Müllers Morde. Monika Geier

Читать онлайн.
Название Müllers Morde
Автор произведения Monika Geier
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867549288



Скачать книгу

grundsätzlich erst einmal abstritten, sodass sein abendlicher Besuch ungewöhnlich kundenorientiert, aber sonst völlig korrekt war? Wäre das so abwegig gewesen? Und was würde sie tun, wenn er jetzt einfach ging? Die Nachbarschaft vor Betrügern von Kabel Deutschland warnen? Die Redakteure von irgendeiner Reality-Krimi-Doku anrufen? Still den Triumph genießen, dass sie eine Lüge durchschaut hatte?

      »Er ist Maurer.«

      Vor fünf Minuten war er noch Boxer gewesen, dieser ominöse Enkel. Ein Zweieinhalbmetermann, ohne Zweifel, und er verbrachte alle Abende bei der Oma. Ein Hirngespinst. Müller sammelte seine Sachen vom Boden auf und schob Frau Zangerle vor sich her in die Küche. »Sind diese Reihenhäuser hier gleich gebaut?«, fragte er. »So vom Grundriss her?«

      »Vor langer Zeit mal, ja«, antwortete Zangerle. »Aber das hat dann jeder nach seiner Fasson geändert. Wir mussten erst mal Wände einziehen, als wir es gekauft haben, da war ja nichts.« Erschöpft sank sie auf ihren einzigen Küchenstuhl und hob dann erschrocken das Kinn, als wäre ihr eingefallen, dass sie keine Schwäche zeigen durfte. »Mein Enkel wird sich fragen, was so wichtig an Herrn Steenbergens Telefon ist, dass Sie deshalb bei mir eindringen müssen«, sagte sie drohend. »Ungebeten!«, setzte sie noch hinzu.

      Ja, genau das, dachte Müller, von schlimmsten Ahnungen erfüllt, war das Problem. Er durfte nicht auffallen. Darum war er ja auch nicht einfach ins leere Nachbarhaus eingestiegen. Das Gebäude war leider eine Art natürliche Festung: Den rückwärtigen Garten umschlossen Rasenflächen, die allesamt klein, intensiv bespielt oder wahnsinnig überschaubar waren, und direkt am Vordereingang stand eine Straßenlaterne, die nachts hell auf die Häuserfront strahlte. Außerdem besaß er keinen Dietrich. Das Risiko eines Bruchs war einfach zu hoch. Alles, was Steenbergens bizarrem Tod nur den kleinsten Verdachts­moment hinzufügte, musste den GAU auslösen. Allerdings würde man den Manager und Wissenschaftler Steenbergen nicht unbedingt mit seiner greisen Nachbarin in Verbindung bringen. Der Typ, der die Abende im Haus nebenan verbrachte, war er kaum gewesen. »Haben Sie Herrn Steenbergen gut gekannt?«, fragte Müller, während er sein Laptop auf den Küchentisch legte und kurz untersuchte. Hoffentlich hatte es den Sturz heil überstanden.

      »Na ja«, antwortete Frau Zangerle wortkarg und beobachtete ihn angestrengt. Sie trägt keine Brille, dachte Müller. Sie kann mich wahrscheinlich gar nicht richtig sehen und daher auch nicht gut beschreiben. Sie ist nur eine arme alte Frau. Und sie hat Format. Aber es half nichts: Er nahm ein Paar weißer, leichter Baumwollhandschuhe aus seiner Werkzeugtasche und streifte sie über.

      Die alte Frau Zangerle blieb völlig reglos sitzen, doch ihr ­schmaler, runzliger Mund wurde zu einem festen Strich.

      »Wo ist denn Ihr Hausanschluss?«, fragte Müller ruhig und sah sich beiläufig in der Küche um. Innerlich verfluchte er sich. Dieser Besuch hatte ein reiner Erkundungsgang sein sollen, nur ein Sondieren der Lage. Und jetzt das. Er brauchte ein Kissen. Frau Zangerle verfolgte seine Bewegungen aus ihren argwöhnischen, wässrigen Augen. Dann, ganz plötzlich, zog sie mit einem absolut schauerlichen Gurgeln Luft ein und begann pfeifend zu hyperventilieren.

      Müller stolperte zurück, erschrocken von dem unerwarteten Anfall, und starrte Zangerle an.

      »Pillen!«, ächzte sie, was er erst verstand, als sie es wiederholte. »Pillen! Bad!«, dann presste sie ihre Hand aufs Herz und beruhigte sich ein wenig, atmete aber nach wie vor schwer und pfeifend. »Bitte«, sagte sie mit einem flehenden Blick, der ­Müller das Herz brach, »bringen Sie – mir – Pillen. Aus dem Bad. – Oben.«

      Er schüttelte langsam und mit tiefem Bedauern den Kopf und trat einen Schritt zurück. Dieser Anfall war ein Zeichen. Ein Geschenk, das man annehmen musste.

      »Sie –«, keuchte die alte Frau daraufhin, ballte ihre Hände zu Fäusten und richtete sich halb auf. »Sie wollen in Steenbergens Haus? Das ist von hier ganz leicht!« Ein groteskes Lächeln verzerrte ihr Gesicht. »Ich zeig’s Ihnen. Wirklich leicht. Sie müssen nur«, sie gurgelte wieder so schrecklich, »Pillen. Bitte. Bad.« Die letzten Worte verloren sich in einem Flüstern, dann fiel sie über den Tisch, zuckte, und regte sich nicht mehr.

