1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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war sein Parteivorsitzender Friedrich Ebert wohl ein genau so bedeutender Rückhalt wie mein noch Parteivorsitzender Ernst Bassermann für mich. Dieser gute alte Freund, so gebrechlich er in seinen letzten Lebensmonaten bis zum Juli 1917 auch wurde, so uneingeschränkt hat er mir Mut zugesprochen, zum Wohle des Reiches eine große Koalition aus linken wie rechten Liberalen, Zentrum und eben auch SPD zu erreichen.

      Doch erneut springe ich von den inneren Kreisen der Macht zu den Inhalten der Politik in jenem Schicksalsjahr 1917. Also will ich nur die wichtigsten Ereignisse einmal der Reihe nach zusammen bringen.

      Februar 1917, der Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Krieges des Deutschen Reiches gegen Großbritannien, anschließend werden die diplomatischen Beziehungen durch die USA gegenüber dem Reich abgebrochen.

      März 1917, Sankt Petersburg, in der Hauptstadt des Russischen Reiches bricht die Revolution aus. Die Liberalen, die Demokraten und die Menschewikí als die gemäßigten Sozialdemokraten bilden in der Folge eine Regierung. Russland bleibt zwar an der Seite der Entente, doch seine Kampfkraft sinkt rapide, nicht zuletzt durch Massendesertationen der einfachen Soldaten, die endlich wieder nach Hause, auch die Ernte einfahren wollen.

      März 1917, die Sozialdemokraten im Deutschen Reichstag fordern unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Russland so vehement wie niemals zuvor die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes in Preußen. Wer millionenfach für sein Vaterland als Soldat sein Leben riskiere oder diszipliniert bis zur Erschöpfung in den Fabriken arbeite, so die Argumentation, habe das uneingeschränkte Wahlrecht verdient - ein Wahlrecht, das übrigens ja seit 1871 für die Wahlen zum Deutschen Reichstag bereits Gültigkeit besitze.

      7. April 1917. Kaiser Wilhelm II. kündigt auf erheblichen Druck Bethmann-Hollwegs hinter den Kulissen der Reichshauptstadt in seiner Osterbotschaft die Aufhebung des Preußischen Drei-Klassen-Wahlrechtes für die Zeit nach dem Kriege an.

      April 1917, 20 Abgeordnete der SPD im Reichstag gründen die USPD. Der Parteiführer der radikalen russischen Sozialdemokraten, der Bolschewiki, Lenin, durchquert im berühmt gewordenen blombierten Eisenbahnwaggon - Ausdruck der Exterritorialität seines Verkehrsmittels - aus dem Schweizer Exil kommend Deutschland bis zur Ostseeküste, um dann über Schweden und Finnland ankommend ab Ostern in die Russische Innenpolitik einzugreifen.

      Ebenfalls April 1917, die Vereinigten Staaten von Amerika erklären dem Deutschen Reich den Krieg. Im Juni beginnt die Mobilmachung von Truppen, deren erste Verbände im Juli in Frankreich eintreffen.

      Juli 1917, am 2. des Monats weicht der Reichskanzler uns vier Fraktionsführern gegenüber in der Frage der Wahlrechtsreform und des Friedens auf unerträgliche Art und Weise aus. Mit der Friedensresolution des Deutschen Reichstags vom 16. Juli befürwortet die Parlamentsmehrheit aus Zentrum, Sozialdemokraten, Fortschrittlichen und einem Teil der Nationalliberalen die Aufnahme von Friedensverhandlungen, im Grundsatz auf der Grundlage des Status quo ante Bellum.

      Zeitgleich im Juli 1917, nach acht Jahren Kanzlerschaft wird Theobald von Bethmann-Hollweg als Kanzler des Deutschen Reiches entlassen. Wegen seiner Sympathien für eine Wahlrechtsreform und seiner - angesichts der Debatten um die Friedensresolution sichtbar werdenden - Distanz zu Kriegszielen, die mit der Entente wegen ihrer Maßlosigkeit schlicht nicht verhandelbar sind, betreiben Konservative und Schwerindustrie, Oberste Heeresleitung und der Kronprinz den Vertrauensentzug durch den Kaiser. Aber auch wir von der Reichstagsmehrheit stehen nicht mehr hinter ihm, nachdem er uns noch im Gespräch am 2. Juli jede Unterstützung versagt hatte. Gewonnen hatten wir dadurch leider nichts, denn die OHL alleine bestimmte mit Michaelis den neuen Kanzler. Auch ich war noch nicht reif, oder besser gesagt abgebrüht genug, um schon damals klug modellierte, selbst für Kaiser und OHL unabweisbare Forderungen nach einer Regierungsbeteiligung meiner Partei und der drei demokratischen Fraktionen zu erheben.

      September 1917, Gründung der Deutschen Vaterlandspartei unter dem Vorsitz von Admiral Alfred von Tirpitz. Mit der Parteigründung verfügen die Alldeutschen erstmals über eine parteipolitische Organisation zur Verfolgung ihrer maximalen Kriegsziele zur Annexion großer Gebiete in West- und Osteuropa.

