Müllers Morde. Monika Geier

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Название Müllers Morde
Автор произведения Monika Geier
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867549288



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Ecke ein altes Handtuch mit einer gruselig vermoderten Babypuppe darin, dann gab er auf. Er ging zurück in Steenbergens Rosenkabuff, schloss die Tür hinter sich, ließ Schlüssel und Klinke für die Nachwelt stecken, drückte sich wieder an den nicht umfassend untersuchten Papierstapeln vorbei und setzte sich im Wohnzimmer auf die Ledercouch. Es war schon Abend, und er hatte nichts erreicht. Jedes einzelne seiner hundert Kilos drückte ihn schwer auf das kühle Leder. Von draußen hämmerte Regen gegen das Glasdach des Wintergartens. Richard seufzte. Er traute Steenbergen nicht zu, ermordet worden zu sein. An dem Typen war doch kaum was dran, der war nur brillant in seinem Fach gewesen, und vielleicht noch in Einrichtungsfragen, aber ebenso gut konnte es sein, dass hier eine typische Junggesellennotmöblierung zufällig in ein Haus geraten war, dem gerade das hervorragend stand. Und sonst? Der Nachlass enthielt keine Sportutensilien, keine Filmsammlung, keine Spur eines Zeitungsabonnements, keine nennenswerte Bibliothek. Wahrscheinlich hatte Steenbergen nicht mal eine Meinung besessen. Was sollte er da ausrichten? Phil-Collins-Alben auf satanische Botschaften abhören? Sich ins konservative Umweltmanagement einarbeiten? Steenbergens unverständliche Doktorarbeiten entschlüsseln? Richard gähnte. Das Geräusch der fallenden Tropfen auf den Fenstern machte ihn schläfrig. Es war düster im Raum. Steenbergens Couch war erstaunlich bequem. Wenn man das blöde Leder erst einmal warm gesessen hatte, mochte man gar nicht mehr aufstehen. Richard schloss die Augen. Er war hungrig. Er würde jetzt heimfahren, sich eine große Portion ökologisch nicht korrekt angebauter Ofenpommes reinziehen und abends Dr. House gucken. Hier gab es nichts zu holen, und zu Hause hörte man die Schritte der Nachbarn im Stockwerk darüber zwar viel lauter, aber es war warm und es –

      Richard war plötzlich hellwach.

      Schritte!

      Er lauschte angestrengt. Er saß reglos. Er schloss die Augen, um besser zu hören. Er atmete kaum.

      Das Geräusch wiederholte sich nicht.

      Nach einer endlosen Weile, in der es nur einfach immer weiter geregnet hatte, stand Richard auf. Da war etwas gewesen, nicht nur ein Geräusch, sondern eine charakteristische Abfolge, ein: Laufen. Es mochte eine Täuschung gewesen sein oder ein Tier, aber er musste dem nachgehen.

      So lautlos das auf dem alten Parkett möglich war, schlich ­Richard zum Treppenhaus. Das Geräusch war von oben gekommen. Jemand war im Haus. Jemand, der vermutlich nicht ahnte, dass er Gesellschaft hatte, denn von außen konnte niemand sehen, dass Richard sich im Haus aufhielt, die Lichter waren aus, und es stand kein Auto draußen. Langsam bewegte er sich auf die Treppe zu. Eine Waffe. Sollte er nicht eine Waffe haben? Da hörte er es wieder, diesmal deutlicher: Schritte. Schwere Schritte. Ein Klopfen. Und es kam bestimmt nicht aus dem ersten Stock, dazu war es zu leise. Die Schritte und das Klopfen mussten von ganz oben, vom Dachboden kommen.

      * * *

      Er stand in Steenbergens Haus. So leicht war das gewesen: einfach nur in der Nachbarschaft klingeln und auf den Speicher marschieren. So furchtbar leicht. Müller schluckte und schritt Steenbergens Speicherteil ab. Er hatte einen Lichtschalter gefunden, ein altes Drehding, und nun betrachtete er alles ganz genau im Licht einer funzligen Glühbirne. 17c besaß einen Zugang zum großen Gemeinschaftsboden, eine hölzerne Tür. Müller klopfte ihren Rahmen ab und begutachtete das Schlüsselloch. Soweit er das sehen konnte, steckte der Schlüssel auf der anderen Seite. Und der Spalt unter der Tür war recht breit. Mit etwas Glück würde der alte Trick mit der Zeitung und dem herausgestoßenen Schlüssel hier funktionieren. Wenn nicht, würde sich ein anderes Hilfsmittel zum Öffnen finden. Müller sah sich um: Natürlich war weit und breit keine Zeitung auf dem Speicher, auch in seiner Werkzeugtasche nicht. Aber die gute alte Frau Zangerle, die würde eine haben. Müller zögerte ein wenig. Er ging nicht gern wieder runter in ihre Wohnstube. Doch er brauchte die Zeitung. Er musste.