      Und Müller sich erst einmal auch nicht.

      * * *

      Richard sagte sich, dass er genauer hinsehen musste. Er musste Einzelheiten beachten, er musste treffend interpretieren wie bei einem Übersetzungstext, er musste die einfachen Dinge prüfen, die Konnotationen. In die Zuckerdose schauen. In der Zuckerdose war aber nur Zucker, und auch sonst waren die Details dieses erfolgreichen Steenbergen-Lebens in dem weiten Haus dann doch enttäuschend banal. Das Bezeichnendste war vielleicht der Hunderter-Sparpack Kondome mit abgelaufenem Verfalls­datum, der Richard schmerzlich an sein eigenes Liebesleben erinnerte. Bei den Wertsachen hingegen lag Steenbergen klar vorn: Er hatte eine Rolex in der Nachttischschublade und eine maßgeschneiderte Profi-Musikanlage vom Allerfeinsten, ­allein die Kabel mochten mehrere tausend Euro wert sein. Aber dann die CD-Sammlung: Phil Collins bis Eric Clapton. Im Kühlschrank: vergammelte Singlepackungen Salat, irgendwelcher japanischer Yuppie-Schnickschnack und viele angebrochene Marmeladengläser. Im Schnapsschrank: volle Flaschen, teils noch als Geschenk verpackt. Im Bücherschrank: eine zweibändige Nietzsche-Biografie direkt neben Dan Browns gesammelten Werken, dazu eine große Menge populärwissenschaftlicher Geschichtsbücher sowie eine kleine Sammlung ungelesen aussehender ­Literatur über kritische Umweltthemen. Das Einzige, was Richard zumindest in leichte Unruhe versetzte, war ein Schlüssel, den er am Schlüsselbrett in der Küche fand. An diesem einfachen Zimmerschlüssel hing, mit grober Schnur befestigt, ein uraltes Pappschild, auf dem in gestochenem Sütterlin das Wort Trockenboden stand. Dieser Schlüssel konnte zu nichts Geringerem gehören als zu der geheimnisvollen Tür im Rosenzimmer auf dem Speicher. Zwar war die Tür eintapeziert, und das Sütterlin auf dem Schild legte nahe, dass sie schon lange nicht mehr benutzt worden war, andererseits durfte Richard bei seiner Hausuntersuchung kein Zimmer auslassen; am Ende war die Tapete doch nicht so alt, und auf dem Trockenboden lagerten Waffen und Drogen. Er nahm also den Schlüssel, holte sich ein scharfes Messer aus der Küche und ging hinauf zum Speicher.

      * * *

      Frau Zangerles Hand fiel schlaff auf den Tisch zurück, als Müller sie losließ. Dass sie noch atmete, glaubte er nicht, wenn, dann war die Atmung sehr schwach. Um ihren Puls zu fühlen, war er selbst zu nervös. Aber sie sah tot aus, oder zumindest komatös und an der Schwelle zum Abnibbeln, und war das nicht ein ungeheuerliches Glück? Nie hätte er selbst diese Szene so authentisch arrangieren können: Frau übern Küchentisch gesunken. Er hätte sie in ihr Bett oder zumindest auf den Fußboden drücken müssen, um sie mit einem Kissen ersticken zu können, es hätte also einen Kampf gegeben, und er hätte sie an Ort und Stelle liegen lassen müssen, denn im Tod, das wusste er von Steenbergen, versagten die Schließmuskeln, und da, wo der Urin war, musste man später auch die Leiche finden. Nein, so wie es nun gekommen war, so war es viel, viel besser. Außerdem hatte die gute alte Frau Zangerle verraten, dass es einen Weg rüber in Steenbergens Haus gab. Vielleicht über einen Durchbruch auf dem Speicher? Oder sie hatten einen gemeinsamen Luftschutzkeller? Genau, einen Luftschutzkeller, den gab es doch in vielen von diesen Häusern, die zwischen den Kriegen erbaut worden waren. Müller warf einen letzten prüfenden Blick auf die alte Zangerle und ging nachsehen.

      * * *

      Richard räumte den Atlantis-Tisch beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss: er passte. Er ließ sich nicht leicht drehen, aber mit etwas Druck war es kein Problem. Richard drehte nochmals, zog dann am Schlüssel und nahm das Küchenmesser, um die Tür freizuschneiden. Unter seinen tastenden Fingern spürte er den Rahmen der Tür, das Blatt und die schmale Lücke dazwischen, in die er das Messer stoßen musste. Doch sowie das Messer in der Tapete stak, erkannte Richard, dass die Arbeit bereits getan war: Ein scharfer Schnitt verlief rund um die Tür, in der steifen rosenberankten Tapete so unsichtbar, dass Richard ihn mit bloßem Auge nicht erkannt hätte. Aha, dachte er voller Genugtuung. Also doch. Ein geheimes Zimmer in Steenbergens Haus. Mit neuer Energie drehte er den Schlüssel und drückte gegen die Tür, doch nichts tat sich: Ihr fehlte die Klinke.

      * * *