Название | Die tragende Haut |
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Автор произведения | Silvia Boadella |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867812184 |
Deine Geburtshelferin bin ich, die Hebamme deines Sterbens. Ich lege meinen Kopf nah an dein Herz und schaue deinen Körper hinunter, zum Fenster hinaus, in den Frühling. Draußen hat sich das Licht verändert, es dunkelt schon ein wenig ein. Ich fühle deine Füße unter der Decke. Wie geht es ihnen? Soll ich sie halten? Nein, sie ruhen schon. Sie wollen nicht ins Leben zurückgerufen werden. Ich meine zu spüren, wie all deine Energie hinauf zum Herz steigt und sich dort versammelt. Wie einen Fluss sehe ich sie aufsteigen. Wie Wasser – die Wasser des Lebens. Kurz stehe ich auf und fächle die Luft unterhalb deiner Füße körperaufwärts, dem Herzen zu. Ich habe das Gefühl, dass dies hilft, dass „die Wasser“ so noch besser fließen können, hinauf und hinauf. Ich nenne es „Wasser“, weil es fließt, aber es hat eher die Konsistenz von Luft. Es ist eine Art von fließender Energie. Wieder setze ich mich zu dir und lege meinen Kopf an dein Herz. Es ist ein inniges Gefühl, so bei dir zu liegen. Eine große Ruhe breitet sich aus in diesem gemeinsamen Herzraum.
Ich erinnere mich: Wir zwei. Du bist spät in unser gemeinsames Leben gekommen. Hast nach dem Tod von Mama Papa geheiratet. Zu dieser Zeit erhielten meine Schwester Rosa und ich eine Postkarte von dir. Zwei Rehlein waren darauf abgebildet. „Ich möchte euch Liebe schenken“, stand da. Das war nicht so einfach. Wir waren keine Rehlein, wir waren zwei verlassene Kinder, die Kinder von Mama. Und du die Stiefmutter. Durch viel Schweres sind wir da gegangen, du und ich: Schmerz, Eifersucht, Verrat und vieles mehr. Aber wir wollten doch beide nur das Beste. Und jetzt liege ich, dein Stiefkind, bei dir und begleite dich im Sterben. Du hast dich mir anvertraut. Etwas erfüllt sich.
Oft habe ich dich in dieser Klinik besucht. Ich versuchte dir in deiner Krankheit zu helfen, was sich als schwierig erwies. Du warst gemäß den Begriffen der Fachärzte psychotisch und depressiv. Und du warst wutentbrannt. Du schlugst die anderen Patienten, du beschimpftest alle, auch mich.
„Soll ich dir etwas erzählen?“, fragte ich dich einmal bei einem Besuch. „Ja, erzähl!“ So begann ich meine Geschichte: „Ich habe von dir geträumt. Du warst eine schöne Frau mit einem strahlenden Gesicht, doch ganz allein in einer Wüstenlandschaft. Neben dir standen zwei kleine Kinderschuhe. Ich glaube, dass du damals schon in die Wüste geschickt worden bist. Du vereinsamtest und dein Trauern begann. Aber du bist immer noch die schöne Frau. Und auch wenn du wütest und hässlich bist in deiner Krankheit, sehe ich dies nur als eine Maske. Wie immer du zu mir bist, Monika, spreche ich auch zu dir hinter der Maske, zu der Frau mit dem leuchtenden Gesicht.“
Du hörtest mir damals aufmerksam zu. „Du bist mein Liebstes“, sagtest du mir dann, „nur du verstehst mich.“ Und du vertrautest mir. So hast du mich auch gestern angerufen, zu der Zeit, wo deine Seele schon den Tod gerufen hatte. Du sagtest einfach: „Komm!“ Und ich kam.
Warum erinnere ich mich jetzt gerade an diesen Dialog? War dies das Wichtigste zwischen uns? Und woran erinnerst du dich? Ich weiß nicht, wie lange wir so nebeneinander liegen. Ich singe dir manchmal noch zu. Dein Atem ist ruhiger geworden. Nehme ich ihn noch wahr?
Da bemerke ich den Widerschein eines orangenfarbenen Lichtes. Es ist so stark, dass ich sofort annehme, jemand sei unbemerkt hereingekommen und habe eine Lampe mit einem orangenen Schirm angezündet. Ich setze mich auf, schaue mich um. Da ist gar keine Lampe, doch ich meine ein orangenes Licht um deinen Kopf zu erkennen und auch in der Weite über ihm. Sehe ich richtig? Ich blinzle, ich traue meinen Augen nicht: Ja wirklich, ich empfinde ein Licht um deinen Kopf. Es ist schön, wunderschön!
Ich stehe auf und halte mein Ohr an deinen Mund. Vernehme ich dich noch? Hat mich das Licht gerufen? Ich lausche an dir, zutiefst bewegt, ich höre dein letztes Atmen. Du atmest ein und aus. Ich schaue dich lange an. Dein Gesicht strömt Frieden aus, einen Friedenston.
Blick in den Garten hinaus, gelbe Primeln. Eine Musik erklingt. Sie kommt von innen. Es ist wiederum Beethovens Frühlingssonate, sie verströmt Leichtigkeit und Heiterkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich so zuhöre. Hörst du mit, liebe Monika? Regungslos sitze ich da. Tiefe Ruhe, in mir, in dir. Das orangene Licht um deinen Kopf mit seiner unsichtbaren Lichtquelle ist verblasst. Im ganzen Raum begrüßt mich nun eine weiche, honigfarbene Atmosphäre.
