Christ sein – was ist das?. Matthias Beck

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Название Christ sein – was ist das?
Автор произведения Matthias Beck
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783990404362



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Dieses besagt, dass die Sonne als Lichtquelle im Mittelpunkt des Sonnensystems steht und nicht die dunkle Erde. Das hat auch theologisch mit der Lehre von Christus als dem Licht der Welt sehr viel mehr Sinn gemacht als jene von der dunklen Erde im Mittelpunkt. Die deutsche Aufklärung appellierte an die Vernunft des Menschen und rief ihn auf, sich aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien (Immanuel Kant). Auch das entspricht der Vernunftstruktur des Christentums. Die Französische Revolution, wiewohl sie blutig verlief, trat für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein. Auch dies sind christliche Werte. Da die Kirche nicht immer ihre eigenen Werte verwirklicht hat, waren Inspirationen von außen für die Fortentwicklung des Christentums von großer Bedeutung.

      Wie eingangs erwähnt, glauben manche Menschen, Ethik sei wichtiger als Religion, da religiöse Überzeugungen oft zu Aggressionen führten. Es wird gesagt, monotheistische Religionen neigten wegen ihres Absolutheitsanspruches zur Gewalt. Umgekehrt ist vermerkt worden, der Mensch brauche Religion, da er sonst mit dem Leben nicht zurechtkomme. Er schaffe sich Götter als Erklärung für das Unerklärliche, die er dann anbeten und gnädig stimmen könne.4 Hier soll es um etwas anderes gehen, nämlich um die Frage, ob der Mensch nicht „von Haus aus“ schon auf das Absolute ausgerichtet ist.

      Offensichtlich steht der Mensch als Wesen des Geistes immer schon im Raum des Absoluten. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) hat formuliert, dass der Mensch das Relative überhaupt nur als relativ erkennen könne, weil er immer schon im Raum des Absoluten stehe. Stünde er nicht in diesem Raum des Absoluten, könnte er das Relative nicht als relativ und das Endliche nicht als endlich erkennen. Dieses Absolute zeigt sich indirekt als „Hintergrund“ und Horizont, der in allem ganz still „da“ ist. Es ist der Horizont des Seins.

      Etwas konkreter: Überall dort, wo der Mensch nach Wahrheit sucht oder die Lüge als Abweichung von der Wahrheit erkennt, hat er eine Ahnung von Wahrheit. Dort, wo er etwas als ungerecht bezeichnet, hat er eine Ahnung von Gerechtigkeit, ohne diese womöglich genau definieren zu können. Wo er Unglück als Unglück wahrnimmt, hat er eine Ahnung von Glück. Er spürt auch, dass in der irdischen Welt in allem ein Zuwenig ist. Er will über die Welt hinauswachsen. Im Sport heißt es: höher, schneller, weiter! Er will auch mehr als das irdische Glück, da dieses immer wieder entschwindet. „Alle Lust will Ewigkeit“, heißt es im „Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche (1844 – 1900). Und Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) lässt seinen „Faust“ ebenfalls nach einer tieferen Erkenntnis streben: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“5

      Die Sehnsucht des Menschen geht über das Endlich-Relative hinaus. „Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen“, heißt es bei Blaise Pascal (1623 – 1662).6 Selbst der Rauschgiftsüchtige sucht etwas, was sein innerweltliches Erleben übersteigt. Allerdings findet er auf Dauer nicht das Absolute und das Glück, sondern das Endliche und Tötende. In mancher Suche nach dem besonderen „Kick“ steckt eine richtige Sehnsucht nach dem „Mehr“. Wenn aber die falschen Mittel angewendet werden, zeigt sich nicht das Große, sondern der Untergang.

      Das Stehen im Raum des Absoluten und die Suche nach dem ganz anderen gehört zum Wesen des Menschen. Es abzuschneiden hieße, ihn nicht in seiner Ganzheit zu erfassen. Dieses Absolute kann es-haft sein wie ein Schicksal, a-personal wie vielfach in Asien, aber auch ganz explizit Du-haft wie in den monotheistischen Religionen. Aus deren Sicht hat das Absolute die Gestalt eines personalen Gegenübers. Dieses nennen die Juden Jahwe, die Christen Gott und die Muslime Allah. Ob es ein und derselbe Gott ist, bleibt zu hinterfragen, zumindest haben die Religionen unterschiedliche Gottesbilder.

