Müllers Morde. Monika Geier

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Название Müllers Morde
Автор произведения Monika Geier
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867549288



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Intellektuellenhauses auf einer Art Altar aufgestellt – daraus konnte man glatt einen geheimen Historienkult konstruieren.

      Nun also zu Steenbergens Büro. Das lag immer noch prächtig nach Süden hinaus, mit Aussicht auf die Straße. Widerwillig näherte Richard sich den herumliegenden Papierstapeln. Sogar den Computer fuhr er hoch und sah sich die Mailbox an, die ließ sich ohne Passwort öffnen, klar: Dies war Steenbergens Privatcomputer, da war der Zugangscode vermutlich eingespeichert. Das war ja ganz gut, so kam er an Steenbergens private Korrespondenz, aber leider empfing die Mailbox sofort mindestens fünfhundert Mails. Frustriert sank Richard auf Steenbergens ergonomisch geformten Hocker. Er hatte es gewusst: Das würde ein netter Abend werden.

      * * *

      »Müller, Kabel Deutschland«, sagte Müller zu der alten Frau Zangerle aus Nummer 17b. »Wir haben telefoniert.«

      Axels Van parkte am Straßenrand hinter ihm und gab eine plausible Kulisse für seinen Auftritt als Müller von Kabel Deutschland ab. Als Kostüm hatte er sich eine blaue Arbeiter­weste übergeworfen. In den Händen hielt er eine beeindruckende Werkzeugtasche, sein Laptop und ein Klemmbrett. Darauf prangte ein Kabel-Deutschland-Aufkleber, und über der Adressenliste, die er aus dem Internet-Telefonbuch ausgedruckt hatte, steckten noch drei Kabel-Deutschland-Visitenkarten. ­Einen entsprechenden Ausweis hatte er auch gefälscht.

      Frau Zangerle musterte ihn neugierig. »Ja«, sagte sie. »Aber Sie sind nicht von Kabel Deutschland.«

      Müller war einen kurzen, erschrockenen Moment lang sprachlos. Versuch ja nicht, mich aufzuhalten, blöde alte Kuh, lag ihm auf der Zunge, ich hab das Auto, die Jacke, die Visitenkarten, den Ausweis, was willst du denn noch? Doch eine Stimme in ihm mahnte zur Ruhe. Das ist ein Witz! Sie macht einen Witz! Sie sagt dir gleich, dass dein Namensschild verrutscht ist, dass sie sowieso nicht lesen kann, dass sie Kabel Deutschland immer anders ausspricht, dass …

      »Ich habe dort angerufen«, sagte Frau Zangerle stattdessen klar und deutlich. »Es kam mir komisch vor, dass Sie nach fünf noch Hausbesuche machen wollen, wo doch jeder weiß, dass den Leuten von der Telefongesellschaft ihr Feierabend heilig ist. Kabel Deutschland weiß von keiner Störung.« Sie blickte Müller triumphierend ins Gesicht. Es war wie in einem schrecklichen Traum: Er konnte nichts sagen. Er musste ihrem Blick ausweichen. Sie hatte ihn zu plötzlich zu direkt angesehen, ihn überrascht und aus dem Konzept gebracht. Jetzt benahm er sich schuldbewusst, ohne etwas dagegen tun zu können. Das war der Super-GAU, da half nicht einmal mehr der gefälschte Ausweis, diese Alte würde ihm einfach nicht glauben.

      »Und wieso«, brachte er heraus, »haben Sie mir dann aufgemacht?«

      »Neugier«, sagte die alte Frau. Müller sah auf, in ihre Augen, und da funktionierte er wieder. Er schob den Fuß nach vorn. Gerade rechtzeitig, denn sie hieb die Tür zu. Vielmehr, sie versuchte es.

      »Was wollen Sie?«, fragte sie verächtlich, als er kurz darauf drinstand im Haus, all seine Sachen inklusive Laptop einfach fallen ließ und die Tür, in der noch der Schlüssel stak, zitternd hinter sich schloss. »Wollen Sie Geld? Ich habe kein Geld. Und ich bin alt. Schauen Sie mich an. Sie werden keine Freude an mir haben.«

      Müller sah Frau Zangerle an. Alte Schachtel, von nichts eine Ahnung? Alt war sie tatsächlich. Ein verhutzeltes kleines Weiblein, dünn, grau, mit wässrigen Augen, die ihn aber entschlossen fixierten. Die Angst sah er auch, die konnte sie nicht ganz verstecken. »Ich wollte eigentlich nur mal an Ihr Telefon«, flüsterte er voll ehrlichen Bedauerns.

