Selbstorganisierte Teams führen. Siegfried Kaltenecker

Читать онлайн.
Название Selbstorganisierte Teams führen
Автор произведения Siegfried Kaltenecker
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783969105344



Скачать книгу

Herausforderungen reagieren wollen oder nicht. Kontinuierlicher Wandel ist stattdessen zum Pflichtprogramm geworden. Am Status quo festhalten zu wollen gleicht dem Versuch, die Blätter das ganze Jahr über an den Bäumen zu halten. Damit eine Organisation erfolgreich sein kann, muss sie sich adäquat mit den Risiken und Chancen auseinandersetzen, die jeder Wandel mit sich bringt. Anders gesagt, die Organisation muss mit den aktuellen Umweltanforderungen mithalten können oder diesen idealerweise sogar einen Schritt voraus sein. Dumm nur, dass sich diese Umwelt sehr unberechenbar verhält. Was heute Top ist, kann morgen schon zum Flop mutieren, die gestrige Erfolgsformel kann gleichsam über Nacht zum Hemmschuh für eine erfolgreiche Zukunft werden.

      Auf diese Weise wird Business Agility zum neuen Mantra für das Management des 21. Jahrhunderts. Laufende Verbesserung und Innovation sind das Standardmenü für alle erfolgshungrigen Unternehmen. Vorhandene Chancen müssen genützt, zusätzliche Möglichkeiten entdeckt und Wettbewerbsvorteile rasch in bare Münze verwandelt werden.

      Selbstorganisierte Teams scheinen dafür eine Art von Zaubertrank zu bieten. Immerhin wird ihnen nachgesagt, dass sie

       bessere Ergebnisse erzielen als traditionell geführte Teams,

       mehr Geschäftswert schaffen,

       besser zusammenarbeiten als zentral geführte Gruppen,

       schneller lernen,

       mit mehr Motivation und Spaß arbeiten und

       für die Mitarbeitenden persönlich befriedigender sind [Rico et al. 2009].

      Viele Manager, die ihre Erfolgsfantasien auf selbstorganisierte Teams projizieren, teilen jedoch einen entscheidenden blinden Fleck: Selbstorganisation hat nämlich ebenso viel mit ihnen selbst wie mit dem Team zu tun. Schließlich ist der Wunsch nach mehr Agilität auch der Dysfunktionalität der traditionellen Managementsysteme geschuldet [Kaltenecker 2021]. Erdrückende Bürokratie, Kontrollverfahren, die viele Verbesserungsinitiativen im Keim ersticken, und die oft leeren Rituale des Anweisens und Kontrollierens sind markante Symptome dieser Dysfunktionalität.

       Agile Don Quijotes

      Die Einführung von Lean- und/oder agilen Prinzipien gleicht mitunter dem berühmten Kampf gegen Windmühlen. Ein besonders markantes Beispiel dafür lieferte ein Energiekonzern, der ein ambitioniertes Softwareentwicklungsteam an den Rand des Wahnsinns trieb. Denn obwohl dieses Team offiziell grünes Licht für die Einführung von Scrum erhielt, wurde an den traditionellen Eckpfeilern nicht gerüttelt. Das hierarchische Reporting blieb ebenso unverändert wie die Steuerungsstruktur. So gab es zwar Zwei-Wochen-Sprints, die Arbeitsabläufe sahen jedoch dem Wasserfallansatz zum Verwechseln ähnlich. Cross-Funktionalität bestand primär auf dem Papier, Kollokation war nur temporär möglich, zudem wurden einige Spezialisten immer wieder für andere Projekte abgezogen. Der Scrum Master fühlte sich beharrlich vom Projektmanager übergangen, der seinerseits mit einer kontrollorientierten Programmmanagerin zu kämpfen hatte. Und vom Kunden war sowieso nichts zu sehen, da dieser aus, wie es hieß, »strategischen Gründen« nicht eingebunden werden durfte. Wen wundert es, dass die vermeintlichen Pioniere in Sachen Agilität im Handumdrehen zu Don Quijotes wurden?

