1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

Читать онлайн.
Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



Скачать книгу

Vortrag des Professors hat mich fasziniert, und ebenso ermüdet. Ich spüre schlagartig, wie schwach mein Körper weiterhin ist, wie leicht ich von einer kurzen geistigen Anstrengung erschöpft werde.

      Nun sei es drum, was Friedrich Kraus zu berichten wusste, hört sich in meinen Ohren des vollständigen blutigen medizinischen Laien doch zunächst positiv an: Die Herrschaften Ärzte haben neue Erkenntnisse über meine Krankheit gewonnen. Das wird es ihnen erleichtern, eine Erfolg versprechende Therapie aufzusetzen, wenn es dafür nicht bereits zu spät sein mag. Ach was! Gustav, alter Schwede! Du zählst weiland einmal 51 Jahre. Das ist noch nicht die Zeit, um vor unseren Herrgott zu treten! Aber ich sollte Kraus und seine Bande nicht mit der bisherigen Erklärung so billig davon kommen lassen.

      „Mein verehrter Herr Professor Kraus. Das erfreut mich ungemein, welche Fortschritte die moderne deutsche Medizin nicht nur im Allgemeinen, sondern speziell sogar in meinem Fall macht. Nun bin ich wohl ein Optimist in den Dingen des Lebens. Dessen ungeachtet stellt sich mir medizinisch völlig ungebildetem Nationalökonomen die Frage: Reichen die neuen Einsichten ihrer Wissenschaften in mein Krankheitsbilde denn wohl noch hin, um eine Heilung herbeizuführen, bevor mich das Schicksal auf den Heldenfriedhof rufen werde?”

      „Nun ja, lieber Herr Doktor Stresemann, sollte es sich bei Ihrem Krankheitsbilde um eine Ausprägung der so genannten Basedowschen Erkrankung handeln, dann können wir Folgendes konstatieren. Seit den Forschungen des Leipziger Mediziners Paul Julius Möbius Ende des 19. Jahrhunderts ist nachgewiesen, dass die Fehlfunktion der Schilddrüse die Ursache für eine sogenannte Autoimmunerkrankung darstellt. Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt: Üblicherweise stellt die Schilddrüse Stoffe her, die für die Immunabwehr des Körpers von grundlegender Bedeutung sind. Versagt diese Funktion der Schilddrüse, so sind komplexe Reaktionen des Körpers die Folge. Bis heute vermag die Medizin noch nicht, diese Prozesse allesamt nachzuvollziehen. Und ebenfalls bis heute ist noch keine medikamentöse Therapie entwickelt, die sichere Heilung verspricht. Mit jodiertem Wasser werden regelmäßig gute Erfolge erzielt. Das gilt indes hauptsächlich in solchen Fällen, in denen die Erkrankung erst wenige Monate alt ist und in minder schwerer Form auftritt.”

      Kraus schweigt für einige Sekunden. Mehrere junge Ärzte seiner Visite blicken ein wenig verschämt zur Seite. Sie wollen mir offenbar nicht direkt in die Augen sehen.

      „Und beides können wir in meinem Fall nun nicht konstatieren, nicht wahr Herr Professor?“

      „So ist es, mein lieber Stresemann. Es ist sehr erfrischend, dass sie mir mit ihrer raschen Auffassungsgabe selbst das etwas unangenehme Wort förmlich aus dem Munde nehmen.”

      Kraus lächelt, eher verlegen als überzeugend.

      “Das bedeutet nun aber keineswegs, dass wir ratlos wären, lieber Stresemann. Halten sie zuerst einmal strenge Bettruhe und schonen sie sich. Das wird dem Herzen schon wieder den nötigen Schwung verleihen! Wer weiß, möge es unser Schöpfer fügen, dass auch die Nieren davon erneut bessere Leistungswerte verzeichnen werden.”

      Nach nur wenigen weiteren belanglosen Freundlichkeiten hat Professor Kraus mein Krankenzimmer verlassen. Er ließ es sich natürlich nicht nehmen, die Stationsschwester auf das Ernsthafteste zu ermahnen, sie möge mir bitte jeden Wunsch von den Lippen ablesen und sogleich erfüllen. Ich komme mir vor wie ein Sterbender auf Raten und empfinde das Dasein zum ersten Male seit dem Erwachen heute als frustrierend. Mich überkommt eine merkwürdige Leere. Soll es das jetzt bald gewesen sein? Hat der alte Gustav denn schon genug für den Fortschritt in Europa und für das Bündnis der großen drei germanischen Weltmächte Deutschland, England und Amerika getan während seines Erdendaseins?

      Im nächsten Augenblicke denke ich an Käte. Sie muss verzweifelt sein seit meiner Einweisung in die Charité vor bald drei Tagen. Ich muss gefasst und hoffnungsfroh auf sie wirken, wenn sie gleich erscheint! Kraus sagte doch eben, die Klinik habe bereits nach ihr geschickt. Und unfassbar müde bin ich. Mit einem nur noch mäßig brummenden Schädel lasse ich mich in das weiche Kopfkissen sinken, verschnaufe und falle in einen Erleichterung verschaffenden Schlaf.

