Название | Karmische Rose |
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Автор произведения | Ulrike Vinmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783937883588 |
Irina sagte: »Mama, ich habe Hunger.«
»Ja, mein Schatz, du bekommst gleich etwas zu essen. Wir müssen jetzt erst noch ein bisschen warten.«
Es dauerte. Sie hörte, wie der Arzt mit ihrem Mann sprach, und obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte, gab es etwas an seinem Ton, das ihr nicht gefiel. Nach weiteren fünf Minuten trat Dimitrij aus der Kabine. Sein Gesicht war noch um eine Spur grauer.
Tatjana brach trotz der Kälte der Schweiß aus und ihr Herz fing an zu rasen. Sie schaute ihn an und fragte: »Und, ist alles in Ordnung mit dir?« Er schüttelte langsam den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer zu reden.
Sie trat einen Schritt auf ihn zu und packte ihn an den Schultern. »Dimitrij, was ist los? Antworte mir!«
Ihr Mann senkte langsam den Kopf. Diese Geste sagte mehr als tausend Worte. Sie begriff in diesem Moment, dass das Schiff ohne sie nach Amerika fahren würde. Als er nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, den Kopf wieder hob, sagte er tonlos: »Sie lassen mich nicht auf das Schiff. Ich habe Typhus.«
Es kam ihr vor, als habe sie soeben ihr eigenes und das Todesurteil für ihre ganze Familie gehört. Sie ließ ihren Mann wieder los und schüttelte den Kopf, denn sie war nicht bereit, die eben gehörten Worte in ihren Kopf aufzunehmen. Irina näherte sich ihr und sagte: »Mama, fahren wir jetzt doch nicht nach Amerika?«
Am Klang ihrer Stimme hörte Tatjana, dass sie voller Hoffnung war, wieder nach Hause zurückkehren zu können, und dachte: »Wenn sie wüsste, was uns zu Hause erwartet, würde sie aufs Schiff rennen.«
Aber wie sollten ihre Töchter die politische Situation des Landes erfassen können? Es war ein solches Durcheinander von Machtinteressen, Repressalien und düsteren Zukunftsaussichten, dass es auch für sie schwierig war, das alles zu durchschauen.
Sie merkte, dass sie erst einmal aus dem Gewühl herausmusste, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Als sie etwas abseits standen, sagte Dimitrij mühsam gefasst: »Lass uns nach Hause zurückfahren.« Dann hielt er kurz inne, als käme ihm dieser Gedanke gerade in diesem Moment: »Tatjana, wenn du mit den Kindern ausreisen willst, dann geh.«
Als die Töchter seine Worte hörten, schrien sie auf. Jekaterina begann zu weinen. »Nein, ich will nicht nach Amerika, ich will nach Hause zurück!« Auch Irina und Anastasija hatten angefangen zu weinen. Tatjana begriff, dass sie auf dem schnellsten Wege nach Hause zurück mussten. Sie gab sich einen Ruck und dachte: »Es wird sich alles finden. Vielleicht können wir auswandern, wenn Dimitrij wieder gesund ist, und vielleicht lassen uns die Bolschewiki bis dahin in Ruhe.« Aber noch während sie das dachte, merkte sie, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht glauben konnte.
Die Familie packte ihre Habseligkeiten wieder zusammen. Glücklicherweise schafften sie es, die Schiffspassagen zu einem guten Preis an eine Familie zu verkaufen, die ebenfalls nach Amerika wollte. Als Tatjana das Geld in den Händen hielt, dachte sie, dass sie davon auf jeden Fall eine Weile leben könnten.
Sie mussten ein paar Stunden am Bahnhof warten, konnten dann aber einen Zug nehmen, der sie noch am gleichen Tag wieder in ihre Heimat bringen würde. Der Zug war fast leer.
»Kein Wunder«, dachte Tatjana, »wir sind in der falschen Richtung unterwegs.«
In der Nacht kamen sie in ihrem Haus an. Die Kinder stürmten sofort hinein. Tatjana konnte ihre Freude und Erleichterung spüren. Sie selbst hatte ganz andere Gefühle – Angst, Schwere und noch etwas, das sie nicht benennen konnte.
In den nächsten Wochen war sie damit beschäftigt, Dimitrij zu pflegen und die Kinder von ihm fernzuhalten, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern. Trotz ihrer Bemühungen konnte sie nicht verhindern, dass die Krankheit in seinem Körper immer mehr wütete. Drei Wochen nach ihrer Rückkehr starb er.
Die Mädchen waren untröstlich. Sie hatten ihren Vater sehr geliebt. Er war ein guter, treuer und fleißiger Mann gewesen. Tatjana verdrängte ihre Trauer. Sie hatte genug damit zu tun, das Überleben ihrer kleinen Familie zu sichern. Sie musste nun noch mehr als bisher arbeiten, um den Hof zu erhalten und ihre Töchter vor Hunger zu bewahren.
