Название | Die Schneefrau |
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Автор произведения | Thomas Bornhauser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038182764 |
Als Veronika Schuler wieder ausserhalb des Gartens stand, entdeckte sie Joseph Ritter, Dezernatsleiter Leib und Leben bei der Kantonspolizei im Ringhof Bern. Neben ihm stand dessen Mitarbeiterin, Regula Wälchli.
«J. R., das ist aber eine Überraschung, dich hier zu sehen!»
«Wirklich? Wen hast du denn erwartet? Etwa Commissario Guido Brunetti aus Venedig? Oder Gunnar Barbarotti aus Kymlinge in Schweden?»
Beide mussten herzlich lachen, denn schon seit Jahren infomierte Veronika Schuler Joseph Ritter und sein Team über Obduktionsergebnisse aus dem IRM bei Todesfällen mit speziellen Begleitumständen – zum letzten Mal im Zusammenhang mit dem Tod von Thomas Kowalski und Agneta Gomulka im vergangenen Jahr.*
«Ich habe auch gleich Regula Wälchli mit aufgeboten, um diese Zeit wohl sehr zur Freude unseres gemeinsamen Kollegen und ihres Lebenspartners Elias Brunner, aber Regula ist eine Gstaaderin, und Insiderwissen schadet bekanntlich nie. Du kennst sie ja auch.»
Die beiden Frauen begüssten sich.
«Veronika, darf ich dich ärgern?», wollte Ritter wissen.
«J. R., das kannst du nicht. Aber vorher möchte ich dir eine Frage stellen.»
«Ich bitte darum.»
«J. R., was hast du am Abend des vergangenen vierten Oktober gegessen?» «Wie soll ich denn das wissen? Wenn schon, müsste ich in meiner Agenda nachschauen, ob an diesem Abend etwas Besonderes war. War da etwas Besonderes, Veronika, am vierten Oktober?»
«Wie soll ich das wissen, J. R.? Und deshalb brauchst du gar nicht zu fragen, ob ich schon Aussagen zum Todeszeitpunkt machen kann. Oder zu den Tatumständen. Ich muss die Leiche zuerst auftauen lassen, das dauert vermutlich bis Mittwoch.» «Alles klar, Veronika.»
Mehr brauchte die Fachfrau mit ihrem unverkennbaren Thurgauer Dialekt gar nicht zu sagen, denn jeder Kriminalbeamte wusste, dass es bei einer durchgefrorenen Leiche praktisch unmöglich war, genaue Rückschlüsse über den Todeszeitpunkt herauszufinden. In erster Linie galt es nun, kriminalistisch vorzugehen, zum Beispiel mit der Nutzung des Handys, anhand möglicher Fahrkarten oder mit der letzten Lebendsichtung durch Zeugen. Hinweise gab es möglicherweise durch die Fäulnisveränderungen zum Zeitpunkt des Einfrierens. War dabei schon längere Zeit vergangen, konnte die Rechtsmedizin mit den ebenfalls eingefrorenen Maden eine Todeszeitschätzung entomologisch vornehmen, zu der die Liegezeit im Schnee addiert werden musste, sofern diese bekannt war. Anhand des Mageninhaltes konnte Veronika Schuler allenfalls noch Schätzungen anstellen, nach welcher Mahlzeit die Frau verstorben war, ohne aber den eigentlichen Todestag damit näher eingrenzen zu können.
«Das einzige, was ich im Moment vermuten kann, ist, dass die Frau nicht unmittelbar nach ihrem Tod im Schneemann vergraben wurde, denn um ihre Leiche herum gab es keine schmalen Hohlräume bis zur Schneedecke, von der Körperwärme herrührend. Interessant ist auch, dass der Schneemann ob dem grossen Hohlraum nicht gekippt ist.»
«Oder aber der Schneemann wurde gleich um sie herum gebaut», antwortete Ritter.
«Theoretisch eine Möglichkeit, ja, aber sehr unwahrscheinlich.»
«Hier in Gstaad wird seit zehn Tagen eine 48-jährige Frau vermisst, ungefähr einsachtzig gross, schlank, blonde Haare. Könnte es sich um die Tote handeln?», wollte Regula Wälchli wissen.