      »Warum?«, fragte sie mit einer Schärfe, die ihm vermutlich suggerieren sollte, sie stünde noch direkt neben ihm. Tatsächlich bewegte sie sich langsam rückwärts. Zum –

      Müller war mit zwei Schritten bei ihr und zerrte sie von ihrem Telefonapparat weg. Ein vorsintflutliches Teil, mit einem Spiralkabel, das den Hörer mit dem eigentlichen Gerät verband. Viel hätte sie damit nicht ausrichten können, aber Müller wollte nichts riskieren. Er reagierte über. Beruhige dich, schrie er sich innerlich an, beruhige dich! Die gezerrte Frau Zangerle gab ­einen angstvollen, erstickten Laut von sich und suchte automatisch Halt bei ihm. Müller spürte ihren Griff an seinem Arm. Er war rührend zart. Die ganze alte Dame wirkte leicht wie ein Korb voll Laub und nicht besonders sicher auf den Beinen. Uralt eben. Auch sie zitterte, verhalten, aber voller Panik. Damit hatte sie sicher nicht gerechnet, als sie die Tür aufmachte: dass der entlarvte Betrüger mit hereinkam.

      »Alles in Ordnung?« Müller hatte seine normale Stimme wiedergefunden und packte Frau Zangerle an den Schultern, um sie zu halten, vielleicht auch nur, um sich selbst aufzurichten an ihr. Er drückte sie an sich, damit sie aufhörte zu zittern, denn sein eigenes Zittern war schlimm genug.

      Doch Frau Zangerle beruhigte sich nicht. Sie schloss nur die Augen, ballte die Fäuste und flüsterte heiser: »Sie sind ein Russe, gell? Machen Sie nur schnell, es ist nicht das erste Mal.«

      Müller ließ sie los, und sie stolperte gegen die Wand. Er dachte, sie würde fallen, doch sie fing sich. »Frau Zangerle«, sagte ­Müller.

      Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, hasserfüllt und so flammend, wie das mit ihren wässrigen Augen eben möglich war.

      »Passen Sie auf«, sagte Müller. »Ich möchte Ihnen nichts tun. Ich will nur an den Telefonanschluss, und eigentlich nicht mal an Ihren, sondern an den von 17c, doch da erreiche ich niemanden, daher dachte ich, probier’s mal in der Nachbarschaft. Sie haben hier eine alte Hausanlage, und will’s der Teufel, vielleicht sogar noch einen gemeinsamen Anschluss.«

      »17c?«, fragte Frau Zangerle, räusperte sich und strich, immer noch zitternd, ihren Rock gerade. »Sie meinen den Herrn Steenbergen?«

      »Genau.«

      »Den werden Sie niemals mehr erreichen«, sagte Frau Zangerle befriedigt. »Haben Sie es nicht gelesen?«

      »Was?«, fragte Müller und ein merkwürdiges, glühendes Gefühl machte sich in ihm breit. Haben Sie es nicht gelesen. Haben Sie es nicht gehört. Es stand in jeder Zeitung.

      »Er ist erstickt worden«, sagte Frau Zangerle feierlich.

      »Ach was«, sagte Müller.

      »Von einem Vulkan.«

      * * *

      Nach kurzer Suche gab Richard auf: Steenbergens Mails waren eigentlich nur Werbenachrichten, und von den Millionen Dokumenten, die er besessen und bearbeitet hatte, konnte jedes einzelne brisant und geheim sein. Allerdings hätte schon »geheim« und »brisant« draufstehen müssen, um ihm aufzufallen. Er war eben kein Ingenieur und auch kein Wirtschaftskriminalist. Er verstand kaum die Titel von Steenbergens Dissertationen, das einzig Lesbare für Richard war der Spesenordner, in dem der Herr Umwelt-Doppeldoktor seine Dienstreisen aufgelistet hatte, natürlich war er Vielflieger. Es mochte an seiner eigenen Beschränktheit als Historiker liegen, aber das Einzige, was er hier bemerkenswert fand, war das kleine Zimmerchen und diese rührende Suche nach antiken Mysterien. Doch ein richtiges fieses Geheimnis, ein Mordmotiv steckte da nicht drin. Die richtig fiesen Geheimnisse, dachte Richard, fand man eben niemals offen auf einem Tisch herumliegend. Fiese Geheimnisse befanden sich unter der Matratze, im Badezimmerschrank, im Keller, im Safe. Tapfer stand er auf und begann seine Suche von vorne.

      * * *

      Es war jetzt nicht mehr die Frage, aber Müller fragte es sich trotzdem: Hätte er diesen GAU verhindern können? Hätte er einfach umkehren und gehen können, mit Laptop und Klemmbrett zurück in sein weißes Auto steigen und wegfahren und es anderweitig versuchen? Oder den Ausweis rausholen und sie überzeugen?

      »Was immer Sie auch vorhaben«, sagte die alte Frau Zangerle im Ton einer gereizten Gräfin, »Sie sollten es schnell tun, denn ich erwarte jeden Moment meinen Enkelsohn. Er kommt immer um die Zeit. Genau. Halb sieben oder früher. Gleich wird er da sein.« Sie verschränkte die dünnen Arme und blickte Müller streng an.