Christ sein – was ist das?. Matthias Beck

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Название Christ sein – was ist das?
Автор произведения Matthias Beck
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783990404362



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Bücher

       Impressum

      Demokratieverdrossenheit, der Austritt der Briten aus der Europäischen Union, Terroranschläge, die Flüchtlingsproblematik, ungerechte Ressourcenverteilung, wirtschaftliche Probleme, Bankenkrisen, Armut, Arbeitslosigkeit, Orientierungsnot, Überforderung vieler Jugendlicher, Fragen der Bildung, Säkularisierungsprozesse und die Integration von Migranten lassen Europa nicht zur Ruhe kommen. Mehr noch, sie stellen den Kontinent und seine Bürger vor die Aufgabe, sich ihrer selbst bewusst zu werden. Gerade das bei vielen Menschen gegenwärtig vorhandene Gefühl der Bedrohung durch den Islam fordert heraus, sich der eigenen Wurzeln zu besinnen. Manche Menschen haben Angst vor einer „Islamisierung“ Europas. Andersherum fragen Muslime, was das Christentum eigentlich ist. Vielfach bekommen sie darauf kaum Antworten. Christen wissen oft wenig über ihre eigene Religion.

      Es gilt, ein neues Bewusstsein dafür zu entwickeln, aus welcher Tradition heraus die Werte einer freiheitlichen Demokratie gewachsen sind. Es besteht die Gefahr, dass der Europäischen Union das geistige Fundament der errungenen demokratischen Werte langsam abhandenkommt. Die Wirtschaft allein kann diese Grundwerte nicht aufrechterhalten. Auch die Rechtssysteme können dies nur bis zu einem gewissen Grad leisten und eine Wirtschaftsgemeinschaft allein genügt nicht als Grundlage. Zum Erhalten des Errungenen bedarf es eines tieferen Verständnisses der geistigen Hintergründe Europas. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“,1 heißt es bei Goethe. Der letzte Grund der Werte muss immer neu erschlossen werden, sonst geht das Erworbene langsam verloren.

      Immer mehr Menschen stellen sich die Frage nach einem einheitlichen Wertesystem unseres Kontinents. Gleichzeitig suchen sie über eine allgemeine Ethik hinaus nach persönlicher Orientierung, Lebenssinn und Spiritualität. Orientierungslosigkeit, Unübersichtlichkeit, Pluralismus der Meinungen und die allgemeine Beliebigkeit führen dazu, dass viele wieder nach dem „starken Mann“ rufen, der Ordnung schafft.

      Das Christentum ist in der Krise, zumindest in Europa. Viele Menschen haben die Kirchen verlassen, nicht wenige sagen, dass es ohne Religionen friedlicher sei, und der Dalai Lama hält Ethik für wichtiger als Religion.2 Allerdings zitiert er oft die Bergpredigt aus dem Neuen Testament und dort ist von Gewaltverzicht (Mt 5,5) und Feindesliebe (Mt 5, 43 – 48) die Rede. Etliche Menschen wissen gar nicht mehr, was das Christentum ist, und es interessiert sie auch nicht. Kaum jemand erhofft sich Antworten aus dem Christentum für das eigene Leben. Man spricht nicht darüber oder schämt sich, ein Christ zu sein. Und doch sind viele auf der Suche nach Spiritualität und Ethik. Das vorliegende Buch versucht diese Lücke zu schließen, das heißt eine Verbindung zwischen Ethik und christlicher Spiritualität herauszuarbeiten und in kurzen Skizzen darzustellen, was das Christentum in seinem Zentrum darstellt. Es soll für den Alltag taugen und gegenüber der säkularen Welt einen Mehrwert darstellen.

      Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern der Versuch einer komprimierten Zusammenfassung der wichtigsten Glaubensinhalte des Christentums. Natürlich kann das Buch nicht der ganzen Komplexität des christlichen Glaubens gerecht werden. Aber es will die zentralen Aussagen herausstellen und Anregungen geben, wie der Einzelne weiterdenken und die Inhalte für den Alltag fruchtbar machen kann. Insofern hat es eher eine praktische Ausrichtung.

