1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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ungewiss. Folglich reichten die Spekulationen in Berlin, Brüssel, Paris und London von der Kontrolle über die Außen- wie Wirtschaftspolitik unseres Nachbarn bis zu seiner Eingliederung in das Reich selbst. Zweitens wurden von Frankreich territoriale Zugeständnisse in Lothringen verlangt. Vielleicht kam gar französisch Flandern mit Dünkirchen hinzu. Dies rief selbstverständlich Britannien ganz besonders auf den Plan, strebte der Gegner doch offenkundig nach der Beherrschung der kontinentaleuropäischen Kanalküste. Drittens sollte eine mitteleuropäische Zollunion unter deutscher Leitung geschaffen werden. Unter Mitteleuropa verstand die Reichsregierung nicht nur die Mittelmächte, sondern zudem die Beneluxstaaten, nach Möglichkeit Polen und Teile Skandinaviens. Damit sind wir bei Bethmann-Hollwegs viertem zentralen Kriegsziel, der Herauslösung Polens aus dem Zarenreich, seine politisch und wirtschaftlich enge Anbindung an die Mittelmächte. Im Osten hinzu kam die nur vage Vorstellung, weitere Teile des Zarenreiches, insbesondere das Baltikum, zukünftig an Berlin zu binden.

      Heute, im Jahre 1929, kann ich nicht verhehlen, dass mir meine eigene Haltung zu jenen Fragen ein wenig unangenehm ist. In guter nationalliberaler Tradition hatte ich ja bereits seit meinem ersten Einzug in den Reichstag 1907 jegliche koloniale Erwerbung und eine starke Flotte vehement befürwortet. Vom Herbst 1914 bis zum Jahresbeginn 1918 gar gehörte ich dann zu denjenigen, die ebenso wie die Herren Stinnes oder Tirpitz nun gar nicht genug davon bekommen konnten, in euphorisierenden Phantastereien immer größere Teile Europas dem unmittelbaren hegemonialen Herrschaftsbereich des Reiches einzuverleiben. Dass dies dazu führte, nicht einmal einen Ansatz für Verhandlungen mit unseren Feinden von damals zu finden, störte mich durchaus nicht. Denn ich vertraute so sehr auf den Erfolg unserer Waffen und unserer Rüstungs- und Kriegswirtschaft, ich war von unserer Überlegenheit über alle drei gegnerischen Weltmächte derart unverbrüchlich überzeugt, dass mich diese Haltung im Frühjahr 1917 tatsächlich in eine schwierige Situation gegenüber den drei Parlamentariern brachte, mit welchen ich in der Frage des Wahlrechts ja sehr wohl eine gewisse Gemeinsamkeit fand.

      Sowohl meine Auffassung in Angelegenheiten der Kriegsziele waren der militärischen Reichsleitung bekannt als auch die im April und Mai 1917 regelmäßig geführten Gespräche zwischen Erzberger, Haußmann, Scheidemann und mir. Das hatten wir zwar nicht beabsichtigt, doch Berlin ist und war halt ein sehr kommunikatives Pflaster, in Bezug auf die Mitglieder der politischen Führung vielleicht gar ein Dorf. So kam es, dass ich vor dem 20. Mai eine Einladung von einem gewissen Oberst Bauer aus der Obersten Heeresleitung erhielt. Der mir bis dahin nur namentlich bekannte Herr schrieb mir einen sehr förmlichen, aber auch ein wenig offenen Brief, handschriftlich, und lud mich für den 22. des selben Monats in sein Büro im Berliner Kriegsministerium an der Wilhelmstraße ein. Er reise dann für kurze Zeit von der OHL in Spa in die Reichshauptstadt. Anlässlich eines Abendessens Bauers mit Herrn Generalleutnant Ludendorff habe der Generalquartiermeister den Wunsch geäußert, mehr über die aktuelle Zusammenarbeit zwischen den maßgeblichen Fraktionen des Reichstags zu erfahren. Als er, Bauer, Ludendorff daraufhin angedeutet habe, es gebe Gerüchte über geheime Gespräche zwischen den obersten Führern von Zentrum, Fortschrittspartei, Nationalliberalen - und ja sogar der Sozialdemokratie, habe der General erstaunt reagiert. Nein, es sei wohl mehr gewesen, Entrüstung! Die Herren Ludendorff und Bauer seien sich einig, einzig und allein die treu zu Kaiser und Reich stehende Nationalliberale Partei in diesem Fall kontaktieren zu können. Wegen der gesundheitlichen Unpässlichkeiten von Herrn Fraktionsvorsitzenden Bassermann bäte er, Bauer, daher nun dessen Stellvertreter und prospektiven Nachfolger, Herrn Doktor Stresemann, um eben diese Unterredung. Wegen der Bedeutung der Angelegenheit wäre er ausgesprochen dankbar, falls ich den vorgeschlagenen Termin einrichten könne. Eine fernmündliche Zusage im Sekretariat des Generalstabschefs genüge.

      Mir war unwohl damals. Die OHL wollte mich geradezu ausquetschen. Ich durfte einerseits keine vertraulichen Gesprächsinhalte preisgeben. Ich musste andererseits meine unbedingte Zuverlässigkeit gegenüber der Reichsleitung unter Beweis stellen. Ein kaum zu vollbringender Spagat würde mir abverlangt werden. Um so erleichterter war ich dann über den Verlauf der Unterredung mit Oberst Bauer selbst.

