1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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gebieten! Das Einzige, und das ist freilich gar nicht wenig, was wirklich von nationaler Bedeutung war am Wirken des Gustav Stresemann im Jahre 1917, war seine Verwobenheit in die Netzwerke gewichtiger Teile der Entscheidungsträger auf recht verschiedenen Ebenen unseres deutschen Volkskörpers. Es waren tatsächlich drei kleine Gruppen, Zirkel gar von konspirativer Kraft, in denen mir vergönnt war mitzuwirken. Und ich selbst war wohl der Einzige, der in allen drei Kreisen zugleich tätig wurde. Das mutete mir schon damals einzigartig an und ich beschloss im Frühling und im Frühsommer 1917, daraus das Beste zum Wohle unseres Vaterlandes zu machen. Nun, um welche Kreise handelte es sich denn?

      Zum ersten, da mir persönlich so sehr vertraut und nahe stehend, gab es ein Grüpplein von Wirtschaftsführern, Vertretern der modernen, auf den Export gerichteten Industrien und von Dienstleistungen mit ähnlichen Interessen. Die unangefochtene Autorität hatte der ehrwürdige Albert Ballin, Generaldirektor der HAPAG-Schifffahrtslinie, inne. Ich lernte ihn 1913 kennen, als wir beide eine Reise in die USA und nach Kanada unternahmen. Damals übte ich das Amt eines Syndikus der sächsischen Industrievereinigung aus. Dieses Erlebnis festigte in uns beiden die Überzeugung, dass der freie Welthandel und die Kooperation des Reiches mit den Vereinigten Staaten als der größten Wirtschaftsnation der Erde zentrale Weichenstellungen für eine gute Zukunft sein sollten. Ebenso wichtig wie Albert war mein inniger Freund Walther Rathenau, Präsident der AEG und anerkannter Experte auf dem Gebiete der Kriegswirtschaft seit seinen Tagen als Leiter des Kriegsrohstoffamtes 1914 und 1915. Aus jenen ersten Monaten nach Kriegsbeginn einte Walther und mich die Überzeugung davon, dass der freie Markt unter so besonderen Umständen wie im Krieg der Lenkung durch etwas noch Größeres, nämlich unseren deutschen Staate bedürfe. Uns verbanden zudem nicht mehr zu zählende subtile Erlebnisse vom alltäglichen, unterschwelligen Antisemitismus in Deutschland. Während Walther Rathenau selbst prominente Zielscheibe war, musste ich für meine liebe Frau Käte erfahren, was es bedeutete, aus der ja schließlich zum Protestantismus konvertierten jüdischen Industriellenfamilie Kleefeld zu stammen. Nie werde ich Walthers unglaublich scharfes und zugleich so bitter wahres Zitat zum Judenhass vergessen: „Der Antisemitismus ist die vertikale Invasion der Gesellschaft durch die Barbaren.” Wie sehr sollte der Anschlag auf sein Leben von der Hand radikaler, verblendeter Mörder ihm Recht geben!

      Wir drei, Albert, Walther und ich, trafen uns seit 1916 regelmäßig, mindestens einmal monatlich, um über den Krieg, die Lage in Deutschland, das Notwendige in der Politik zu beratschlagen. Selten kamen weitere führende Repräsentanten der Wirtschaft hinzu. Doch Wert legten wir sehr wohl auf die Meinung der IG-Farben-Direktoren Carl Duisberg und Carl Bosch, die vereinzelt unsere Treffen in Berlin bereicherten. Ich selbst sprach ferner noch häufig mit Karl Helfferich, einer wahrlich schillernden Persönlichkeit. Er vereinigte den Vorstand der Deutschen Bank, den Staatssekretär des Inneren vor Kriegsausbruch und den konservativen Politiker in sich. Es versteht sich von selbst, dass wir unsere Treffen möglichst geheim hielten, schließlich hätte dies meinen „Parteifreunden” bei den Nationalliberalen aus den Kreisen der Kohle, der Eisen- und Stahlerzeugung gar nicht gefallen. Forderten jene vehement die Eingliederung der französischen Erze in Lothringen in das Reich, stand bei uns eine kontinentaleuropäische Zoll- und Wirtschaftsunion unter deutscher Lenkung im Vordergrund der Kriegsziele. Beharrten jene mit dem „Herr-im-Hause-Standpunkt” in den Betrieben auf dem Dreiklassen-Wahlrecht in Preußen, konnten wir uns auch andere Lösungen vorstellen. - Doch jetzt schweife ich erneut ab von den persönlichen Netzwerken hin zu den politischen Streitfragen von 1917. Zuvor will ich mich erinnern, welche weiteren Zirkel mein Denken und Handeln bestimmten, als im Februar die Revolution in Russland begann und damit eine Kette unabsehbarer Ereignisse auslöste.

