Die tragende Haut. Silvia Boadella

Читать онлайн.
Название Die tragende Haut
Автор произведения Silvia Boadella
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867812184



Скачать книгу

es Berge gab am Horizont.

      Ich bin geboren worden, bevor es etwas zu bekämpfen gab.

      Ich bin geboren worden, bevor es etwas zu fürchten gab.

       Aus dem ägyptischen Buch Pert em Hru

       (Hervorkommen ins Tageslicht)

      Der Ruf

       Vorklang

      Das Telefon klingelt, ich nehme ab und höre nur ein einziges Wort: „Komm!“ Es ist Monikas Stimme. Sie erreicht mich aus einer entfernten psychiatrischen Klinik in unserem Haus im Alpenvorland.

      Soll ich wirklich gehen? Nur weil sie sagte: „Komm!“ und dann den Hörer auflegte? Mein Kopf zögert noch: Ruf in der Klinik an, finde zuerst heraus, was vor sich geht. Sara, unsere Freundin, ist gerade zu Besuch, da ist mein Kind und mein Hund, und nichts ist organisiert für eine Reise. „Geh erst in ein paar Tagen, bereite alles in Ruhe vor“, meint Dennis, mein Mann, beschwichtigend. Doch mein innerster Impuls sagt mir: Geh jetzt! Trotzdem telefoniere ich noch mit der Klinik. Ina, Monikas Krankenschwester, bestätigt mir: „Ihr Zustand ist bedenklich. Sie verweigert seit einigen Tagen das Essen und seit heute Morgen trinkt sie nichts mehr.“

      Monika will also sterben. Und sie will es mit mir. Monika ist meine Stiefmutter, lange Zeit hatten wir es schwer miteinander. Komm! Dieses eine Wort von ihr schwingt in mir nach, wie ein Grundton des Vertrauens: Mirjam, ich zähle auf dich, ich brauche dich. Jetzt. Ich rufe sie nochmals an: „Monika, ja, ich komme. Ich fahre morgen zu dir.“ – „Wann bist du da?“ – „Um die Mittagszeit.“ – „Wann genau?“ – „Ich fahre um halb zehn von hier los und treffe dann um elf am Bahnhof bei dir ein. Von dort nehme ich ein Taxi zur Klinik“, erkläre ich ihr, damit sie meinen Weg zu unserer Begegnung kennt. „Um zwanzig nach elf bin ich da.“ – „Gut“, sagt sie. Sie stellt nun ihre innere Uhr auf diese Verabredung ein. Ich packe warme Sachen und etwas zum Übernachten ein. In ihrem Zimmer werde ich mir ein Bett hinstellen lassen und sie in diesem Prozess nicht mehr verlassen. Ich stelle mich auf eine längere Zeitspanne ein. In meine Handtasche stecke ich noch einen dünnen Band mit Gedichten. „Wann bist du wieder zurück?“, bedrängt mich meine Familie. – „Zeitpunkt unbekannt.“ – „Glaubst du wirklich, dass Monika stirbt?“, fragt Dennis. „Ja, ich bin mir sicher.“

      Ich wusste nicht, dass Monika schon seit Frühlingsbeginn ins Sterben eingetreten war. Ina erzählte mir später: „Ich musste sie im Rollstuhl oft ans offene Fenster schieben. Da schaute sie dann stundenlang in den Park hinaus. Sie schien heiter dabei.“

      Monika sah in den aufblühenden Frühling: ins grüne Gras, in die gelben Primeln, sie nährte ihre Seele mit Blüten. Ich selber hörte seit Frühlingsbeginn Beethovens Frühlingssonate, sie erfüllte mich ebenfalls mit Heiterkeit.

      Mitten in der Nacht sinke ich in ein tiefes Vertrauen hinein. Ich liege auf dem Bett und habe gleichzeitig das Gefühl, in etwas wie Luft zu ruhen, von der ich getragen werde. Es kommt mir dabei vor, als würde ich hinübergetragen in eine andere Welt.

      Am nächsten Morgen trete ich reisebereit vor das Haus. Ich blicke kurz über die Hügel auf den weiten See hinunter, der am Horizont in den Himmel aufsteigt.

      Wie ich im Zug sitze und durch die blühende Landschaft fahre, höre ich Beethovens Musik in mir erklingen und sehe den Frühling in einer unbekannten, strahlenden Kraft. Ich fahre durch ein goldenes Licht hindurch, im Geburtskanal der Ankunft. Ankunft wohin? Ankunft ins Sterben.

      Noch nie habe ich ein Sterben miterlebt. Meine Mutter starb, als ich noch fast ein Kind war, und mein Vater hielt mich von ihr fern. Alles, was ich von ihr noch zu Gesicht bekam, war eine versiegelte Urne. Er selber starb später so plötzlich, dass ich auch bei ihm nicht dabei sein konnte.

      Einmal erst in meinem bisherigen Leben habe ich einem Toten ins Angesicht gesehen. Es war der Sohn meiner Freundin, der kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war und danach in der Kapelle des Kinderspitals aufgebahrt wurde. Ich spürte eine Distanz zu ihm, er sah für mich wie ein wächsernes Püppchen aus. Ich konnte alles nur von außen wahrnehmen und das schmerzte mich. Damals war ich befremdet. Wie eine Fremde in einem fremden Geschehen.

