Название | Die Schneefrau |
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Автор произведения | Thomas Bornhauser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038182764 |
Um etwas Abwechslung in seinen Alltag zu bringen, wählte er jeweils für die zum Teil ausgedehnten Abendspaziergänge mit Mephisto verschiedene Routen in und um Gstaad. Heute gingen die beiden in Richtung Oberbort, wo die Reichen und Schönen zum Teil gediegene, gegen aussen als Chalets gestaltete Villen besassen. Die Bauvorschriften des Oberländer Dorfes – der politischen Gemeinde Saanen angehörend – legten nämlich fest, dass Gstaad, in einer besonders schönen Landschaft gelegen, optisch nicht zu einem Little Dubai mit Wolkenkratzern mutierte, sondern der Formel «Small is beautiful» verpflichtet war.
Und im Gegensatz zu Beverly Hills, wo Touristen Strassenkarten mit Namensnennung der Villenbesitzer kaufen und von der Strasse her die Anwesen bestaunten konnten (sofern es hinter den Sichtschutzwänden überhaupt etwas zu sehen gab), herrschte in Gstaad Stillschweigen darüber, welches Chalet nun wem gehörte. Bernie Ecclestone, Julie Andrews, Valentino, Roman Polanski und andere Prominente, in früheren Jahren auch Liz Taylor und Richard Burton während ihrer verschiedenen Ehen, legten grössten Wert auf Diskretion – einer der grossen Pluspunkte des Oberländer Dorfs im Vergleich zu wesentlich mondäneren und weiteraus bekannteren Ferienorten in aller Welt.
So illuster wie die Gäste zeigte sich auch die autofreie Promenade mit Geschäften wie Louis Vuitton, Hublot, Cartier, Chopard oder Prada. Und wohl auch der Haute Volée zuliebe hiessen hier ganz trivial versenkbare Poller, die Autos an der Weiterfahrt hinderten, vornehm Senksäulen. Von Siebenthal musste beim Anblick des entsprechenden Schildes jedes Mal schmunzeln. Von seinem Chalet herkommend spazierten Siebi Heiri und Mephisto die Promenade entlang, um in der Dorfmitte den Weg in Richtung Oberbort einzuschlagen, linkerhand am legendären Hotel Palace vorbei, das in den letzten Jahren mit dem neuen Luxushotel Alpina spürbare Konkurrenz erhalten hatte.
«Unglaublich», dachte Heinrich von Siebenthal, als er auf der Höhe eines prall gefüllten Abfallcontainers stand, derweil Mephisto kurz das Bein heben musste, gleich drei edle Holzkisten mit ehemals je sechs Flaschen Château Mouton Rothschild 2010 werden da entsorgt – schade, sind sie leer. Darunter lagen mehrere ebenso leere Whisky-Holzkisten, mit «Highland Park 1973» angeschrieben, die Flasche sicher um die 1000 Franken. Wie die Chalets dieser Betuchten von innen aussahen, das konnte Siebi Heiri aufgrund der Stammtischgespräche im Posthotel Rössli erahnen, wo sich die Handwerker jeweils mit Schilderungen ihrer Arbeiten zu überbieten pflegten – auch wenn er sich durchaus bewusst war, dass der Grat zwischen Dichtung und Wahrheit oftmals sehr schmal war.
An einem bestimmten Chalet wollte Heinrich von Siebenthal heute bewusst vorbeilaufen, am vielleicht grössten Chalet im Oberbort überhaupt, an der Hausfassade lediglich mit «Swoboda» angeschrieben. Im Garten stand dort seit ungefähr drei Wochen ein riesiger Schneemann, bestimmt zweieinhalb Meter hoch, in der klassischen Machart, mit vier übereinandergestapelten Schneekugeln, die grösste als stabile Unterlage, die kleinste als Kopf, den ein grosser Schlapphut sozusagen vor Schneefall schützte. Die letzten paar Tage hatten dem Schneemann jedoch arg zugesetzt, hatte sich der Winter doch, bei Tagestemperaturen von weit über der Nullgradgrenze, ein vorübergehendes Timeout genommen. Der Schneemann präsentierte sich deshalb schwer ramponiert, der Hut sass schief, das Rüebli für die Nase und die Zwiebeln für die Augen lagen bereits am Boden. Die Strassen waren auch im Dorf schneefrei.
«Mefi, komm sofort her, dort hast du nichts zu suchen!», rief von Siebenthal unvermittelt. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten hatte der Labrador eine Art Hausfriedensbruch begangen und es irgendwie geschafft, in den Garten des Chalets Swoboda zu gelangen, wo er schnurstracks zum Schneemann gelaufen war und im Mondschein mit den Pfoten zu scharren begonnen hatte. Auf den Befehl seines Herrchens reagierte er nicht, im Gegenteil, er wühlte immer weiter, begann plötzlich zu bellen. Im Chalet blieb es überraschenderweise dunkel, niemand schien sich am Hundegebell zu stören. Auch hatte Mephisto keinen Lichtsensor ausgelöst, von einer hörbaren Alarmanlage ganz zu schweigen.