      Die Klinke wird vorsichtig, ja sogar sanft heruntergedrückt und die schwere, breite Krankenhaustüre schwingt mit einem leisen Schnappen aus dem Schoss. Davon erwache ich und blicke sofort zum sich öffnenden Türspalt. Käte kommt herein. Sie ist blass, hat Ränder unter den Augen und in den zurückliegenden drei Tagen ganz sicher weder genügend gegessen noch getrunken. Doch sie trägt ihr neues, seidenes Kleid in einem kräftigen Blau, so leuchtend wie der Sommerhimmel über dem Wannsee. Es ist mir immer eine Freude, sie darin zu sehen. Hinter Käte folgen in schlichten, jedoch modernen grauen Anzügen meine beiden Söhne Wolfgang, 25, und Joachim, 21 Jahre alt. Käte lächelt, die Jungens, nein die beiden jungen Männer blicken ernst drein. Käte stürmt auf mich zu, als sie sieht, dass ich erwacht bin, umarmt mich und ruft geradezu aus:

      „Schön, Gustav, dass es dir wieder besser geht! Du bist wach und siehst recht gut aus. Vielleicht noch etwas schwach, aber aufgeweckt, wie der alte.”

      Joachim drückt mir mit seinen beiden Händen feste die Linke.

      „Lieber Papa, Deutschland wartet schon wieder auf deine Genesung. Wir hoffen alle, dass du bald wieder zu Kräften kommst. Wir werden vom Ministerium sehr schön von der Presse abgeschirmt. Aber der Kaiser hat am Tage deines Zusammenbruchs bei Mama höchst persönlich angerufen, und heute schon wieder! Seine Majestät ist sehr besorgt und lässt dir seine allerherzlichsten Grüße zur Genesung ausrichten.”

      Von hinten stellt sich Wolfgang links neben Joachim an das Bett. Er lächelt jetzt, sehr zurückhaltend, wie es so seine Art ist, und dennoch spürbar erleichtert.

      „Lieber Gustav, du musst ganz schnell wieder so fit werden, dass Seine Majestät dich in den nächsten Tagen besuchen kann. Der Kaiser besteht darauf, wie er Mama gesagt hat.”

      Meine Familie! Ich blicke alle drei der Reihe nach in die erschöpften und ein wenig erleichterten Gesichter. Es ist ein großes Glück, so vorbehaltlos gemocht zu werden, so frei von Etikette und Form miteinander umzugehen. Meine geliebte Käte ist die immer warmherzige und besorgte Ehefrau. Joachim ist der impulsivere von beiden Jungs, auch was! Sie sind auf dem besten Wege, Männer zu werden. Wolfgang, der ältere, bleibt dagegen stets der Vernunftmensch, dem Pflichterfüllung als Jurist und preußischer Beamter alles bedeuten, mehr jedenfalls als vordergründig Karriere zu machen dank des klingenden Namens seines Vaters. Wie sträflich habe ich sie alle drei doch in den zurückliegenden zwanzig Jahren vernachlässigt! Und trotzdem sind sie mir so unsagbar nah ans Herz gewachsen. Und trotzdem sind sie mir in den Tiefen ihrer Herzen so innig verbunden geblieben! Es wäre ein Glück, falls es meine Lebensspanne noch hergeben sollte, zum mindesten einen Teil davon wieder gut zu machen, was ich allen Dreien so sehr schuldig geblieben bin: die große Aufmerksamkeit des Gatten und Vaters.

      Was wollen sie jetzt von mir? Gesund werden soll ich! Natürlich. Natürlich will ich das auch. Doch ich spüre, dass ich wohl besser genese, wenn mir zum Mindesten für einige Tage die Ruhe der Erholung bleibt, um Kraft zu schöpfen. - Das heißt sicher nicht, dass ich meinem lieben Wilhelm einen Korb geben dürfte oder auch nur wollte. Wenn es ihm ein inneres Bedürfnis ist, so soll er kommen!

      „Liebe Käte, lieber Wolfgang, lieber Joachim, wie schön das ist, euch hier bei mir zu sehen. Ich bin zwar entkräftet, aber ich bin klar bei Verstand und fühle mich einigermaßen. Zwar schmerzt die Brust. …”

      „Ja das Herz, lieber Gustav. Sei bloß vorsichtig!“

      So unterbricht mich meine Käte.

      „ … doch die Kopfschmerzen lassen beständig nach. Ich hoffe wohl, dass mir nur ein weiteres Mal ein wenig Ruhe fehlt, damit ich dieses Klinikum hier recht bald wieder verlassen darf.”

      Es ist nicht ganz redlich, von den neuen Erkenntnissen des Professors Kraus meiner Familie nicht gleich zu berichten. Doch ich zögere, nein, ich bin mir sicher, dass dies jetzt nur neue Sorgenfalten in Kätes Gesichtszüge treiben würde. Das will ich für heute nicht. Und nichts für ungut, bessere Aussichten auf Heilung hätte ich davon auch nicht gerade, wenn meine Familie sich von nun an das Hirn über den Zustand meiner Nieren oder gar meiner Schilddrüse zermartern würde.