Die tragende Haut. Silvia Boadella

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Название Die tragende Haut
Автор произведения Silvia Boadella
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867812184



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schaue ihr nach. Dankbarkeit und ein Staunen überkommen mich. Fremd waren Ina und ich uns bis zu diesem Ereignis. Doch was für einen Gleichklang haben wir darin erlebt! Nun bin ich wieder allein mit dir. Ich stehe an deinem Fußende. Was für eine Reise haben wir zusammen gemacht! Der Raum ist angefüllt mit Andacht. Innen und außen: der Innenraum umhüllt den Außenraum. Ein Raum in einer uns gemeinsam tragenden Atmosphäre. Hier sind wir behütet. Dies wird unser Treffpunkt sein, der Ort unserer zukünftigen Begegnungen. „Das ist eine weitere Verabredung“, sage ich lächelnd zu dir, „Ort bekannt, Zeitpunkt noch unbekannt.“ Und du lächelst mir zu, mit einem seligen Lächeln. Die Amsel beginnt wieder zu singen, sie stimmt uns zu, sie trägt uns auf ihrem Gesang empor. Ich schaue in dein Antlitz, die Röslein, die Röslein. Sie duften. Sie duften himmlisch.

      Jetzt kann ich gehen. Ich schaue noch einmal in den Raum, auf dich, in dein Gesicht. Mein letzter Blick, ein Abschiedsblick. Er ist trotz allem wehmütig, eine mit Sehnsucht angefüllte Wehmut – die Sehnsucht, dich wieder so sehen zu wollen, die Wehmut, dich nie mehr so sehen zu können.

      Die Ablösung muss sein, sie fällt mir schwer. Ich kehre dir den Rücken zu, öffne die Tür, trete hindurch, drehe mich um und schließe sie.

      Ich gehe den Weg entlang zurück. Weiter konnte ich nicht mit dir reisen. Ich bleibe hier. Mit dem Gefühl einer Zurückgebliebenen steuere ich auf das Klinikgebäude zu Richtung Empfang. Bin ich traurig, dass ich zurückgeblieben bin? Nein. Auf mich warten zu Hause meine Lieben, mein Kind, mein Mann und die Hündin Patty Gold. Und vielleicht ist auch meine Freundin Sara noch dageblieben. So navigiere ich auf mein weiteres Schicksal zu, auf meiner irdischen Bahn, mit dem Lichtpunkt dieser Erfahrung als Lotsen.

       Nachklang

      Im Zug fahre ich durch die Nacht zurück. Die Räder drehen sich unerbittlich, und ich entferne mich immer mehr von dir. Du liegst von mir zurückgelassen im kleinen Gartenhaus. Nie mehr werde ich dich sehen. Der Abschied ist endgültig. Es ist wie ein Abbruch. Alles, was ich bis jetzt nicht für dich getan habe, werde ich nie mehr nachholen können! Dieses „Nie mehr“ kann ich nicht fassen.

      Ich schaue in die Dunkelheit hinein. Manchmal sehe ich auf meiner Seite zu Lichtern von erleuchteten Häusern hinüber, manchmal reflektieren von der anderen Seite her Lichter auf meiner Fensterscheibe. Ich erinnere mich plötzlich an den Gedichtband, den ich vor meiner Abreise in die Tasche gesteckt hatte, und krame ihn zwischen Fahrkarte, Haarbürste und Handy hervor. Darin steht ein Gedicht von Rumi, das mich schon seit Jahren begleitet. Wie wird es heute zu mir sprechen? Ich schlage es auf und übersetze für mich:

      Jenseits aller Ideen von falschem und richtigem Tun gibt es ein Feld: Dort werde ich dir begegnen. Wenn die Seele sich ins Gras hinlegt, ist die Welt zu voll, um darüber zu sprechen.

      Wieder einmal leuchten mir Rumis Zeilen entgegen. Ich atme auf. An diesem Ort sind wir uns begegnet, in deinem Sterben und auch oft davor. Diese Momente zählen. Es sind innere Trittsteine zwischen uns, und solange ich mich an sie erinnere, sind sie unvergänglich.

      Ich sehe wieder eine späte Begegnung mit dir vor mir. Ich sitze an deinem Bett. Deine Hand sinkt in meine, mager, sehnig, gelblich. Ich spüre, wie sie ihr Gewicht abgibt und sich mir anvertraut, als würde sie sagen: Gut, dass du da bist. Deine Augen erreichen meine. Dein Blick liegt hellbraun, mit leichtem Goldglanz auf mir. Unsere Augen berühren sich zärtlich, berühren tief drinnen unser innerstes Wesen. Worte? Keine. Unsere Augen finden sich wortlos in einer Frage, einer Fragebewegung ins Offene, die zu meinem Erstaunen eine Frische in sich birgt.

