Christ sein – was ist das?. Matthias Beck

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Название Christ sein – was ist das?
Автор произведения Matthias Beck
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783990404362



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Jahrhundert hat Augustinus (354 – 430) über den freien Willen und über die Herkunft des Bösen nachgedacht: Der Mensch ist frei, sonst wäre jedes Lob für einen Schüler sinnlos11 und das Böse kommt seiner Meinung nach aus dem Menschen selbst, lässt man den Engelsturz einmal beiseite. Pico della Mirandola (1463 – 1494) wiederum nimmt im ausgehenden Mittelalter den freien Willen des Menschen als Zugang zur Beschreibung der Menschenwürde. Schließlich ist es Immanuel Kant, der im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert den Begriff der Menschenwürde genauer entwickelt. Die Menschenwürde wird zum zentralen ethischen Argumentationspunkt für die Menschenrechte und vieler Rechtssysteme. Der Einzelne steht im Mittelpunkt, ganz im Unterschied zu der sich in England am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts unter der Federführung von Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 – 1873) entwickelnden Ethikrichtung, die als Utilitarismus bezeichnet wird. Sie fragt nach dem größten Nutzen für die größte Zahl. Das klingt verlockend, lässt aber den Einzelnen weitgehend außer Acht. Gegenwärtig wird über eine Diskursethik von Jürgen Habermas (geb. 1929) gesprochen, die für einen herrschaftsfreien Diskurs eintritt. Ein solch herrschaftsfreier Diskurs auf Augenhöhe sollte auch zwischen den Religionen möglich werden. Darüber hinaus haben sich Bereichsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, politische Ethik herausgebildet.

      Den Begriff der Menschenwürde kann man auf die Stoa und das jüdische Denken zurückführen, aber auch im Römischen Reich kommt er bei Cicero (106 – 43 v. Chr.) vor. Dort galt, dass der Mensch sich diese Würde durch ein bestimmtes Amt oder gutes Verhalten verdienen kann. Er konnte diese Würde erlangen, aber auch wieder verlieren, sie war abstufbar. Neben dieser römischen Tradition kommen aus der religiösen Dimension des Judentums Aussagen über den Menschen als Ebenbild Gottes, und bei Paulus heißt es, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Die hier beschriebene Gleichheit aller Menschen war für Römer und Griechen so nicht gegeben. „Im Mittelpunkt des antiken Denkens fanden wir die Annahme von der natürlichen Ungleichheit.“12

      Wie erwähnt wird im ausgehenden Mittelalter die Würde des Menschen an seinem freien Willen festgemacht, und schließlich ist es Immanuel Kant, der den Begriff der Würde im Unterschied zum Wert herausarbeitet. Dinge haben ihren Wert und ihren Preis, sie werden Sachen genannt, Vernunftwesen aber, die Personen genannt werden, haben Würde. Sie fallen aus der Wertkategorie heraus. „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“13

      Ein Glas, das einen Euro kostet und zu Boden fällt, kann durch ein anderes Glas ersetzt werden. Wenn aber ein Kind vom Wickeltisch fällt und stirbt, wäre es zynisch, den Eltern zu sagen: Ihr könnt ja ein neues Kind zeugen. Der Mensch hat keinen Preis und in diesem Sinn keinen Wert, er ist über jeden Preis erhaben, er hat Würde. Er ist einmalig und unersetzbar, er ist nicht ver-wert-bar und nicht be-wert-bar. Dinge und vernunftlose Wesen haben „nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst“14 achtet. Personen sollen also um ihrer selbst willen geachtet werden. „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst.“15 Diese sogenannte „Selbstzwecklichkeitsformel“ Kants bedeutet, dass der Mensch nicht für andere Zwecke missbraucht werden darf, als um seiner selbst willen geachtet zu werden. Man spricht vom Verbot der Totalverzweckung. Diese vollständige Verzweckung wäre gegeben, wenn ein Mensch nur dafür gezeugt würde, um ihm später alle Organe zur Transplantation zu entnehmen. Das wäre eine Totalverzweckung und widerspräche der Würde des Menschen. Dem Begriff der Würde ist der Begriff der Person an die Seite gestellt. Der Personbegriff stammt auch aus dem Römischen Reich. Im Lateinischen von personare abgeleitet, meint er die Maske des Schauspielers, durch die die Stimme des Schauspielers hindurchtönt (per-sonare). In Bezug auf den Menschen könnte man sagen, dass durch ihn eine andere (göttliche) Stimme hindurchtönen soll.