      Mit Monika bin ich nun mittendrin, in diesem gemeinsamen Geschehen, im Gold der Morgensonne. Unterwegs blühen mir die Obstbäume zu und grüßen mich mit ihrem festlichen Glanz.

       Einklang

      Wie versprochen bin ich mit dem Taxi vorgefahren. Punkt zwanzig nach elf betrete ich das Gebäude. Da ich damit rechne, dass ich von nun an ununterbrochen in Anspruch genommen werde und dass es in dem Schlafzimmer der Klinik mit seinen geöffneten Fenstern kühl sein wird, suche ich noch eine Toilette auf und ziehe mich wärmer und schon so bequem an, dass ich mich in ein Bett neben sie legen kann, um bei ihr zu bleiben. Denn dies werde ich mir von der Klinik erbitten. Ich rechne mit einem Prozess durch Tage und Nächte. In mir ist zeitlich alles offen. Ich gehe durch die Gänge der Klinik auf die gerontologische Abteilung zu. Von fern ist mir bewusst, dass ich als ein anderer Mensch durch diese Gänge zurückkehren werde, als ich sie jetzt durchschreite.

      Unterwegs komme ich an einem Warteraum mit einem Getränkeautomaten vorbei. Während ich noch schnell eine Tasse Kaffee zur Erfrischung trinke, holt mich eine schwierige Erinnerung ein.

      Kurz nach der Geburt meines Kindes versetzte Monika mir einen Schlag. Unvermittelt erhielt ich auch damals einen Anruf. Das Telefon klingelte, und obwohl etwas in mir zögerte, meldete ich mich. „Du hast ein Kind geboren?“, fragte die Stimme am anderen Ende. Es war Monikas Stimme. Sie erreichte mich schon damals aus dieser psychiatrischen Klinik, wo sie seit einiger Zeit leben musste. Ich war überrumpelt: „Ja“, sagte ich einfach. „Soso“, antwortete sie. Schweigen. Ich versuchte mich aus der Überraschung heraus zu sammeln, doch bevor mir dies gelang, sagte die Stimme in barschem Ton: „Du kannst doch gar nicht mit einem Kind umgehen, du bist doch eine Intellektuelle!“ Und abrupt wurde das Gespräch abgebrochen. Die harsche Stimme verletzte mich. Durch die Nähe mit dem Neugeborenen war ich gerade besonders empfindsam. Ihre Verurteilung traf mich mitten ins Mark in jener Zeit, wo ich mich so sehr bemühte, alles richtig zu machen.

      Der Abbruch des Kontaktes war wie ein Schnitt. Es muss auch Monika geschmerzt haben. Was für Verletzungen sind zwischen uns geschehen! Und doch ist eine Liebe zueinander gewachsen.

      Ich stelle die leere Kaffeetasse hin, gehe weiter und nähere mich jetzt dem Zimmer 207. Aufgeregt und etwas scheu öffne ich die Türe. Da liegt Monika in ihrem Bett. Neben ihr sitzt die Krankenschwester. Sie atmet auf: „Gut, dass Sie kommen.“ Monika atmet stoßweise, ein langes Ausatmen, ein kurzes Einatmen. Der Rhythmus ist Staccato. Ihre Augen sind geschlossen, nach innen versenkt, sie begrüßen mich nicht mehr. „Sie liegt ja schon im Sterben!“, sage ich. „Wann ist sie in diesen Prozess eingetreten?“ – „Eben erst, vor fünfzehn Minuten“, antwortet Ina. Vor fünfzehn Minuten! Gemäß unserer Vereinbarung in dem Moment, als ich die Klinik betrat. Sie hat es also gespürt: Jetzt ist Mirjam da. Jetzt kann ich zu sterben beginnen. Sie hat ihre innere Uhr auf mich eingestellt, ohne auf eine äußere Uhr zu schauen. Wir haben uns an einem inneren Ort aufeinander zubewegt. Da findet unsere Begegnung statt, und hier arbeitet Präzision. Schwester Ina verlässt den Raum. „Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen.“

      Nun sind wir allein. Die Sonne leuchtet durchs Fenster. Ich setze mich zu deiner Linken an dein Bett. Meine liebe Monika! Wir sind zu zweit in diesem Sterben, in diesem Kanal der Ankunft. Was wird ankommen? Wir wissen es beide nicht. Es ist eine Reise ins Unbekannte. Du wirst etwas weiter reisen als ich. Wie weit kann ich mit?

      Du atmest aus und aus. Ich erinnere mich an die Geburt meines Kindes. Atmete ich so in der Austreibungsphase, als sich sein Kopf durch die Enge des Geburtskanals schob? Was schiebt sich durch die Enge deines „Geburtskanals“? Ist er überhaupt eng? Was treibst du aus? Ist es deine Seele? Und was geschieht dabei mit uns beiden, mit meinem Ich, mit deinem Du?

      Ich ergreife deine Hand, ich singe dir zu, wie lange weiß ich nicht, das Zeitgefühl hat aufgehört. Du atmest aus und aus. Ich singe dir zu. Ich spüre, dies tut dir gut. Du öffnest deine Augen nicht