      * * *

      Richard betrat die kleine Kammer und abermals überwältigte ihn der Eindruck von Enge. Er holte tief Luft, um die Beklemmung abzuschütteln, dann stand er und lauschte. Da war nichts. Nur der Regen tropfte gleichmäßig auf das blinde Glas des Dachfensters und färbte sich blutrot im Widerschein der schrecklichen Tapete. War da wirklich jemand auf der anderen Seite? Und wenn ja, war das so ungewöhnlich? Schließlich konnten alle Nachbarn jederzeit auf den alten Trockenboden gehen, sich dort treffen und Schwätzchen halten. Doch Richard glaubte das nicht. Der Boden hatte verlassen ausgesehen, seit Jahrzehnten ungenutzt. Er dachte an die vermoderte Puppe und an die mit Brettern vernagelte Tür. Und war da nicht ein gespanntes Lauschen von jenseits der Wände?

      Wenn man wusste, wie unheimlich groß der Raum auf der anderen Seite war, dann gewannen die Rosenranken der Tapete tatsächlich eine neue Qualität, eine Art perverse Schutzfunktion. Das Mädchen, das einst in diesem Zimmer leben musste, hatte sich vor dem riesigen dunklen Speicher gefürchtet, kein Zweifel. Denn dort auf dem Speicher mochte alles Mögliche herumspuken, dort konnten die Hausherren aus der Nachbarschaft erscheinen und Einlass erzwingen, von dort aus konnte man belagert, belauert und belauscht werden. Und vielleicht geschah das sogar gerade jetzt. Vielleicht presste in diesem ­Moment jemand sein Ohr gegen die Tür, vielleicht an genau der Stelle, wo Richard nun seins gegen die Tür presste, natürlich von der anderen Seite. Vage dachte Richard daran, dass er kürzlich gelesen hatte, Ohrabdrücke seien ebenso individuell wie die Fingerabdrücke eines Menschen, dann meinte er, ganz in der Nähe Schritte zu hören. Tatsächlich. Er war fast erleichtert. Solide, feste Schritte. Nichts Geisterhaftes. Sie kamen näher. Sie waren da.

      * * *

      Müller versuchte, das Grauen, das in diesem schrecklichen alten Haus herrschte, abzuschütteln, indem er schnell machte. Schnell auf den Speicher zurück, schnell zu Steenbergens Tür, schnell die Zeitung –

      Jemand nieste.

      Müller stolperte zurück und starrte die Tür an, unter der er in der nächsten Sekunde eine Zeitung hindurchgeschoben hätte. Einen kurzen Moment spürte er echte Panik, die ihn jäh und kalt ergriff: Dort, in der Wohnung des Toten, war jemand. Auf der anderen Seite.

      * * *

      »Hallo«, sagte Richard, »wer ist da?«

      Er hörte heftiges Atmen.

      Er öffnete die Tür.

      * * *

      Miller he’s a killer, Miller he’s a killer, Miller he’s a killer, raste es durch Müllers Kopf. Ich bin Miller der Killer von Kabel Deutschland. Er stand reglos, gebannt vom dunklen Blick ­eines hünenhaften Kerls, der kaum durch die Tür passte, ein Typ mit Pferdeschwanz und Schurwollepullover, ein überdimensionierter, höchst realer Öko-Fundi aus der guten alten Zeit. Müller räusperte sich, zerknüllte die Zeitung in seiner Linken und blickte zu seiner Werkzeugtasche.

      »Hallo«, sagte der Hüne abwartend.

      »Hallo«, antwortete Müller verbindlich und räusperte sich wieder. Verdammt, er hatte noch Handschuhe an. Rasch versteckte er die Hände hinter dem Rücken. Das hier war kein GAU mehr, das war der Untergang. Der Typ hatte ihn gesehen, der konnte ihn beschreiben, und das war keiner, der sich widerstandslos zu einer Couch führen und – nein, der hier, der würde sich wehren. »Müller von Kabel Deutschland«, krächzte er und musste sich wieder räuspern. Um nicht noch seltsamer zu erscheinen, versuchte er ein Lächeln. »Mann, haben Sie mich erschreckt.«

      Der Hüne lächelte zurück, aber misstrauisch. »Sie mich auch. Ich hab Sie von unten gehört. Ich dachte, da wären Einbrecher unterwegs.«

      Müller lächelte wieder, stopfte die Handschuhe, die er sich schnell hinter dem Rücken ausgezogen hatte, in die Hose und hob seine Werkzeugtasche auf. »Nein, nein, wir müssen bloß die Anschlüsse überprüfen, wir vermuten eine Störung in einer der Leitungen aus dieser Wohnanlage, was ein bisschen ärgerlich ist, weil die Nachbarschaft deshalb nicht richtig fernsehen kann.« Er gähnte, um seine Anspannung zu verbergen. »Ich bin schon seit