1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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nun einmal den guten Politiker aus, dass du immer nur an deine Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme denkst. Albert und ich sind da wohl doch noch etwas mehr Männer der Wirtschaft, um zuvörderst die Folgen für die Welt der Arbeit zu erblicken, falls es zur Revolution in Deutschland kommen sollte. Aber ich gebe euch unter den aktuellen Umständen unumwunden Recht: Die Verhältnisse sind ganz besondere. Und weil das so ist, erfordern sie ebenfalls sehr besondere Handlungen. Ich habe deshalb auch etwas unternommen, dass ich mir nur eine Woche zuvor wohl kaum zugetraut hätte.”

      Walther Rathenau lehnt sich in dem bequemen, dick gepolsterten Strohsessel zurück und lächelt uns ein wenig herausfordernd an.

      „Ihr kommt einfach nicht darauf, wen ich gestern Mittag angerufen habe.”

      Walther lässt die Stille einige Sekunden im Raum stehen, und uns regelrecht vor Spannung schmoren. Doch ich bleibe ganz ruhig, und still. Auch Albert strahlt völlige Ruhe aus, obgleich das Leuchten in seinen Augen mir die Spannung verrät, unter der er steht.

      „Na schön, meine Freunde. Ihr seid richtige Spielverderber, dass ich euch so wenig aus der Reserve zu locken vermag. Ich habe bei einem prominenten Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion angerufen.”

      „Nein! Das kann doch nicht wahr sein.” So entfährt es mir vor Überraschung.

      „Wer war es denn und was wolltest du von ihm?”

      „Na, jetzt habe ich euch aber doch neugierig gemacht, nicht wahr? Selbst der stets sehr beherrschte Albert kann seine Neugierde kaum verbergen. Tja, ich habe mit Scheidemann gesprochen.”

      „Ausgerechnet der, der unseren Kaiser vor dem Krieg gleich mehrmals im Reichstag auf derart unverschämte Weise beleidigt hat!”

      Albert Ballin vermag aus seiner Geringschätzung der Person Philipp Scheidemanns, des Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion, keinen Hehl zu machen. Doch das ruft nur erneut Walther auf den Plan.

      „Das habe ich mir schon gedacht, lieber Albert, dass du von Scheidemann nichts wissen willst. Aber ich habe mal gedacht wie ein Politiker, und ich glaube, unser Freund Gustav wird mir gleich recht geben müssen:

      Philipp Scheidemann ist neben dem Parteivorsitzenden Ebert allen verbalen Attaken der Vergangenheit zum Trotz der Mann der Zukunft innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Er kann nicht nur reden, er hat das nötige pragmatische Gespür für die Notwendigkeiten der Situation. Er hat ferner den nötigen Ernst, um die durchaus prekäre Lage zu erkennen, in welcher Reich und Monarchie sich befinden. - Und ich habe ihn angerufen, weil ich darauf vertraue, dass Scheidemann allen Vorwürfen vom vaterlandslosen Gesellen zum Trotz doch der Mann ist, der als deutscher Patriot in der Stunde der Not zum Reich steht und bereit ist, die von ihm geführte Arbeiterschaft in der nun beginnenden Entscheidungsphase des Krieges vollends in den Dienst der Nation zu stellen. - Aber das gilt sehr wohl nur dann, wenn hier ein Handel auf Gegenseitigkeit gelingt. Kannst du dir vorstellen, was Scheidemann verlangt, lieber Gustav?”

      Ich bin tief in die Polster meines Sessels gesunken und starre Walther mit offenkundigem Erstaunen im Gesicht an. Das hindert mich allerdings nicht daran, den Ausführungen Rathenaus zu folgen und insgeheim blitzschnelle Auswertungen vorzunehmen.

      „Scheidemann hat sich im Jahr 14 für die Bewilligung der Kriegskredite eingesetzt. Ich kann mir vorstellen, dass er seinen Beitrag dazu leisten würde, den Krieg von nun an für das Reich zu gewinnen. Ich habe auch eine persönliche Vermutung, dass es ihm neben der höchst bescheidenen Lebensmittelversorgung um etwas anderes, größeres für die Gestaltung der Nachkriegszeit geht. Machtvolle Entscheidungen, zum Beispiel über die öffentlichen Finanzen, fallen gar nicht im Reichstag, sondern im Preußischen Abgeordnetenhaus. Ein Staat, der zwei Drittel aller Bürger, der Wirtschaftskraft und aller Steuern des Reiches stellt, wird auch in Zukunft so mächtig sein, dass die Sozialdemokratie auf respektablen Einfluss dort drängen muss. Und was finden wir dann vor? Das preußische Dreiklassenwahlrecht. Selbst wenn alle Arbeiter die SPD wählten, käme die Partei realistisch betrachtet auf weniger als 30 Prozent der Mandate im Abgeordnetenhaus. Denn ein Arbeiterlohn reicht einfach nicht aus, um in der zweiten Steuerklasse wählen zu dürfen. Das ist für Ebert und Scheidemann unter keinen Umständen akzeptabel.”

