Selbstorganisierte Teams führen. Siegfried Kaltenecker

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Название Selbstorganisierte Teams führen
Автор произведения Siegfried Kaltenecker
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783969105344



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Sternstunden der Fußballphilosophie

      Hier einige der Klassiker in Sachen »Redet nicht – spielt lieber!«, »Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär« (Hans Krankl), »Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien!« (Andreas Möller), »Ich hab ihn nur ganz leicht retuschiert« (Olaf Thon), »Der Kunstrasen verkürzt sicher die Lebensdauer eines Fußballers« (Walter Schachner), »Der Grund war nicht die Ursache, sondern der Auslöser« (Franz Beckenbauer), »Ich hatte vom Feeling her ein gutes Gefühl« (Lothar Matthäus), »Die Pfeife des Schiedsrichters blieb taub« (Hubert Baumgartner) oder »Die Situation ist aussichtslos, aber nicht kritisch« (Stefan Effenberg).

      Eine Gemeinsamkeit sehe ich auch darin, dass Fußball wie Business grundsätzlich wertgetrieben sind. Worauf wird am meisten Wert gelegt, wenn ein Team zusammengestellt wird? Nach welchen Kriterien werden Spieler ausgewählt oder gewechselt? Nach welchen Regeln wird Leistung erbracht?

      Die Kraft eines Teams korreliert hier wie da mit der Qualität der Entscheidungsfindung. Wo laufen wir hin? Wohin spielen wir den nächsten Pass? Wann greifen wir an und wann ist verteidigen angesagt? Wie gezeigt, wird das Zusammenspiel jedes Teams durch die Unterschiedlichkeit der Spielerinnen und deren Austausch geprägt. Im Fußball wie im Geschäftsleben wird der Erfolg durch die produktive Vernetzung bestimmt. Es ist eben nicht die Summe einzelner Laufund Passaktivitäten, die am Ende des Tages zählt, sondern das Produkt des gesamten Zusammenspiels.

      In beiden Systemen spielt die Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Führung als Teamsport ist untrennbar mit der Fähigkeit verbunden, einen gemeinsamen Fokus zu setzen, die Aufmerksamkeit auf ein Ziel auszurichten und diese Ausrichtung mittels kurzschleifigem Feedback regelmäßig zu prüfen und gegebenenfalls zu adaptieren. Wenn sich ein Team nicht einigen kann, worauf es sich gemeinsam konzentriert, ist auch die Entscheidungsfindung schwer. In solchen Fällen erinnert die Teamarbeit eher an Monty Pythons famosen Sketch »100-Meter-Lauf für Leute ohne Orientierungssinn«, in dem alle nach dem Startschuss in verschiedene Richtungen loslaufen.

      Schließlich ist es weder im Fußball noch im Business möglich, sich an einen vorweg definierten Plan zu halten. Zwar gibt es immer eine bestimmte Aufstellung, bevor das Spiel beginnt, eine ausgewählte Taktik und das übergeordnete Ziel, neben dem einzelnen Spiel auch die gesamte Meisterschaft im Blick zu halten. Aber von der ersten Minute an muss sich jede Spielerin auf die tatsächliche Situation einstellen und dabei zuweilen der ursprünglichen Taktik zuwider handeln. Das Team muss selbst unerwartete Situationen identifizieren und angemessen darauf reagieren – ob das nun ein frühes Gegentor im Fußball oder eine neue Kundenanforderung im Business ist. Kurzum: Das ganze Team muss danach trachten, das angedachte Vorgehen über ein rasches inspect and adapt mit der aktuellen Situation abzugleichen und notwendige Verbesserungen vorzunehmen.

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       Abb. 1–6 Geordnetes Fußballsystem

       1.3.2Verteilte Führung

      Diese Analogien passen gut zur aktuellen Debatte, die Führung als amorphes, von einem dynamischen Beziehungsgeflecht geprägtes Phänomen definiert. Heutzutage wagen es nur mehr wenig Theoretikerinnen, den Einfluss komplexer Netzwerke zu ignorieren, die für den Teamerfolg maßgeblich sind.