      Oberst Max Bauer übte in der OHL diverse rüstungswirtschaftliche Aufgaben, insbesondere die Entwicklung und Beschaffung von Artillerie betreffend, aus. Vor allem anderen aber war er von überragender Bedeutung, da Bauer als der Vertraute von General Ludendorff überhaupt galt. Generalquartiermeister Ludendorff wiederum galt in allen maßgeblichen Kreisen Berlins bereits wenige Monate nach Bildung der dritten OHL im August, also spätestens seit Weihnachten 1916 noch vor Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als der wirklich starke Mann der militärischen Reichsleitung. Ludendorff galt in meiner Reichstagsfraktion sogar als der mächtigste Mann Deutschlands, vor dem Reichskanzler und vor dem Kaiser. Also war Bauer wichtig, sehr wichtig. Wir trafen uns in seinem unscheinbar kleinen Büro im dritten Geschoss des Ministeriums. Oberst Bauer eröffnete unser Vieraugengespräch in für mich überraschend schonungsloser Offenheit. Angenehm war mir gleich, dass der Herr entgegen der Gewohnheit beinahe aller maßgeblichen Militärs völlig ohne Pathos sprach, eher wie in einem kleinen Zirkel alter Freunde, die über das Privileg verfügen, auf Taktik im Umgang miteinander gänzlich verzichten zu können.

      „Sehr verehrter Herr Doktor Stresemann, sie sind ein viel beschäftigter Mann in Berlin. Daher betrachte ich es keineswegs als selbstverständlich, dass sie ihren Kalender so kurzfristig für mich und mein Anliegen frei geräumt haben. Dabei äußerte ja schließlich nicht der Herr Generalquartiermeister selbst, sondern ein einfacher Stabsoffizier der OHL diesen Wunsch. Dafür möchte ich mich gleich mit einer einleitenden Bemerkung bedanken: Es liegt mir vollständig fern, sie an meinem Schreibtisch über den Inhalt ihrer Gespräche mit den Herren - ja es sollen die Abgeordneten Haußmann, Erzberger und sogar dieser Scheidemann sein - über das Wahlgesetz des Königreiches Preußen auszufragen. Das brächte sie in unvertretbare Loyalitätskonflikte, und das wiederum liegt Herrn Generalleutnant Ludendorff fern. Außerdem hat Seine Majestät der Kaiser ja auch erst gerade in seiner Osterbotschaft den Massen und damit vorrangig der Sozialdemokratie in Aussicht gestellt, das Wahlrecht in Preußen nach dem Sieg zu reformieren.

      Mir geht es heute allein um die sehr wichtige Angelegenheit der deutschen Kriegszielpolitik. Und da ist der Obersten Heeresleitung bekannt geworden, dass der Herr Reichstagsabgeordnete Erzberger einen Pfeil im Köcher zu haben scheint. Sind sie einverstanden, dass wir hierüber heute einen vertraulichen Austausch unter patriotischen deutschen Männern pflegen?”

      Mir gefiel Bauers ehrliche Art sehr, auch wenn ich ihn gerne dahingehend korrigiert hätte, dass Wilhelm II. am 7. April nicht nur in Aussicht gestellt, sondern sogar öffentlich zugesagt hatte, das Dreiklassenwahlrecht in Preußen nach dem Sieg zu verändern. Ich war zugleich erleichtert, zu diesem Thema keinerlei Loyalitätskonflikten entgegen zu sehen. Und mir wurde schlagartig klar, dass ich Oberst Bauer nicht abschlagen konnte, über die Kriegszielfrage mit ihm zu sprechen.

      „Herzlichen Dank, Herr Oberst, für ihre klaren Worte.

      Bitte richten sie Herrn Generalleutnant Ludendorff die herzlichsten Grüße von mir aus. Zuletzt begegneten wir uns, sofern mich die Erinnerung nicht trügt, beim Neujahrsempfang Seiner Majestät im Januar. Ich schätze es sehr, dass der Generalquartiermeister insbesondere in Fragen der deutschen Kriegsziele so unmissverständliche Worte findet. Das war auch damals im Schloss Charlottenburg der Fall, als wir mit Herrn Ballin und einigen Herren von der Ruhr zusammen standen.

      Was die Gegenstände meiner Erörterungen mit den eben von ihnen benannten führenden Herren der Reichstagsfraktionen betrifft, möchte ich die ihnen zu Ohren gekommenen Hinweise durchaus bestätigen. Wir sprechen des Öfteren und dabei steht das Wahlrecht in Preußen im Mittelpunkt. Dabei ist uns selbstverständlich bekannt, dass angesichts der preußischen Verfassung und wegen der Mehrheiten im preußischen Abgeordnetenhaus Seine Majestät das letzte Wort hat und ansonsten das Zusammenwirken von Konservativen und Nationalliberalen erforderlich bleibt, um Mehrheiten zu bilden. Fernerhin nehme ich ihr Angebot hiermit dankend an, keine vertiefenden Inhalte zu berichten und den übrigen drei Herren damit ein verlässlicher Partner zu sein und zu bleiben.

      Was die Kriegsziele des Reiches betrifft, stehen die Verhältnisse insofern anders, als dass die Äußerungen von uns vieren in den öffentlichen Sitzungen des Reichstags seit September 1914 für sich sprechen und der deutschen Öffentlichkeit hinlänglich bekannt