1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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Interessen und Territorien. Werde es indes ernst und die Deutschen setzten als äußerstes Druckmittel ihren Vormarsch auf Petrograd fort, würden Lenins Unterhändler Frieden schließen, um ihre eigene Haut und die Chance auf den Machterhalt im Inneren zu retten. Als Robert Lansing das Weiße Haus verließ, äußerte er noch die Einschätzung, es könne im Westen dann richtig gefährlich werden, falls die Deutschen schon zu Ostern in die Lage versetzt würden, eine starke Offensive über die Somme gegen Paris oder die Marne zu führen.

      Ich muss eine neue Friedensinitiative starten. Die muss attraktive Angebote für die kleinen, unterdrückten Völker Europas enthalten. Sie muss zudem den Russen - und zwar egal, wer dort in Zukunft regiert - die Aussicht darauf eröffnen, dass nicht die Deutschen über ganz Mitteleuropa bis zu ihrer Westgrenze herrschen werden, sondern eine Mehrzahl selbstbestimmter Völker entstehen. Briten und Franzosen könnten da nichts gegen haben, denn sie wären ohnehin nicht in der Lage, östlich des Deutschen Reiches auf Dauer direkten Einfluss auszuüben.

      Dann fragte sich der amerikanische Präsident, was eine solche Friedensinitiative denn wohl den Deutschen zu bieten vermöge. Woodrow Wilson atmete in seinem in Dunkelheit gehüllten Büro tief durch. Lediglich vom Kerzenschein des Tannenbaumes auf dem Rasen drang diffuses Licht hinein. Sogleich stieg wie des Öfteren in ihm eine Antipathie gegen dieses kaiserliche Deutschland auf. Für Wilson vereinte dieses Land in der Mitte Europas zu viele Widersprüche in sich. Gemeinsam mit den USA war das Reich die größte und modernste Wirtschaftsmacht der Erde. In den Zukunftsindustrien Chemie und Elektro liefen die Deutschen allen anderen sogar den Rang ab. Wäre das nicht so gewesen im Jahr 1914, hätten sie auch nicht vermocht auf Stickstoffbasis kurz nach Kriegsbeginn Sprengstoff herzustellen. Damit konnten sie ihren sicheren Untergang abwenden. Im Gegensatz zu dieser Fortschrittlichkeit aber sperrten sich die alten preußischen Eliten gegen die Demokratisierung. Kaiser, Junker, Militärs, Stahlindustrielle waren so rückwärtsgewandt wie in keinem anderen großen Land Europas, außer Russland. Und dort hatte ja gerade die Revolution gesiegt! Ob das im Deutschen Kaiserreich wohl auch möglich wäre?

      Woodrow Wilson beschloss, eine Friedensinitiative zu ergreifen, die für die Demokraten in Deutschland annehmbar sein würde. Er empfand eine stille Freude daran, den Keil der Spaltung in die deutsche Gesellschaft zu treiben, von welcher Kaiser Wilhelm seit 1914 tönte, sie stehe auf dem Boden des Burgfriedens fest zur Monarchie. Dieser verfluchte militaristische Kaiser! Seine persönlichen Überzeugungen wurden gepaart mit dem unglaublich großen Einfluss der erzreaktionären Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff, die wiederum den maßlosen Kriegszielen der Zechen- und Stahlbarone nach Annexionen in Frankreich und der Eingliederung Belgiens ins Reich vollständig folgten.

      Ich muss, ich will auf die inneren Verhältnisse in Deutschland achten! Sonst würde meine Friedensinitiative nichts weiter als eine PR-Nummer! Sie stachelte die Öffentlichkeit bei uns zu Hause, noch mehr in England und Frankreich erneut auf, weil die Deutschen sie ablehnen und sich wiederholt als friedensunwillig zeigen würden. Eine solche Aktion für die Öffentlichkeit hätte aber keine Chance das zu erreichen, was ich eigentlich anstrebe: Amerika sollte eine echte Chance suchen, den Ausstieg der Russen aus dem Krieg und anschließend eine große, gefährliche Offensive der Deutschen in Frankreich zu verhindern! Das wiederum erfordere zwei Dinge: In Russland muss Lenin besser heute als morgen von einer Regierung der nationalen Einheit abgesetzt werden! Und zweitens muss der Kaiser einige wichtige meiner Vorschläge für verhandelbar halten!