      November 1917, Wilhelm II. ernennt den bayerischen Zentrumspolitiker Georg Graf von Hertling als Nachfolger von Georg Michaelis zum Reichskanzler. Oktober - Revolution in Russland, die Bolschewiki an der Macht.

      Dezember 1917, Beginn von Friedensverhandlungen zwischen Russland, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn in Brest-Litowsk.

      Denke ich an jene rasante Abfolge zukunftsträchtiger Entwicklungen aus dem Jahre 1917 zurück, so scheint eine gewisse Zwangsläufigkeit vorgeherrscht zu haben und alles auf den Zeitpunkt der großen Entscheidung über Krieg und Frieden, Sieg oder Niederlage im Folgejahr 1918 zugesteuert zu sein. Aber das stimmt so selbstverständlich nicht! Aus der Warte eines der Beteiligten fehlte dem Jahre 1917 über lange Zeit die klare Richtung, die Tendenz, wohin uns der Weg tragen werde. Umschwünge, Rückschläge, Ratlosigkeiten herrschten immer wieder vor. Genau so lösten Hochgefühle Tage oder Wochen von überwiegender Niedergeschlagenheit ab. An alles erinnere ich mich auch tatsächlich nicht mehr. Doch es bleiben mir Szenen von erheblicher Bedeutung als Schlüsselereignisse in meinem Leben und im Leben meiner Nation tief ins Gedächtnis eingebrannt. An sie werde ich immer aufs Neue denken, solange unser Herrgott mir vergönnt, jeden Morgen wieder die Sonne am Himmel über Berlin aufsteigen zu sehen.

      18. März 1917. Vor zwei Tagen hatte Zar Nikolaus II. in Petrograd abgedankt. Als mich die Nachricht am frühen Abend erreichte, griff ich sofort zum Telefonhörer und rief meinen Freund Albert Ballin in Hamburg an. Albert wirkte auf mich verstört, sogar verwirrt. Dann gab er unumwunden zu, sich noch keinen rechten Reim auf die neue Lage machen zu können. Er würde dennoch oder gerade deshalb gerne mit mir sprechen. Ich lud ihn spontan nach Berlin ein, da ich hier derzeit nicht abreisen könne. Albert nahm sogleich an und wünschte unser Treffen um Walther Rathenau zu erweitern. Selbstverständlich war ich einverstanden. So kam es, dass wir drei am frühen Nachmittag des 18. März zusammenkamen.

      Und plötzlich werden aus Gedanken Bilder. Jetzt habe ich die Erinnerung wie im Film vor mir: Als ich in Walthers Villa in der Koenigsallee 65 in Grunewald eintreffe, zündet sich Albert Ballin im Wintergarten erst einmal eine Zigarre an. Bei Kaffee und Kuchen sitzen wir etwas wortkarg beisammen - und benötigen erst einmal ein wenig Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Nach ein paar belanglosen Sätzen über das Wetter, die Reichsbahn und den Sport kommt Albert dann zur Sache.

      „Vielleicht hast du, lieber Gustav, es bemerkt, als wir miteinander telefonierten: Ich war vollkommen perplex. Die Nachricht von der Revolution in Petersburg nahm ich am 14. März recht euphorisch auf, weil ich mir davon zuallererst eine größere Aussicht auf Frieden versprach. Als dann aber der Zar abdankte und sein Bruder gleich mit auf den Thron verzichtete, da war ich erschüttert. Ich empfand das so, als bräche eine Welt, unsere moderne Welt, gepaart mit ihren zugleich alten, ehrwürdigen Dynastien plötzlich auseinander.”

      „Was hast du denn geglaubt? Bist du so erschreckt, Albert, weil du dich fragen musstest, ob unser Kaiser denn überhaupt noch fest im Sattel sitze?”

      Walther Rathenau trägt seine Bemerkung mit einem verschmitzten Lächeln und einem süffisant-oppositionellen Tonfall vor. Albert Ballin blickt ihn unvermittelt betroffen und niedergeschlagen an.

      „Ja genau. Unter uns dreien darf ich das ja wohl sagen, was ich in Gesellschaft niemals so zugeben würde. Alles, woran ich glaube, die große preußische Monarchie, unser Staat, der getreu dem Geiste Hegels als fairer Sachwalter über den niederen Interessen gesellschaftlicher Gruppen steht, ja dieses Königtum und unser Reich spürte ich Wanken, und den Boden unter meinen Füßen gleich mit. Ich dachte mir, das überlebst du nicht, falls auch bei uns in Deutschland die Revolution und das Chaos ausbrechen sollten. Für solche Fälle hast du in deiner Schreibtischschublade zu Hause in Hamburg, im Arbeitszimmer im ersten Stock deines Hauses an der Elbe, deinen kleinen, handlichen Damenrevolver liegen. Ich meine, falls ich einmal nicht mehr ertragen möchte, was aus unserer Welt zu werden droht.”

      „Na, na, lieber Albert. Werde doch nicht zum Defätisten! Das passt doch ganz und gar nicht zu dir. Ich bin ja nun auch zwanzig Jahre jünger als du. Aber bei aller vaterländischen Liebe zum Hause Hohenzollern denke ich immer