      Beide Begriffe der Würde und der Person zusammengenommen sagen etwas über die Hochschätzung des Individuums aus, das nicht verzweckt und nicht aufgrund seiner Herkunft, Geschlecht, Alter diskriminiert werden darf. Diese Auffassung von der Menschenwürde, die jedem Menschen aus sich heraus zukommt und ihm nicht von außen zugeschrieben oder aberkannt werden kann, liegt vielen Gesetzen moderner Staaten zugrunde.

      So lautet zum Beispiel Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes (und etwas anders in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 GG), und der zweite Artikel, der daraus folgt, lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ (Art. 2 GG). Der erste Artikel des Deutschen Grundgesetzes beinhaltet eine Selbstbeschränkung des Staates. Er hat sich selbst auferlegt, niemals mehr so tief und vernichtend in die menschliche Intimsphäre einzugreifen, wie es zum Beispiel im Nationalsozialismus geschehen ist. Folgerichtig ist im Artikel 2 das Recht auf Leben und körperliche sowie in der Grundrechte-Charta auf geistige Unversehrtheit festgehalten. Ging es bei den Tugenden des Aristoteles um die innere Haltung des Menschen, geht es bei Kant und der Menschenwürde darum, etwas „Absolutes“ im Menschen festzumachen, das ihm niemals genommen werden kann. Daher kann auch der Artikel über die Menschenwürde im Deutschen Grundgesetz selbst mit hundertprozentiger Mehrheit des Deutschen Bundestages nicht aufgehoben werden. Er hat „Ewigkeitscharakter“. Daher wird der Artikel 79, Abs. 3, des Deutschen Grundgesetzes auch als „Ewigkeitsklausel“ bezeichnet. Eine Änderung dieses Artikels 1 ist unzulässig.16

      Bis hierher wurde die Herleitung des Begriffes der Menschenwürde vornehmlich philosophisch dargestellt. Dabei zeigte sich aber, dass im Hintergrund auch die Vorstellungen des Judentums von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie der christlichen Auffassung von der Gleichheit aller Menschen eine Rolle spielten. Auch das christliche Gebot von der Nächsten- und Feindesliebe kommt im Kant’schen Begriff von der Achtung des Menschen um seiner selbst willen zum Ausdruck.

      Im Folgenden soll nun dieser Hintergrund des Judentums noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, um dann überzuleiten zu den zentralen Aussagen des Christentums. Denn das Christentum ist ohne das Judentum nicht verstehbar. Etwa 1500 Jahre vor Christi Geburt findet ein interessanter Umbruch in der Weltgeschichte statt. Aus einem Vielgötterglauben, der auch in Israel herrschte, entwickelt sich langsam ein Ein-Gott-Glauben. Schon im Hinduismus und später in der griechischen Philosophie gab es einen solchen Vielgötterhimmel, von dem Feuerbach vermutlich sagen würde, dass diese Götter Projektionen des Menschen seien. So zeigt es sich auch in der Erfahrung des Volkes Israel. Sie spüren, dass die vielen Götter, die es auch in ihrer damaligen Glaubenswelt gab, eigentlich keine Kraft und Macht haben. Jetzt aber erfahren sie etwas ganz anderes, nämlich das machtvolle Wirken des einen Gottes, den sie Jahwe nennen. Sein Name darf nicht ausgesprochen werden und sie dürfen sich kein Bild von ihm machen. Aber er erweist sich als ein wirkmächtiger Gott. Er kann etwas. Er befreit das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. Mit starker Hand führt er das Volk aus der Unterdrückung Ägyptens heraus in die Freiheit.

      So erlebt das Volk das mächtige Wirken Jahwes. Diese Erfahrungen werden aufgeschrieben in den Texten der fünf Bücher Mose und anderer Schriften. Diese Schriften, die über einen Zeitraum von achthundert Jahren entstanden sind, nennen die Christen das „Alte Testament“. Für viele Juden ist diese Bezeichnung nicht zutreffend, da es für sie kein „Neues Testament“ gibt. Sie warten bis heute auf das Kommen des Messias. Wenn er noch nicht da war, gibt es auch kein „Neues Testament“. Denn dort sind die Berichte über Jesus Christus, von dem die Christen glauben, dass er der Messias sei, aufgeschrieben.

      Das Volk Israel erfährt also seinen Gott als jemanden, der zum Volk spricht und