abreise. Es dauerte Stunden, bis sie endlich an die Reihe kamen. Ein unfreundlicher Uniformierter kontrollierte ihre Pässe und die Schiffspassagen. Er sah alle Familienmitglieder aufmerksam an.
Sein Blick blieb an Dimitrij haften. »Bist du krank, Mann?«, fragte er. Dieser verschluckte sich und hustete, statt zu antworten. Der Mann sagte: »Du musst erst vom Arzt untersucht werden, vorher lasse ich dich nicht auf das Schiff.«
Tatjana wollte protestieren, aber der Uniformierte schob sie mit einer heftigen Handbewegung zur Seite. Er war schon mit den nachfolgenden Passagieren beschäftigt. In der Nähe sahen sie einen kleinen Verschlag mit einem roten Kreuz. Eine Frau zeigte auf den Verschlag und sagte zu Tatjana: »Da müsst ihr hin. Da ist der Arzt.«
Sie drängten sich durch die Menschenmassen hindurch. Nachdem sie weitere zwanzig Minuten gewartet hatten, standen sie endlich vor dem Arzt. Auch dieser kontrollierte zunächst die Pässe und die Schiffspassagen, dann nahm er Dimitrij mit hinter einen Vorhang. Zu Tatjana sagte er, sie und die Kinder sollten in der Nähe warten.
Die drei Mädchen drängten sich an ihre Mutter. Sie legte beide Arme um ihre Töchter, um ihnen inmitten des ganzen Gewühls ein bisschen Schutz zu geben. Anastasija fragte: »Mama, was macht der Arzt mit Papa?«
Tatjana