      Jeder Leser hat seine eigenen Erfahrungen mit dem christlichen Glauben. Den einen interessiert er gar nicht. Der andere mag alles schon kennen und das tiefere Eindringen in die Glaubensinhalte vermissen. Ein Weiterer hat mit der Kirche abgeschlossen, sie ist ihm fremd geworden und hat ihm vielleicht sogar Verletzungen zugefügt. Ein Vierter befindet sich in solch einer Krise, dass ihm das alles zu fern und abgehoben erscheint. Der Nächste fühlt sich vielleicht intellektuell unterfordert. Manch einer wird sagen: Das Buch ist fragmenthaft. Ja, das ist es. Es ist nur eine Bauanleitung, das Haus muss jeder selbst bauen. Der rote Faden ist die Reflexion über das Christentum in seiner Auswirkung auf den Menschen und den Staat. Vielleicht kann der Einzelne im Buch Passagen finden, die ihn ansprechen und seine Sehnsucht wecken. Womöglich kann es helfen, sich einzulassen auf die tiefe und revolutionäre Botschaft des Christentums. Sie ist einfach und klar. Sie ist für jeden Menschen da.

       Eine kurze Gegenwartsanalyse

      Wenn über Europa gesprochen wird, geht es immer um die Menschen, die dort leben. Vom Gelingen ihres Lebens hängt auch das Gelingen der Staaten und Kontinente ab. Daher wird im Buch nicht über Politik gesprochen, sondern über das menschliche Leben. Es wird über die innere Befreiung des Menschen gesprochen, über persönliche Selbstwerdung, Reifung durch Lebenskrisen hindurch, das Finden der eigenen Berufung. Es wird aber auch reflektiert über die äußere Freiheit mit den Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten. Die innere und äußere Befreiung von Unterdrückung hat wiederum mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild zu tun.

      Es wird über das Christentum nachgedacht, das mit seinem dreifaltigen Gottesbild Pluralität und Polarität in sich vereinigt. Es zeigt die Freiheit Gottes, die sich im Menschen und in der Gesellschaft als innere und äußere Befreiung erweisen sollte. Es wird ein Christentum beschrieben, das den Menschen zu seinem tiefsten Wesen führen will und damit für das Leben etwas „bringt“. Es wird über Grundwerte wie Nächstenliebe und Feindesliebe gesprochen, die auch die Sorge um den Armen, Kranken und Gefangenen beinhaltet. Es wird ein Christentum dargestellt, das aufgrund seines Aufrufs zur Selbstreflexion zur Säkularisierung neigt, das die Errungenschaft der Trennung von Kirche und Staat aufweisen kann und eine gute Grundlage für die moderne Demokratie darstellt.

      Ohne diese Grundlagen, die zunächst in jedem Menschen selbst zu legen sind und dann in den Strukturen der Gesellschaft, werden weder die einzelnen Staaten Europas noch Europa als Ganzes auf Dauer zusammenhalten. Die Einheit kommt aus dem Geist, nicht aus der Materie. Aber auch das Christentum selbst braucht eine Vertiefung des Geistes im Sinne einer Re-Spiritualisierung, die dem Menschen den Sinn des Christentums für den Alltag erschließt. Spirituelle und intellektuelle „Nachrüstung“ ist gefordert. Diese Grundlage ist auch notwendig, um mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen. Dazu sollte man die eigenen Grundlagen kennen.

      Im ersten Kapitel geht es um eine kurze philosophische Reflexion, aus welchen Quellen sich das Wertesystem Europas speist. Im zweiten großen Kapitel werden zentrale Inhalte des Christentums in seiner menschenprägenden Kraft dargestellt. Schließlich wird in einem dritten Kapitel erläutert, was das Christentum dem Einzelnen für sein konkretes Leben „bringt“ und wie sein Verhältnis zu den Wissenschaften ist. So ist der Weg des Buches ein Dreischritt: Zunächst wird die aktuelle Lage der gewordenen Wertüberzeugungen dargestellt, dann das Thema zu den Grundfragen des Seins vertieft, um von da aus verändert wieder aufzutauchen in den Alltag.

      In der heutigen pluralistischen Gesellschaft geht es vor allem um die geistigen Auseinandersetzungen zwischen den Menschen. Wenn die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Arbeit einigermaßen gestillt sind, geht es um den geistigen Dialog der Kulturen. Wie sich zeigt, ist Religion keine Privatsache, sondern zum Teil höchst politisch. Menschen werden durch Religionen geprägt und prägen ihrerseits Gesellschaften. Der Frieden zwischen den Menschen und den Religionen kann nur gewahrt werden, wenn Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Religionen benannt werden. So ist es notwendig, bereits in den Schulen über unterschiedliche Grundwerte, religiöse Hintergründe sowie Grundstrukturen der Demokratie zu sprechen. Frühzeitig sollten Reflexionsprozesse über Menschenbilder, Gottesbilder, Normen, ethische Tugenden eingeleitet werden. Autoritätsargumente wie „Gott will das so“ oder „Das ist der Wille Allahs“ haben in einer aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz. Das theologische Argument muss – soweit möglich – philosophisch durchreflektiert und vernünftig begründet werden.3

      Für das Christentum waren dazu Einflüsse von