Aborigines Gestern und Heute. Sabine Koch

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Название Aborigines Gestern und Heute
Автор произведения Sabine Koch
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783944921372



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kannten die Aborigines nicht. Die Gruppe der alten Männer, zu denen man meist mit Beginn der Grauhaarigkeit gehörte, bestimmte in einer Zeremonie die Nachfolger der „Ältesten“ („elders“). Die Ernennung erfolgte dabei unabhängig von besonderer Leistung, sondern eher aus verwandtschaftlichen oder machtpolitischen Gründen.

      Die Ältesten wurden von allen Stammesmitgliedern verehrt. Sie übernahmen die Führung des Stammes, bestimmten Gesetze und trafen gemeinsam Entscheidungen. In ihnen ruhte das gesamte Wissen über die Traditionen und Rituale des Clans, denn es gab keine Schriftsprache. Ihr Wissen gaben die Ältesten in Form von Geschichten („storytelling“) an die jüngere Generation weiter. Auch Geschehnisse wurden so von Generation zu Generation weitererzählt.

      Ältere Frauen genossen ebensolchen Respekt und konnten durchaus viel Macht und Einfluss haben. Auch heute gibt es in den Aboriginal Communities noch die Ältesten. Die jungen Leute erweisen ihnen immer noch großen Respekt, jedoch mit abnehmender Tendenz.

      Das Verwandtschaftssystem der Aborigines unterscheidet sich grundlegend von westlichen Kulturen. In Europa kennen wir das „Eskimo-System“: die Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern. Bei den Aborigines ist das „Iroquois-System“ verbreitet: Alle Schwestern der Mutter werden ebenfalls als Mütter bezeichnet, alle Brüder des Vaters gelten als Väter. Die Kinder des Bruders des Vaters und die Kinder der Schwester der Mutter sind damit ebenfalls Brüder und Schwestern.

      Als „Onkel“ und „Tante“ wird man nur bezeichnet, wenn das Geschlecht in der Elterngeneration wechselt. Es gibt also nur auf der mütterlichen Seite Onkel und nur auf der väterlichen Seite Tanten, und nur die Kinder der bezeichneten Onkels und Tanten gelten als Cousins und Cousinen. Dieses System spielt für Eheschließungen eine wichtige Rolle, denn nur Cousins und Cousinen dürfen untereinander heiraten. Solche „Kreuzcousinen-Heiraten“ kennen auch andere Kulturen.

      Familie ist traditionell wichtiger als der Einzelne. An der Tankstelle in Billiluna

      Fremde aus anderen Stämmen können einfach aufgenommen und in das Verwandtschaftssystem eingegliedert werden (etwa durch Heirat), es wird nicht nach Blutsverwandtschaft unterschieden. Jedes Stammesmitglied ist in diesem System mit allen anderen verwandt.

      Für Heiratsregeln, aber auch für Rituale ist jedoch die folgende Unterscheidung wichtig: Die Angehörigen eines Stammes werden in zwei Gruppen oder Hälften („Moieties“) eingeteilt. Nur jemand aus der anderen „Moiety“ oder aus einem anderen Stamm darf geheiratet werden. Die Frau spricht immer eine andere Sprache als der Mann. Die Kinder erlernen zuerst die Sprache der Mutter, später die des Vaters.

      Zusätzlich werden die „Moieties“ in „skin groups“ unterteilt (ein anthropologischer Begriff, der nichts mit der Hautfarbe zu tun hat). Jedes Stammesmitglied bekommt bei seiner Geburt zusätzlich den Namen der „skin group“, zu der es gehört. Manche Aborigine-Stämme haben sechs oder acht „skin groups“, die meisten jedoch vier (zwei pro „Moiety“).

      Neben der Einordnung in das Verwandtschaftssystem bekam jeder Aborigine während der Initiation sein Totem zugesprochen. Dies konnte ein Tier, eine Pflanze oder ein unbelebter Teil der Landschaft (ein Felsen oder ein Stein) sein. Wer von diesem speziellen Totem abstammte, für den war es dann wie ein Schutzgeist. Hatte jemand beispielsweise ein Krokodil als Totem, durfte er diese Tiere nicht töten und auch kein Krokodilfleisch essen. War das Totem eine essbare Pflanze, trug der Totemträger die Verantwortung dafür, dass diese als Nahrung für den Clan verfügbar war.