Fünf Jahre später heiratete sie Ivan, der ihr Nachbar war und seine Frau und seine Kinder in der Hungersnot des Jahres 1920 verloren hatte. Im Jahr 1927 gebar sie ihm eine Tochter, Ludmila. Die Familie lebte relativ gut, verglichen mit anderen Wolgadeutschen, die von der Roten Armee mit starken Repressalien belegt wurden und große Teile ihrer Ernte an diese abgeben mussten. Wie durch ein Wunder blieb Tatjanas Familie davon verschont.
Wilhelm Wollenberg – August 1961
Er bekam kaum mehr Luft und wünschte sich nur noch zu sterben. Seit er vor 5 Monaten die Diagnose ›Kehlkopfkrebs‹ bekommen hatte, war es Tag für Tag bergab gegangen. Er spürte, dass es langsam zu Ende ging. In seinem Krankenhausbett liegend und mit Morphium vollgepumpt, ließ er sein Leben Revue passieren.
Er sah die Metzgerei seines Vaters, viele Kunden, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, und sich selbst als zwanzigjährigen Mann, der alle Hände voll zu tun hatte. Zwei Verkäuferinnen halfen ihm. Das Geschäft lief sehr gut und es gab Tage, an denen sein Vater unterwegs war und ihm alleine die Führung des Ladens überließ. Wilhelm machte die Arbeit Spaß, aber sie war nicht seine Erfüllung. Sein heimlicher Traum war es, Lehrer zu werden.
Sein Vater war ein verschlossener Mann und er konnte mit ihm nicht über seine Pläne sprechen. Nach dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau, Wilhelms Mutter, hatte er bald darauf wieder geheiratet. Aus der zweiten Ehe gab es eine Stiefschwester, Magdalena, die von beiden Eltern sehr verwöhnt wurde. Ernst Wollenberg hatte sich in den letzten Jahren immer mehr seiner Tochter zugewandt und seinen Erstgeborenen darüber vernachlässigt. Wilhelm fühlte sich oft zurückgesetzt, aber er war zu stolz, um es sich anmerken zu lassen.
Er hätte sich gewünscht, ein besseres Verhältnis zu seinem Vater zu haben, aber er wusste nicht, wie er dies bewerkstelligen sollte. Immer war die kleine Magdalena dazwischen. Wilhelm war sehr eifersüchtig auf seine Stiefschwester, aber auch diese Gefühle musste er unterdrücken, denn es gab in seiner Umgebung niemanden, der damit hätte umgehen können oder wollen. Tief im Inneren fühlte er eine große Enttäuschung über seinen Vater.
Warum verhielt sich dieser immer so distanziert ihm gegenüber, während er Magdalena mit Geschenken überhäufte? Erna, Wilhelms Stiefmutter, ignorierte ihn quasi völlig. Sein Vater sah dies, schritt jedoch nicht ein. Das schmerzte Wilhelm sehr. Vor allem verstand er nicht, was er getan hatte, um dieses Verhalten seines Vaters zu ›verdienen‹.
Der junge Wilhelm träumte von einem eigenen Leben, weit weg von dem bedrückenden Elternhaus in der niederrheinischen Kleinstadt. Wenn er sich in diesen Tagträumen als Lehrer großer Schulklassen sah, war er glücklich. Doch die Realität holte ihn immer wieder ein, und zwar spätestens, wenn die Stimme seines Vaters durchs Haus schallte: »Wilhelm, du wirst in der Metzgerei gebraucht!«
Wenn er dann in der Wurstküche stand und arbeitete, sah er manchmal von Weitem die kleine Schwester, die mit ihrer Mutter bepackt wie ein Maultier von einem Einkaufsbummel in der Stadt zurückkam. In solchen Momenten dachte er, dass das Leben ungerecht sei, und fühlte Sehnsucht nach seiner eigenen Mutter, an die es zwar keine bewusste Erinnerung mehr in ihm gab, von der er aber genau wusste, dass sie ihn geliebt hatte. Sie war nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben, als er erst drei Jahre alt gewesen war.
So wuchs Wilhelm in materiellem Wohlstand gepaart mit emotionaler Kälte auf. Er entwickelte sich zu einem verschlossenen jungen Mann, der zahlreiche Talente hatte, die von seinem Vater jedoch nicht gefördert wurden.
Als er fünfzehn Jahre alt war und in der Metzgerei angelernt werden sollte, hatte er es gewagt, seinem Vater von seinem Wunsch zu berichten, Lehrer zu werden. Dieser hatte ihn kurz angeschaut und dann kalt zu ihm gesagt: »Niemand aus unserer Familie ist Lehrer und du wirst auch keiner. Du wirst Metzger wie ich auch.« Damit war für ihn das Thema erledigt