«Nun, die Schuhgrösse der Schneefrau ist 41, das habe ich bereits feststellen können, die Tote dürfte also einssiebzig oder grösser sein, blonde Haare hat sie auch. Aber das Alter kann ich so nicht bestimmen. Wie gesagt: spätestens Mittwoch.» Und zum selbstverständlich rein zufällig herumstehenden Journalisten des Anzeigers von Saanen gewandt fügte Schuler an: «Journalisten gehören ausserhalb der polizeilichen Absperrungen, hopp, subito!», worauf der junge Schreiberling wie befohlen tat.
«Ich bin ja gespannt, was das für eine Berichterstattung gibt …», schmunzelte die Rechtsmedizinerin.
Tobias Schoch von MeteoSchweiz erklärte, dass der Schneemann aufgrund der verschiedenen Schneeschichten im Garten «vermutlich irgendwann in der zweiten Januarhälfte, sicher aber vor dem ersten Februar» gebaut worden war. Am 27. Januar habe es starken Schneefall gegeben, an gewissen Orten bis zu 50 Zentimeter. Diese Aussagen bestätigte die Beobachtung von Siebi Heiri, der von «vor ungefähr drei Wochen» gesprochen hatte. Schoch erwähnte auch noch sichtbare Schneehaufen im unmittelbaren Umfeld des Schneemanns: «Diese Schneehaufen wurden mit grösster Wahrscheinlichkeit nachträglich aus der untersten Kugel ausgekratzt. Daraus schliesse ich, dass die Frau erst nachträglich eingebaut wurde, sie diente sozusagen nicht als stabilisierendes Fundament.»
Zur gleichen Zeit, an anderer Stelle auf der Strasse, war Staatsanwältin Christine Horat im Gespräch mit «Ritschi» Müller von Gstaad Watch.
«Herr Müller, nennen Sie mir die Handynummer von Herrn Ugromow, bitte?» «Ich bin nicht befugt, Daten von unseren Kunden an Dritte weiterzugeben.» «Herr Müller, haben Sie ein Problem mit Frauen? Was soll dieses Machogehabe? Geben Sie mir umgehend seine Telefonnummer. Zackig. Oder möchten Sie ein Verfahren wegen Behinderung der Justiz am Hals?»
Zwei Minuten später stand Christine Horat in Verbindung mit Witali Ugromow. Um eine einigermassen entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen, erkundigte sich die Staatsanwältin mit einigen Nettigkeiten im Bereich des Smalltalks auf Englisch, wobei Witali Ugromow plötzlich zu einem sehr guten Schriftdeutsch überging.
«Ich habe unter anderem Germanistik studiert, in Berlin-Ost, Mitte der Siebzigerjahre. Was wollen Sie genau von mir wissen, Frau … ehh .… wie sagten Sie doch gleich?»
«Horat, Christine Horat. Sagen Sie, Herr Ugromow, wer hat den grossen Schneemann in Ihrem Garten gebaut – und wann?»
«Mein Chauffeur und mein Koch, Ende Januar, aber deswegen rufen Sie ja bestimmt nicht an, wegen des Schneemanns.»
Christine verneinte und erklärte den Grund ihres Anrufs. Noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, unterbrach sie Ugromow unwirsch. «Und jetzt wollen Sie mir unterstellen, ich sei ein Mörder?»
«Nein, das will ich nicht, Herr Ugromow. Aber ich muss Sie bitten, so schnell als möglich in die Schweiz zu kommen, damit wir Sie vom möglichen Täterkreis ausschliessen können.»
«Also gehöre ich zum Täterkreis! Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Frau Oratt?»
Die Staatsanwältin war darauf bedacht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. «Nein, das sage ich nicht, Herr Ugromow, deshalb ist Ihre Anwesenheit hier in Gstaad ja so wichtig. Wann können Sie hier sein? Sie reisen ja offenbar – so hat man mir jedenfalls gesagt – jeweils mit dem Privatflugzeug nach Genf, um sich nachher mit einem Helikopter nach Gstaad bringen zu lassen. Im Idealfall könnten Sie also noch am gleichen Tag zurück in Moskau sein.»
«Bitte, wie, was verlangen Sie?»
«Wann können wir Sie hier in der Schweiz befragen, Herr Ugromow? Immerhin liegt eine Tote in Ihrem Garten.»
«Bestimmt