«Mephisto, komm jetzt sofort her!», insistierte von Siebenthal.
Der ehemalige Lokführer der Monteux-Oberland-Bahn MOB hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, abends eine Taschenlampe mitzunehmen. Er zog diese nun aus seiner rechten Manteltasche, kippte den Schalter auf «On» und richtete den Lichtstrahl in Richtung seines Hundes, ungefähr zehn Meter entfernt. Siebi Heiri traute seinen Augen nicht, was er zu sehen bekam, ihm stockte der Atem, seine Hand begann zu zittern.
«Mefi! Fuss!», rief er noch einmal.
Jetzt endlich gehorchte der Labrador, rannte zurück auf das Trottoir zu Siebi Heiri, der immer noch im Garten stand: Unter dem Schneemann schaute ein Fuss in einem schwarzen Frauenschuh hervor, beleuchtet vom hellen Lichtstrahl der Taschenlampe.
Der Weg zum leicht versteckt gelegenen Polizeiposten Gstaad führt durch den Hintereingang und durch einen Velokeller.
Es war vergleichsweise ruhig an diesem Abend auf der Polizeiwache Gstaad, die nicht direkt an der Fussgängerpromenade lag, sondern versteckt, etwas zurückversetzt, in einem grossen Gebäude, wo sich auch die Feuerwehr mit ihren roten Fahrzeugen befand. Gut sichtbare Schilder im Dorf wiesen indes den Weg zum Spittelweg 7. Das Büro der örtlichen Polizei im ersten Stock erreichte man über einen Hintereingang der Liegenschaft, wobei man zuerst – leicht provinziell – einen Velokeller durchqueren musste.
«75, 79, 90, 100, 104 und dr Letscht, macht 109!», freute sich Armin Ummel für sich und seine Jasspartnerin beim Zählen der Karten. Die vier anwesenden Polizisten – zwei davon hatten ihre Dienstzeit an diesem Sonntag soeben beendet, blieben aber noch für einen Schwatz mit den Kollegen – hatten kurz Zeit gefunden, in einem Nebenraum eine Runde zu jassen, bevor die beiden Diensthabenden sich auf Patrouille verabschiedeten. Zu Ende konnte man eine Partie sowieso nie spielen, denn immer kam etwas dazwischen, so auch heute, nach nur sechs oder sieben Minuten.
«Kantonspolizei Gstaad, Robert Käser», hörten Armin Ummel, Monika Grünig und Michel Chevalier ihren Chef bei seiner Anmeldung am Telefon sagen. «Herr von Siebenthal, wo sagen Sie? Im Garten des Chalets Swoboda? Ja, ich weiss, das ist jenes mit dem grossen Schneemann im Garten. Bleiben Sie bitte, wo Sie sind, betreten Sie das Gelände auf gar keinen Fall! Wir sind in fünf Minuten bei Ihnen.»
Kaum hatte Käser sein Gespräch beendet, informierte er die Kollegin und die beiden Kollegen.
«Heinrich von Siebenthal sagt, dass er …»
«Siebi Heiri?», fragte Monika Grünig, die sich wunderte, dass Käser Siebi Heiri nicht wie alle anderen Gstaader duzte.
«Ja, genau, Siebi Heiri glaubt, dass auf dem Grundstück des Chalets Swoboda eine Tote liegt, jedenfalls sehe man unter dem grossen Schneemann einen Damenschuh. Behauptet er zumindest. Monika und Michel, sorry, aber könnt ihr noch einen Moment hier bleiben, damit Armin und ich schnell hinaufauffahren und der Sache nachgehen können?»
«Kein Problem!», antworteten die beiden synchron.
«Danke, wir melden uns, sobald wir mehr wissen.»
Eine Minute später sassen Robert Käser und Armin Ummel in einem der Dienstfahrzeuge. Ohne Aufsehen zu erregen – das Zauberwort hiess in Gstaad seit jeher Diskretion – steuerte Robert Käser den VW Passat in Richtung Oberbort.
«Sag mal, Röbu, wie heisst dieser Russe schon wieder, dem das Chalet gehört?», wollte Armin Ummel wissen, der erst vor vier Wochen seinen Dienst in Gstaad angetreten hatte, nach über fünf Jahren bei der mobilen Polizei in der regionalen Einsatzzentrale Thun Süd.
«Ugromow. Witali Ugromow.»
«Der Name sagt mir gar nichts. Ein Unternehmer?»
«Ein sogenannter Oligarch, Multimilliardär, angeblich mit Putin befreundet.» «Wirklich? Du meinst, so einer wie Abramowitsch, dem der Fussballclub Chelsea gehört?»
Robert Käser bejahte und kam gleich ins Schwärmen, als er kurz von der «Eclipse» erzählte, der über 160 Meter langen Yacht von Roman Abramowitsch, die samt integriertem