      Woodrow Wilson atmete erneut tief durch, nahm den Kopf aus den aufgestützten Armen und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Er schmunzelte und blickte versonnen aus dem Fenster in den parkartigen Garten des Weißen Hauses. Zwar hatte er bis jetzt noch kein Wort zu Papier gebracht, dennoch war er mit sich fürs Erste zufrieden. Denn seine Bestandsaufnahme über die Lage, in der sich die Krieg führenden Mächte befanden, half ihm, aus einer gesicherten Klärung seiner großen, übergeordneten Ziele heraus jetzt frisch ans Werk zu gehen. Zwei Aufgaben stellte er sich. Nach Weihnachten und unbedingt vor Silvester wollte der Präsident nacheinander mit seinen vielleicht wichtigsten Beratern in dieser Angelegenheit konferieren. Das war einmal Oberst Edward House, den Wilson nicht nur als Experten für alles Militärische, sondern auch für die Wirkungen der Außenpolitik in der amerikanischen Öffentlichkeit schätzte. Und da war zum zweiten der oberste Bundesrichter Louis Brandeis, der als einer der herausragenden Kenner der Weltwirtschaft und gerade auch der wirtschaftlichen Potenziale der europäischen Mächte galt. Mit seiner Hilfe hoffte Wilson eine Einschätzung darüber zu gewinnen, welche Aussichten die Westmächte hatten, 1918 weiter durchzuhalten, und welche Chancen die Deutschen tatsächlich hätten, nach dem hoffentlich eher unwahrscheinlichen Frieden mit Russland die entscheidende Offensive im Westen zum Erfolg zu führen. Doch halt, Wilson fiel plötzlich ein dritter Name ein: Der junge Journalist Walther Lippmann, in New York Herausgeber der Zeitschrift „The New Republic“ dürfe wohl wie kein zweiter die Stimmungslagen in der amerikanischen Bevölkerung, insbesondere die des dicht besiedelten Nordostens, am treffsichersten einschätzen. Ihn einzubinden konnte ebenfalls den Horizont erweitern, das Urteil differenzierter ausfallen lassen und ihm mehr Sicherheit für seine Entscheidungen geben.

      Und dann war da die zweite Aufgabe: Woodrow Wilson nahm sich vor, niemanden zu beauftragen, einen Entwurf für seine Friedensinitiative zu erstellen. Nein, hier ist der Chef gefragt! Denn nur der Chef hat die klaren Prioritäten im Kopf, was erreicht werden soll und erreicht werden könnte. Es muss ja nicht ein Roman werden!

      Wilson stellte sich vor, nur ein Dutzend zentrale Forderungen, Standpunkte, Zukunftsperspektiven für die Ordnung in Europa zu formulieren. Ein Dutzend ist eine gute, einprägsame Zahl. Nach den zehn Geboten sind es dann vielleicht die zwölf Punkte von Wilson, die hoffentlich einmal Weltgeschichte schreiben werden. Für einen kurzen Moment sonnte sich der Präsident in dem angenehmen Gedanken, derjenige zu sein, der diese unbefriedigende, unerträgliche gegenseitige Blockade der Krieg führenden Mächte aufzuheben vermöge. Sofort darauf schämte sich Woodrow Wilson für diesen Anflug von unverkennbar narzistischer Eitelkeit. Er zwang sich zur Nüchternheit. Nicht ins Schwärmen kommen, alter Junge! Das sagte er zu sich selbst und beschloss, sich noch an diesem Abend die ersten knappen Notizen für sein 12-Punkte-Programm zu machen. Es war 22.30 Uhr, da war noch eine produktive Phase möglich. Der Präsident betätigte den Lichtschalter seiner Schreibtischleuchte, griff optimistisch gestimmt zum Block und zu seinem Füllfederhalter in der obersten Schublade des massiven Eichenschreibtisches. Die ersten Stichworte, die er notierte, lauteten: Selbstbestimmungsrecht der Völker, unabhängiges Polen, unabhängiges Belgien, Elsass-Lothringen zurück an Frankreich. Sodann legte er seine Stirn in Falten und notierte weiter: Demokratisch gewählte Regierungen in ganz Europa? Zollunion? Deutschland verliert Kolonien? Oder muss es umgekehrt gerade welche hinzu bekommen? Österreich-Ungarn auflösen? Machtverhältnisse in Polen, im Baltikum anerkennen? Woodrow Wilson wusste mit einem Mal, wie schwierig sein Unterfangen werde, einen Friedensplan aufzustellen. Er grübelte noch eine Weile, machte lediglich einige weitere, knappe und belanglose Aufzeichnungen und beschloss daraufhin, die Arbeit am Schreibtisch für diesen Abend zu beenden. Sollten doch die Gespräche mit House und Brandeis und vielleicht noch Lippmann mehr Licht ins Dunkel bringen. Er löschte das Licht wieder und verließ das Oval Office.

      Unruhe überfällt mich. Die Gedanken an meine Begegnungen mit dem amerikanischen Präsidenten im Jahr 1918 rufen in mir die Erinnerung an seinen festen Charakter, seine moralische Stärke, vor allem aber auch seine unverbrüchliche Autorität gegenüber seinen amerikanischen Landsleuten und schließlich auch gegenüber seinen europäischen Verbündeten wach.

      Ich öffne meine Augen nur um die Breite feiner Schlitze. Die Schwester hat soeben mein Kopfkissen aufgeschüttelt, mich neu gebettet. Matratze und Bettzeug meines Krankenhausbettes fühlen sich weich und frisch an und sie duften angenehm nach einem Hauch von Waschmittel. Die Schwester hat nicht bemerkt, dass ich erwacht bin. Mit einem fürsorglichen Lächeln blickt sie ein Mal nach mir, bevor sie das Zimmer verlässt, darum bemüht, die Türe möglichst geräuscharm ins Schloss fallen zu lassen. Ich schließe die Lieder. Sofort formt sich vor meinem inneren Auge das große, längliche Gesicht Woodrow Wilsons, auf dessen Züge sich stets ein verschmitztes Lächeln legte, wenn sein heller Geist einen neuen, bestechenden Gedanken entwickelte. Mein Geist ist plötzlich in einem vertrauensvollen Vier-Augen-Gespräch, das wir beide im frühen Herbst