      Nun werde ich wieder erfüllt von deinem Sterben, Monika. Mein Bedürfnis, es zu verstehen, ist tief. Fragen kommen, Antworten gehen, ich lausche in mich hinein. Wie ist es möglich gewesen, all dies mit dir zu erleben? Ich hörte zu dir hinüber, du grüßtest zu mir herüber. Wir lauschten gemeinsam in einen Raum dazwischen, und darin entstand die Freiheit, den Übergang von einer Welt in eine andere zu erfahren.

      Warum diese innige Nähe zwischen uns? Ich wollte dich dorthin begleiten, wohin du gingst, du wolltest mich dahin grüßen, wo ich verblieb. Dies öffnete weit alle Sinneskanäle: Ich vernahm den Ton, sah das Licht, roch die Süße des Duftes und schmeckte Vergessen und Erinnern. Ich berührte dich von hier aus und du mich von dort aus. Unsere Liebe umspannte beide Welten. Ist das nicht erstaunlich, Monika? Du warst doch früher für mich immer wieder die „böse Stiefmutter“ und ich für dich das „schwierige Stiefkind“. Und jetzt hat diese gemeinsame Erfahrung so viel Schweres verwandelt.

      Vieles klingt nach. Was erkenne ich zuerst?

      Die Bewegung: Ich hatte deutlich das Gefühl, als würdest du dich von der Erde zurückziehen, weg vom Raum unterhalb deiner Füße, hinaufziehen in deinen Herzinnenraum. Ich erinnere mich wieder, wie ich mit dir hier verweilte, mein Ohr an deinem Herzen, bis ich oberhalb deines Kopfes ein Licht spürte. Bist du da hinaufgestiegen und hast dich durch das Licht wie durch ein unsichtbares Tor hindurchgezogen, hinüber? Ich erinnere mich noch genau: Zu dem Zeitpunkt, als ich das Licht wahrnahm, atmetest du aus und nicht wieder ein.

      Oder doch? Ich hatte das Gefühl, es „atme“ noch, so als würdest du woanders weiteratmen. Hast du da wieder eingeatmet? Hast du mit dem letzten Ausatmen hier losgelassen, um dort anzukommen? Und wer begrüßte dich dort bei deinem ersten „Einatmen“? Hast du dabei geseufzt wie damals mein neugeborenes Kind bei seinem ersten Atemzug? Ich höre noch sein „Ah!“ Höre ich deines?

      Ein Resonanzraum von Sterben und Geborenwerden klingt in mir an. Träume ich schon halb? Müde bette ich meinen Kopf in den flauschigen Mantel. Zu Hause werde ich alles meiner Familie erzählen.

      Ich komme nach Hause und stoße die Tür auf. Niemand ist da, niemand erwartet mich, niemand heißt mich willkommen. Du hast dich ja auch nicht angekündigt, beruhige ich mich. Ich stelle den Koffer im Eingang hin, gehe die paar Treppenstufen zum Wohnzimmer hinauf und öffne die Tür. Was für ein Anblick: Da thront die junge Collie-Hündin Patty Gold wie eine Königin auf meinem Sofaplatz. Sie weiß genau, dass sie da nicht hingehört. Weil sie nicht mehr unentdeckt hinunterspringen kann, dreht sie elegant den Kopf von mir weg und schaut zum Fenster hinaus in die Nacht, als würde ich so nicht mehr für sie existieren, als könnte sie sich durch die Drehung ihres Halses unsichtbar für mich machen. Wie ein kleines Menschenkind, denke ich erheitert. Und wer sitzt vor ihr im Ledersessel vor dem Fernseher, zu einer Zeit, wo er schon längst schlafen sollte, und lässt vergnügt die Beine baumeln, versunken in ein Videospiel? Mein Sohn Tim. Ich erhasche mit einem Blick eine Sequenz auf dem Bildschirm. Er spielt wahrhaftig „Perfect Dark“, ein Spiel, das ich verboten und versteckt habe, nachdem es einst heimlich in unserem Haus Einzug hielt. Es geht in diesem Spiel darum, Menschen so gezielt wie möglich mit Pistolenschüssen in die perfekte Dunkelheit zu befördern.

      „Was geht denn hier vor?“, durchbreche ich lauthals und streng die konzentrierte Stille. Tim schaut auf, überrascht: „Du bist schon zurück? Ist Monika schon gestorben?“ Geistesgegenwärtig knipst er das verbotene Spiel vom Bildschirm weg. Doch die Hülle der Kassette liegt verräterisch neben ihm auf dem Boden. Soll ich schimpfen oder ihm auf die Frage antworten? Da ich selber noch so sehr von Monika erfüllt bin,