      Ein paar Zahlen gefällig? Dem Engagement Index 2020 von Gallup zufolge fühlen nur 17%, also etwa einer von fünf Mitarbeitenden, eine hohe emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber. Allein in Deutschland haben hochgerechnet fast 6 Millionen Beschäftigte innerlich gekündigt, was zu einem geschätzten volkswirtschaftlichen Schaden von ca. 100 Milliarden Euro führt [Gallup 2020]. Zudem ist eine wachsende Veränderungsmüdigkeit festzustellen, die vor allem durch die Tatsache genährt wird, dass nur wenige Veränderungsinitiativen die angestrebten Ziele auch erreichen. Viele Teams begegnen solchen Initiativen mittlerweile mit einer ausgeprägten »nicht schon wieder!«-Haltung. Es liegen zwar keine verlässlichen Zahlen vor, aber die meisten einschlägigen Studien gehen davon aus, dass zwischen 60% und 80% aller Veränderungsprojekte scheitern.

      Es gibt eine Menge Gründe für diese deprimierende Scheiterrate: zu viele parallele Veränderungsinitiativen, ein schwaches Veränderungsmanagement, fehlende Feedbackschleifen und nicht zuletzt die zwanghafte Vorstellung, dass erfolgreicher Wandel durch detaillierte Projektpläne sichergestellt werden kann. Die turbulente Entwicklung rund um uns spottet jedem Versuch Hohn, dieser mittels klassischer Planungs- und Kontrolltools Herr zu werden. Wie das Meg Wheatley einmal so schön ausgedrückt hat: »Wir sollten uns allmählich eingestehen, dass wir diese neue Welt niemals mit unseren alten Landkarten bewältigen können« [Wheatley 2006, S. 87].

      Tabelle 1–1 fasst die Organisationsparadigmen des 20. und 21. Jahrhunderts pointiert zusammen:

21. Jahrhundert
Organisationen als Funktionssilos Organisationen als komplexe soziale Systeme
Vorhersagbare Ursache-Wirkungs-Relationen Komplexe Beziehungsnetze
Zentrale Koordination und Kontrolle Dezentrale Prozesse der Selbststeuerung
Schwerfällige Hierarchien und Bürokratien Schlanke Netzwerke
Hoch spezialisierte Abteilungen Interdisziplinäre Teams
Veränderung ist projektbezogen und reaktiv Veränderung ist kontinuierlich und proaktiv

       Tab. 1–1 Paradigmen der Organisation

      Die Tabelle markiert zentrale Unterschiede zwischen dem mechanistischen und dem systemischen Denken [Ackoff 1994]. Obwohl sie zu einer gewissen Polarisierung neigt, umreißt sie auch die jeweiligen Anforderungen an effiziente Führung. Denn die beiden Organisationsparadigmen gehen Hand in Hand mit zwei völlig unterschiedlichen Managementmodellen: funktional-spezialisierend versus ganzheitlich; lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge versus chaosaffines Komplexitätsdenken; Administration von Business as usual versus kontinuierliche Erneuerung; Veränderung als Ausnahme versus Wandel als Regelfall.

Image

       Abb. 1–3 Dynamische Vernetzungen von klein auf

      Wir sollten allerdings im Auge behalten, dass selbstorganisierte Teams nicht nur eine Sache effektiver Zusammenarbeit sind. Heutzutage verlangen viele Wissensarbeiter nämlich selbst einen hohen Grad an Autonomie. Sie wollen selbstständig denken und handeln, statt bloß Instruktionen zu folgen. Und sie wollen lieber in Teams als alleine arbeiten. Schenkt man diversen Trendscouts Glauben, möchten die Millenials mit Spaß bei einer Sache sein, die für sie Sinn macht. Dazu gehört auch die Transparenz, inwiefern ihre Leistung zum Gesamterfolg des Unternehmens beiträgt. Hoch qualifizierte Wissensarbeiterinnen werden, so die Scouts, in Zukunft noch stärker auf Rahmenbedingungen achten, die gute Arbeit und ihre eigene Weiterentwicklung fördern. Und sie werden Unternehmen bevorzugen, deren Kultur zu ihrem Selbstwertgefühl passt [Viljakainen & Müller-Eberstein 2012].

      Was bedeutet das alles für das Management? Kurzum, die früheren Verwalter standardisierter Geschäftsprozesse sind herausgefordert, das richtige organisatorische Umfeld für Hochleistungsteams zu gestalten. Dazu sind, wie ich noch genauer zeigen werde, bestimmte Fähigkeiten vonnöten, die zum Teil weit über die traditionellen Kompetenzprofile hinausgehen. Freilich sind die Prinzipien des mechanistischen Paradigmas vielerorts immer noch in Kraft. Sie sorgen dafür, dass in zahlreichen Organisationen überholte Managementpraktiken nach wie vor gang und