      In diesem ausgeklügelten Verwandtschaftssystem spielt jedes Stammesmitglied eine bestimmte Rolle, die mit bestimmten Aufgaben und Rechten verbunden ist; etwa, wer welche Rituale durchführen und wer daran teilnehmen darf. Es gelten strenge Verhaltensregeln gegenüber den Mitgliedern der Familie: Zum Beispiel darf ein Mann nicht direkt seine Schwiegermutter ansprechen, die Kommunikation erfolgt immer über eine dritte Person.

      Im täglichen Leben der Aborigines trugen die praktischen Auswirkungen dieses Verwandtschaftssystems zum Überleben als kleine Gruppe bei. So passten beispielsweise einige Frauen auf alle Kinder auf, während die anderen sich um die Nahrungssuche kümmern konnten.

      Mit zunehmendem Alter der Mädchen kümmerten sich ausschließlich die Frauen um sie und brachten ihnen alles bei, was sie über Schwangerschaft und Geburt wissen mussten. Weil Mädchen auf natürliche Weise durch die Menstruation zur Frau werden, hatten die meisten Stämme kein besonderes Ritual, um sie als erwachsen zu erklären. Nach der ersten Menstruation waren Mädchen heiratsfähig. Meist wurden sie schon bei der Geburt einem Mann versprochen.

      Die Initiation der Jungen verlief bei den meisten Stämmen in drei Phasen über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Die einzelnen Phasen konnten mehrere Wochen andauern und beinhalteten bestimmte Rituale. Im Alter von zehn bis zwölf Jahren wurden die Jungen zunächst von der Welt der Frauen und Kinder getrennt. Zusammen mit den Männern zogen sie einige Wochen, den „songlines“ folgend, durch ihr angestammtes Land und erlernten unter anderem die Fertigkeiten des Jagens. Dieses Umherziehen wird als „walkabout“ bezeichnet.

      Mit der Beschneidung des Geschlechtsorgans war die Einführung in die Welt der Männer vollzogen. Dem wiedergeborenen jungen Mann wurde eine Frau versprochen und er erwarb die Fähigkeit, Vater zu werden. Zur Erkennung der heiratsfähigen jungen Erwachsenen (Männer wie Frauen) wurden ihnen in dieser zweiten Initiationsphase Narben (meist mehrere einfache Linien) auf Schultern, Brust oder Bauch beigebracht (die sogenannte Skarifizierung). Bei den Stämmen an der Küste entfernte man einen der vorderen Schneidezähne.

      In der letzten Phase wurden schließlich geheime religiöse Geschichten aus der Traumzeit an die jüngere Generation weitergegeben. Frauen waren der Zutritt zu diesen Zeremonien und das Wissen über die Rituale streng verboten.

      Die Initiationszeremonien wurden oft gemeinsam von benachbarten Stämmen auf einem heiligen Platz durchgeführt. Diese Zusammenkünfte waren große soziale Ereignisse für alle Stammesmitglieder und dauerten oft mehrere Wochen. In den abgelegenen Communities finden auch heute noch regelmäßig Initiationszeremonien statt.

      Nur in wenigen, sehr abgelegenen Gegenden (vor allem im Northern Territory) ist die traditionelle Religion der Aborigines noch präsent und wird regelmäßig in Zeremonien gepflegt. Dennoch nehmen 70 Prozent der Aborigine-Kinder zwischen drei und 14 Jahren und 63 Prozent der Erwachsenen an kulturellen Veranstaltungen und Zeremonien teil.

      Obwohl die christlichen Missionsstationen zu Beginn kaum erfolgreich waren, gehören heute 73 Prozent der Aborigines einer christlichen Konfession an. Etwa ein Viertel gibt keine Zugehörigkeit zu einem Glauben an; nur noch ein Prozent bekennt sich zur traditionellen Religion.

      Anfangs waren in den meisten Missionen traditionelle Glaubenspraktiken der Aborigines streng verboten, es wurde eine totale Abkehr vom alten Glauben verlangt. In neuerer Zeit haben sich aber viele Kirchen geöffnet und unterstützen sogar traditionelle Gesänge oder Tänze während des Gottesdienstes. Unter den Aborigine-Christen gibt es solche, die sich ganz vom traditionellen Glauben losgesagt haben, nicht mehr an Ritualen teilnehmen und bei ihren Kindern auch nicht mehr die Initiation durchführen lassen. Andere vermischen den christlichen Glauben mit spirituellen Elementen aus ihrer