      Unter diesem Blickwinkel können wir Führung nicht mehr länger als Privileg einzelner Rollenträger sehen. Stattdessen müssen wir diese Leistung als systemische Kompetenz veranschlagen, zu der viele Leute beitragen müssen. Es liegt auf der Hand, dass ein offener Zugang zu entscheidungsrelevanten Informationen sowie transparente Arbeitsprozesse dafür wesentlich sind. Führung sollte nicht als statische Rolle, sondern als Interaktion verstanden werden. In unterschiedlichen Situationen braucht es eben unterschiedliche Interaktionen in unterschiedlichen Bereichen, um sinngemäß in Führung zu gehen. Deswegen gilt es, auf die vorherrschenden Verhaltensmuster zu achten und nicht auf Jobtitel oder Rollenbeschreibungen, wenn man die Teamführung verbessern will. Führung ist ein Prozess, ein »sozialer Fluss des Zusammenspiels und der Vernetzung« [Crevani et al. 2010, S. 79]. Dementsprechend lässt sich Führungskompetenz nicht auf einen individuellen Manager zentrieren, dem dann außergewöhnliche Charaktereigenschaften wie Charisma oder Authentizität zugeschrieben werden. Angesichts der komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts braucht es vielmehr eine möglichst gut verteilte Führungsverantwortung – wie sie eben für selbstorganisierte Teams typisch ist.

       High Performance Teams

      Es ist kein Geheimnis, dass Lean- und agile Methoden wie Scrum, XP oder Kanban verteilte Verantwortung fördern. Führung als Teamsport bedeutet dann, jedem die Möglichkeit zu geben, das gesamte System mit zu steuern. Das trägt für gewöhnlich zur Motivation der Teamspielerinnen bei – und führt mitunter dazu, dass diese Spielerinnen über sich selbst hinauswachsen.

      Obwohl ich die Idee permanenter Höchstleistung im Sport wie im Business für einen Mythos halte, bin ich immer wieder beeindruckt, welche Kräfte in bestimmten Situationen mobilisiert werden. Wird Selbstorganisation konsequent gefördert, erhalten Teams das nötige Vertrauen und die ebenso notwendige Unterstützung, lässt man die volle Ergebnisverantwortung bei den Fachexperten – dann profitiert das Unternehmen gerade in erfolgskritischen Situationen von deren Einsatzbereitschaft. Bevorstehende Produktreleases, der Launch eines neuen Systems oder die Expressbearbeitung schwerwiegender Kundenprobleme sind den Leuten selbst so wichtig, dass sie sich dafür besonders engagieren.

      Freilich dürfen Sonder-Taskforces, Überstunden oder gar Nachteinsätze nicht zur Regel werden – man darf sie aber getrost als profitabler Return des Investments in Autonomie und Selbstorganisation veranschlagen.

      Der konzeptuelle Wandel von Führung als Positionsmacht hin zu Führung als Systemeigenschaft geht mit einer anderen Verschiebung einher: nämlich weg vom zentralisierten Management von Leuten und Aktivitäten hin zum gemeinsamen Design von Arbeitsflüssen. An die Stelle des privilegierten Regisseurs tritt ein Kollektiv, das sich Ergebnispflichten und Entscheidungsrechte gleichermaßen teilt. Mit anderen Worten: Das Spiel wird nicht mehr länger von einem, sondern von allen gemacht.

      Dieses Konzept deckt sich mit den Erfahrungen jener Praktikerinnen und Praktiker, die wir einst für Erfolgreiche Führung in der Agilen Welt interviewt haben [Kaltenecker et al. 2011]. Über diverse Unternehmen und Kontexte hinweg wurde die fach- wie hierarchieübergreifende Zusammenarbeit als entscheidender Wettbewerbsvorteil genannt. Führungskraft entsteht, so der Tenor, aus dem Zusammenwirken verschiedenster Spezialistinnen und nicht aus dem Willen einzelner Managerinnen.

      Die Aussagen der befragten Praktiker passen nahtlos in die Diskussion um Führung als Systemeigenschaft. Spätestens mit der Veröffentlichung The Wisdom of Teams von Jon Katzenbach und Douglas Smith wurde verteilte Führung zum gängigen Begriff. Die Autoren heben damit hervor, dass alle Teammitglieder

       Verantwortung für den Gesamterfolg wie für die eigene Entwicklung übernehmen,

       gemeinsam Ergebnisse erzielen,

       Entscheidungsautorität dorthin verteilen, wo in der jeweiligen Situation die größte technische und/oder soziale Kompetenz vorhanden ist,

       netzwerkartige Kommunikationswege etablieren,

       die Zustimmung zu richtungsweisenden Entscheidungen ins Zentrum rücken,

       die bestehenden Arbeitsprozesse immer wieder kritisch untersuchen und wenn nötig verändern und

       die Qualität der Zusammenarbeit regelmäßig auf den Prüfstand stellen [Katzenbach & Smith 1993].

      Mit seinem Konzept einer leaderful practice geht Joseph Raelin sogar noch einen Schritt weiter. Dafür definiert er zeitgemäße Führung über vier Qualitäten: erstens die Gleichzeitigkeit im Sinne vieler paralleler Führungsakte, zweitens die Kollektivität im Sinne gemeinsamer Verantwortung, drittens die Kooperativität im Sinne intensiver Zusammenarbeit und viertens