      Die Spitze von Staat und Armee, Reichsregierung und Oberster Heeresleitung, war 1917 selbstverständlich das starke Machtzentrum unseres Reiches. Mir als designiertem Vorsitzenden der Nationalliberalen Reichstagsfraktion, also einer ohne jeden Zweifel wichtigen staatstragenden Kraft, der Repräsentanz des Industriebürgertums aller Schattierungen, standen so manche Türen und Ohren offen, wie das sich die Vertreter der nur ein wenig weiter links im Parteienspektrum verorteten Fraktionen oftmals sehr gewünscht hätten. Deshalb wurde ich ja zu genau jener Zeit im März 1917 deren privilegierter Gesprächspartner über die Reform der Reichsinstitutionen selbst, obgleich nicht jeder von ihnen auf meine absolute Loyalität gewettet hätte. - Aber zurück zur Reichsleitung: Im Mittelpunkt meiner informellen Gespräche schon 1916 standen zwei herausragende Persönlichkeiten unseres Landes, nämlich seine königliche Hoheit, Kronprinz Wilhelm höchst persönlich, und weiter der Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung, Generalleutnant Erich Ludendorff, der starke Mann hinter dem geistig weit weniger wendigen Oberbefehlshaber Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Mittelsmann zu Ludendorff war der damals legendäre Oberst Max Bauer, der Vertraute Ludendorffs schlechthin und sein Mann für zuweilen delikate politische Kontakte, ob nun in den Reichstag hinein oder zu solchen Vereinigungen wie dem säbelrasselnden Alldeutschen Verband mit seinen maximalistischen Kriegszielen. Der Kronprinz und Ludendorff betrachteten mich als den zukünftigen starken Mann der Nationalliberalen, meine Partei wiederum als den Dreh- und Angelpunkt des politischen Systems in unserem Lande. Die Konservativen als Partei des Adels und der Bauern standen bei aller Staatsräson zu weit rechts, um mit den beiden größten Fraktionen, dem Zentrum und der Sozialdemokratie überhaupt nur sprechen zu können. Folglich fiel mir in den Augen der alten ostelbischen Elite wie selbstverständlich die Rolle zu, für die Politik der Regierung zu werben, gleichzeitig auszuloten, welche Kompromisse möglich waren, aber ebenso, welche Zugeständnisse das alte Reich wohl würde machen müssen, um die eigene Macht im Lande nicht zu schwächen oder gar zu gefährden.

      Ich denke wohl, den Herren Hohenzollern, Ludendorff und Bauer nicht ganz geheuer gewesen zu sein. Dafür sprach allein schon mein fortwährendes Werben für einen Ausbau der sozialen Systeme aus der Vorkriegszeit. Zu wichtig war mir nämlich, die wachsenden Schichten der Angestellten mit der preußisch-deutschen Monarchie zu versöhnen und darüber in der Zukunft liberale Wähler zu gewinnen. Letzten Endes doch verlässlich erschien ich den kaiserlich-militärischen Herren indes wohl deshalb, weil ich 1916 und auch sehr wohl 1917 aus vollster Überzeugung und ohne Unterlass für die Kriegsziele des Reiches in aller Öffentlichkeit, im Reichstag und in allen Blättern eintrat. Sicher trauten wir uns nicht restlos, aber jeder von uns Dreien gab etwas auf das Wort, die Meinung des anderen und dachte gehörig darüber nach, ob nicht das wohl unseres Landes danach verlangte, ein inniges Bündnis aus Reichsleitung und Nationalliberaler Reichstagsfraktion zu schmieden und zu wahren.

      Wie sehr ein Bündnis ganz anderer Art zum Wohle unseres Vaterlandes würde gedeihen mögen, darüber spekulierte ich mit völlig anderen Herren: Wieder war es ein vertrauter Dreier-, dann Viererkreis, in dem sehr geheime Gespräche über die Zukunft der politischen Ordnung unseres Landes geführt wurden. Matthias Erzberger vom Zentrum, Conrad Haußmann von der Fortschrittlichen Volkspartei, also den Liberalen links von uns Nationalliberalen, und Philipp Scheidemann von der Sozialdemokratie trafen sich im März 1917. Als ich davon erfuhr, beantragte ausgerechnet ich, der Nationalliberale, im Reichstag hoch offiziell die Einrichtung des Verfassungsausschusses. Ich war mir sicher, dass eine tragfähige Übereinkunft der demokratischen Mehrheit im Parlament mit uns Nationalliberalen eben nur über die behutsame Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechtes zu erzielen war. In jenem März 1917 zogen mich die drei Fraktionsführer zu ihren Gesprächen hinzu, weil sie für ihr Vorhaben der Unterstützung meiner Fraktion dringend bedurften. Die drei Kollegen Reichstagsabgeordnete und Fraktionsvorsitzende einte die Erwartung, dass die soeben begonnene Revolution in Russland nicht ohne Folgen für die beiden Kaiserreiche der Mittelmächte bleiben würde. Wir vier dachten ähnlich. Wir befürchteten ein Erlahmen der Kriegsunterstützung bei den Massen an der Heimatfront. Und sehr bald bestätigten sich unsere Erwartung. Vom 6. Bis zum 8. April fand der Gründungskongress der so genannten „Unabhängigen“ SPD statt, getragen von 20 Abweichlern aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion samt ihres Anhangs.

      Wenn nun aber die Männer und Frauen in den Fabriken nicht mehr ihr Bestes gaben, um zehn Stunden am Tag Munition und Waffen, Uniformen und alles Weitere herzustellen, ja wie sollten wir dann diesen brutalen Material- und Abnutzungskrieg gegen einen materiell und zahlenmäßig überlegenen Gegner gewinnen? Unsere Gespräche kreisten um zwei Themen, das Wahlrecht in Preußen und eine denkbare Friedensinitiative des Reichstages. Jeder von uns hatte wiederum in seinen Reihen wichtige