      „So ist es, Gustav. Ich habe Scheidemann gerade heraus gefragt: Was verlangen sie von Adel und Bürgertum, von den herrschenden Eliten in Deutschland, damit der deutsche Arbeiter weiter kämpft und arbeitet, damit unser Reich den Krieg zumindest im Osten gewinnt und einen ehrenvollen Frieden erlangt? Seine Antwort folgte wie aus der Pistole geschossen: Das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Preußen natürlich.”

      Nachdenklich sitzt Albert Ballin in seinem Sessel.

      „Wäre das wohl das Ende der Hohenzollern-Monarchie? Oder aber wäre es ganz im Gegenteil die Grundlage dafür, die Russen zum Frieden zu zwingen und die Westmächte daraufhin zu überzeugen, dass sie gegen uns nicht mehr zu gewinnen vermögen? Ich weiß es nicht! Aber ich gebe euch natürlich recht, dass wir uns diese Frage schonungslos stellen müssen. Und Walther hat deshalb sicher auch recht, wenn er auf die Sozialdemokraten zugeht und sie einfach mal fragt: Wie geht es denn jetzt weiter?”

      „Da sind wir am springenden Punkt angelangt, lieber Albert. Dürfte ich darauf vertrauen, dass Gustav oder sein Parteifreund Bassermann für die Nationalliberalen und dann am besten auch ebenso das Zentrum auf die SPD zugingen und dort meine Frage anbrächten, ja dann hätte ich nicht gefragt. Dass der Reichskanzler selbstverständlich eine solche Sondierung nicht durchführen darf, ohne sein Amt zu verspielen, versteht sich von selbst. Habe ich nicht recht, Gustav?”

      Ich fühle mich von Walther Rathenaus Erwartung, dass auch ich auf die SPD zugehen müsse, einigermaßen überrollt. Ich brauche einige Sekunden, um mich zu fassen. Das gelingt am besten mit einem genüsslichen Schluck Bohnenkaffee, der mir eine kleine Verschnaufpause verschafft.

      „Die Ereignisse in Petersburg sind auch für mich noch all zu frisch, um schon heute mittels spontaner, vielleicht nicht ganz zu Ende gedachter politischer Aktionen tätig zu werden. Ich bin sicher, dass unser Freund Walther zunächst einmal der Schnellste war, im Denken wie im Entschluss zum Handeln. Halt ein wahrer Mensch der Tat! Es könnte sich tatsächlich als richtig erweisen, dass wir neue Wege beschreiten müssen, um die Stabilität des Reiches im Inneren durch ganz neuartige Maßnahmen zu bewahren. Wenn die russischen Arbeiter den Zaren davonjagen und nach Frieden verlangen, dann dürften nicht wenige deutsche Arbeiter rufen: Tun wir es ihnen gleich! Das ist internationale Solidarität der Arbeiterklasse und zugleich wird dann an einer unserer Fronten schon nicht mehr gekämpft und gestorben. Das müssen wir natürlich verhindern! In einem solchen Fall wären nicht allein all unsere großen Kriegsziele im Osten verloren. Ebenfalls stünden wir dem Westen gegenüber einigermaßen hilf- und machtlos dar, sobald auch nur die Möglichkeit bestünde, dass die ruhmreiche preußische Armee nicht mehr ohne Zweifel hinter Seiner Majestät, dem Kaiser, stehe.”

      „Wenn die von Walther soeben herauf beschworene Gefahr jedoch einen wahren Gehalt hat, lieber junger Freund Gustav, dann hätte Walther selbstverständlich auch mit seiner Schlussfolgerung vollständig Recht: Dann müssten wir Arbeitgeber und mit uns die Regierung den Sozialdemokraten und ihren Gewerkschaften erklären: Wir stellen die deutsche Gesellschaft zukünftig auf eine neue Grundlage. Adel, Bürger und Arbeiter sind gleicher maßen die Stützen. Adel, Bürger und Arbeiter dürfen daher in Zukunft auch als gleichberechtigte Staatsbürger wählen und Gerechtigkeit erwarten.” Trotz aller messerscharfen Nüchternheit und Konsequenz seiner Worte blickt Albert Ballin dabei ungläubig drein. Zu unfassbar erscheint ihm wohl weiterhin die Vorstellung, aus den „Staatsfeinden” der Sozialdemokratie zukünftig ehrbare Partner und Verbündete der etablierten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten des Deutschen Reiches zu machen. Ich spüre die Spannung, die im Raum liegt, eine Spannung, die aus der ungeheuerlichen Tragweite der eben gesprochenen Worte entspringt. Ich möchte diese Betroffenheit bei Albert überwinden und weiß, dass dies nur gelingen kann mit Walthers Hilfe, der die Lage weniger emotional betrachtet. An Nüchternheit indes scheint es meinen beiden Gesprächspartnern und Freunden nicht zu mangeln.

      „Na, was hat der tolle Reichstagsabgeordneter Philipp Scheidemann denn nun genau gesagt, als du mit ihm gestern telefoniert