Die Tür geht auf und ein junger Arzt kommt herein. Er tritt von der anderen Seite an dein Bett und stellt erstaunt fest: „Frau Graf ist ja schon gestorben! Warum haben Sie mich nicht gerufen? Sie atmet ja nicht mehr, sie ist schon klinisch tot.“ Und er trägt eine Uhrzeit in eine Tabelle ein.
„Bitte lassen Sie mich noch mit ihr allein“, sage ich zu ihm. Und blitzschnell überlege ich eine Begründung, auch wenn sie nicht ganz zutrifft: „Ich stehe dem tibetischen Buddhismus nahe und möchte nach dieser Lehre den Abschied praktizieren. Vielleicht wissen Sie, dass die Tibeter ihre Toten begleiten und mit ihrer Seele sprechen. Genau das möchte ich auch.“ Er ist sehr respektvoll: „Wie lange brauchen Sie dazu?“ – „Solange wie möglich.“ – „Wie lange denn?“ – „Was ist denn die längste Zeit, die Sie mir geben können?“ Er denkt nach: „Die anderen Mitbewohner dieses Zimmers können im Aufenthaltsraum bleiben, bis sie sich zum Schlafen vorbereiten müssen, also bis sieben Uhr abends.“ Ich bin erleichtert. Er verlässt den Raum und unterrichtet draußen seine Mitarbeiter.
Dass das Sterben oft ganz anders vor sich gehen kann, wurde mir erst später im Gespräch mit Ina klar. Sie erzählte mir auch, dass die übrigen Insassen der gerontologischen Abteilung im Aufenthaltsraum saßen und raunten und staunten: So, so, die Frau Graf ist schon gestorben! Und wie sie gestorben ist, so ruhig und friedlich! Sie hat doch sonst immer so gewütet, ja sogar geschlagen, wild um sich geschlagen. Erinnert ihr euch? Sie war doch böse zu uns. Und jetzt hat der liebe Gott sie so friedlich zu sich geholt. Kaum zu glauben!
Während wir draußen das Gesprächsthema des Abends sind, finden wir zu unserer Stille zurück. Zeit gewonnen, Zeit. Du und ich. Zusammen in der Weite der Ankunft. „Klinisch tot“, sagte der Arzt. Ich schaue dich an: Atmest du wirklich nicht mehr? Es ist ruhig in dir. Auch um dich ganz ruhig. Nichts ist vernehmbar. Und doch habe ich das Gefühl, als atme es noch. Als würdest du woanders weiteratmen. Ich bin still, ganz still. Und wieder höre ich diesen Friedenston.
Versunken ruht mein Blick auf dir. Da verströmst du einen Duft, einen unendlich süßen Duft. Ich rieche ihn, atme ihn ein. In seiner Süße vernehme ich ein Grüßen: Hallo, da bin ich, ich bin immer noch da. Ich danke dir für dein Mitsein. Monika spricht mit mir durch die Süße des Duftes, sie spricht! Er strömt zu mir herüber und hüllt mich ein. Tränen fließen in meine Augen: „Ich liebe dich so sehr.“ Ich spreche dir das zu, inniglich.
Nun realisiere ich, dass du „hörst“: Um deine Ohren ist eine lebendige, einströmende, aufnehmende Bewegung, als würdest du die Worte einsaugen, als würdest du sie wie Wasser des Lebens trinken und trinken. Und im Raum erscheint noch immer eine helle, honigfarbene Atmosphäre. Sie grüßt mich mit ihrer Zartheit, ihrer Güte, ihrer Weisheit. Alle meine Sinneskanäle sind weit offen. Ich höre den Ton, rieche den Duft, sehe den Lichtschein und spüre, wie ich in all dem von dir umfangen werde. Und ich berühre dich zurück mit meiner Liebe. Wir sind in einer gemeinsamen Umarmung, zuinnerst.
Es klopft an die Tür. Ich rühre mich nicht. Sie öffnet sich einen Spalt, Ina schaut herein. Sie hält in ihrer Hand drei Rosensträuße: einer weiß, einer gelb, einer rosa. Als wollte sie uns damit gratulieren. Sie kommt auf uns zu, sie ist berührt. „Wie friedlich sie aussieht! Ich habe die Rosen schon in der Mittagpause im Supermarkt gekauft, ich wusste, dass sie sterben wird.“ Sie spricht dich an, bewegt: „Liebe Frau Graf.“ Und stellt die Rosen neben dich in eine Vase. Es ist ihr Abschiedsgeschenk. Ihr letzter Liebesdienst?
Nein, noch nicht. Sie beginnt, mir Anweisungen zu geben: „Wir müssen sie jetzt aus dem Bett herausnehmen und aufbahren. Das ist hier Vorschrift. Sie können mir dabei helfen. Die Bahre steht schon vor der Tür bereit.“ Wir holen sie gemeinsam herein und stellen sie neben das Bett. Ina zieht sehr behutsam die Bettdecke weg und sagt, um Verzeihung bittend: „Entschuldigen Sie, Frau Graf.“ Sie spricht es dir zärtlich zu. Kurz prüft sie nach, ob das Bett genässt worden