      Wenn es diesen Gott „gibt“, stellt sich die Frage, ob es sich um einen fernen Gott handelt, von dem man sich kein Bild machen und dessen Namen man nicht nennen darf, oder um einen nahen Gott, der mit dem Menschen nahezu auf Augenhöhe kommunizieren will. Ist es ein jenseitiger Gott, dem man sich blind unterwerfen muss, ohne ihn zu kennen, oder ist es ein gütiger, liebender und barmherziger Gott, den der Mensch kennenlernen kann? Ist er ein strenger Richter, der den Menschen beobachtet, klein macht und aburteilt, oder ein Gott, der den Menschen groß machen und zum Leben verhelfen will. Wenn der Mensch sich auf diesen Gott einlassen will, sollte er ungefähr wissen, welche „Eigenschaften“ er hat. Bevor auf diese Fragen eingegangen wird, sollen zunächst einige philosophische Fragen zum Leben beantwortet werden.

      Europa hat sich durch eine lange Geschichte hindurch mit Kaiser- und Königreichen, mit Diktaturen und Kriegen, mit Vernichtung und Neuaufbau langsam durchgekämpft zu einigermaßen stabilen Demokratien, die allerdings in Osteuropa noch relativ jung sind und erst seit 1989 anfangen zu wachsen. Allerdings sind in manchen Teilen (zum Beispiel in der ehemaligen DDR) infolge des Kommunismus keine christlichen Grundwerte vermittelt worden. Der Wertekanon der europäischen Demokratien beruht meist auf den Vorstellungen der Menschenwürde und den daraus abgeleiteten Menschenrechten, der Gewaltenteilung im Staat mit Legislative, Exekutive und Judikative, der Presse- und Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Wahlfreiheit, dem Demonstrationsrecht. Auch die Werte der katholischen Soziallehre wie Personalität, Solidarität und Subsidiarität finden Berücksichtigung, ebenfalls jene von der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Trennung von Kirche und Staat sowie die Verpflichtung zur Hilfeleistung und zur Unterstützung der Armen, Kranken, Gefangenen. Viele von diesen Werten gehen auf christliche Grundüberzeugungen zurück.

      Alle Menschen haben durch ihre Eltern, ihre Kultur und ihre Umgebung eine bestimmte Moral gelernt. Man schlägt einander nicht ins Gesicht, man sagt „Guten Tag“ und geht fair miteinander um. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu“, lautet die sogenannte „Goldene Regel“, die in vielen Kulturen Geltung hat. So gibt es für den Alltag Verhaltensregeln. Über diese Handlungsweisen kann man nachdenken und fragen, warum wir so handeln und nicht anders. Die Ethik ist der philosophisch-theologische Bereich, in dem darüber nachgedacht wird. Ethik ist die wissenschaftliche Reflexion auf gelebte Moral, so eine Kurzdefinition.

      In jeder Ethik steckt eine bestimmte Auffassung vom Menschen. Wenn von Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen die Rede ist, hängt dies mit einem bestimmten Menschenbild zusammen. Wenn von Nächstenliebe oder Feindesliebe gesprochen wird und davon, auch dem Armen, Bedürftigen und in Not Geratenen zu helfen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Alter –, hat dies ebenfalls mit einem bestimmten Menschenbild zu tun. Auch der von Immanuel Kant (1724 – 1804) entwickelte „kategorische Imperativ“ mit dem Begriff der Menschenwürde hat ein solches Menschenbild im Hintergrund. Kant war der Meinung, dass eine Ethik universal gültig sein müsse und nicht haltmachen dürfe bei der eigenen Bevölkerung, Nationalität oder Religion.

      Vor allem zwei Begriffe sind im Kontext von Ethik bedeutsam: Ethos und Aethos. Ethos ist die Sitte und bezeichnet eher das, was Gesellschaften betrifft und durch Normen sowie Gesetze zu regeln ist. Aethos wiederum meint den Charakter des Menschen. Hier geht es um innere Haltungen. Der Charakter bildet sich durch das tägliche Handeln: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, ein Charakter sich im Strom der Welt“,7 heißt es bei Goethe. Ein gerechter Mensch wird man, indem man immer wieder gerecht handelt, hat schon Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) sinngemäß formuliert. Diese inneren Haltungen werden auch als Tugenden bezeichnet. Tugend ist ein etwas veraltetes Wort, es hat mit Tauglichkeit zu tun. Ethik soll für das eigene Leben taugen, aber auch für das der anderen und der Gemeinschaft. Ethik ist für den Menschen da, damit sein Leben gelingt, aber auch für Gesellschaften, damit sie funktionieren. So gibt es philosophische Ethiken, die rein mit der Vernunft erarbeitet werden können, und theologische Ethiken, die religiöse Hintergründe mitberücksichtigen.

      Ethik vollzieht sich im Alltag. Die Entscheidung, dieses Buch zu lesen, ist auch eine ethische Entscheidung. Wenn ein Anruf käme, dass ein geliebter Mensch im Sterben läge, würde wahrscheinlich jeder das Buch beiseitelegen und dorthin eilen. Wenn etwas