Maschinenkinder. Frank Hebben

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Название Maschinenkinder
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957770851



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fremder Wille ließ Paul nach der Laterne greifen, das Boot verlassen und die Treppen hochsteigen. Sand knirschte unter seinen Stiefeln, während er die Schule betrat:

      In der Aula herrschte ein Wispern, ein Raunen, tausend Stimmen schienen hektisch zu sprechen, aber niemand war hier, außer Schemen, die über die nackten Wände huschten. Um sie zu verscheuchen, hob Paul die Laterne höher, schwenkte sie nach links, nach rechts, dann nach unten, wobei er hastig den Boden absuchte:

      Fliesen, gesplittert, und ölige Pfützen spiegelten das Licht; eine Glasvitrine, in Scherben; ein Schulranzen; eine Mütze; ein rostiges Fahrrad. An der Stirnseite führten Wendeltreppen zum oberen Stockwerk und runter, zur Sporthalle, zu den Umkleiden; und in den Heizkeller, wo Paul den Konverter gefunden hatte.

      Etwas zog ihn magisch dorthin. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen, doch die Beine gehorchten ihm nicht mehr: Paul musste vorwärts marschieren, jede Bewegung mechanisch, als wäre er ein Spielzeugsoldat. Nein; er wollte nicht weiter, bloß nicht nach unten, zu diesem Ungetüm aus Rohren und Kesseln, dort, wo die Schiefertafel und die Schulbänke standen und fleckige Matratzen lagen, in denen noch Gespenster schliefen!

      Danach verdunkelte sich alles, und die Stufen verschwanden bei jedem Schritt, den er abwärts folgte, bis ein sternenschwarzes Maul den Kellertrakt verschlang.

      Paul riss die Schultern zurück, drehte sich; und dabei flog ihm die Laterne aus der Hand, die klirrend auf dem Boden zerschellte. Finsternis brach über ihn herein, als die Falter wie Aschefunken aus dem Windglas aufstiegen; davonwirbelten, verloschen.

      In seinen Ohren brausten die Stimmen.

      Er schrie!

      Die Hütte schwankte. Ein Gekreisch und flüchtige Schatten, als Paul die Augen aufriss. »Was …?«

      »Unter die Bettdecke, schnell!« Mit bloßen Händen hielt Lisa einen Geistervogel in Schach, der durchs offene Fenster hereingekommen war. Auch der Hund saß aufrecht, die Ohren steif, die Zähne gefletscht, und knurrte und bellte nach Leibeskräften, traute sich dennoch nicht näher.

      Im Dunkel schienen die Flügel wie Spinnweben; ihre Knochen glühten eisblau, wurden grell und blendeten, ehe der Vogel blitzartig zuschnappte. Um Haaresbreite konnte Lisa dem Schnabel ausweichen, stolperte unglücklich und fiel; schürfte sich die Knie wund ...

      Sie heulte.

      »Pass auf!« Paul stürzte aus dem Bett zum Kamin, nahm den Schürhaken vom Ständer.

      »Du musst ihn verjagen«, stöhnte Lisa und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Paul zu ihr hastete, sich schützend hinter sie stellte, indem er das Eisen schwang – doch sein Schlag ging ins Leere. Erst als der Vogel die Krallen vorstreckte und mit den Flügeln wild um sich peitschte, Töpfe aus dem Regal und das Grammophon wegriss, gelang es ihm, einen seitlichen Treffer zu landen. Noch einen. Und noch einen gegen den Hals, bis die Bestie taumelnd abdrehte.

      Na warte! Paul setzte dem Vogel nach, seinen Schürhaken in beiden Händen, schlug und stach damit zu, drängte ihn zum Fenster hin; und wollte gerade einen langen Hieb austeilen, als in der Tür neben ihm ein Schlüssel gedreht wurde: Sie sprang auf.

      »Zur Seite«, brüllte der Alte, mit seiner Pistole bewaffnet. Er hob sie an, zielte, feuerte – schoss zwei Kugeln durchs offene Fenster. Vom Knall nach hinten gescheucht, prallte das Tier gegen die Holzblende, rutschte und flatterte nach draußen, wo ein ganzer Schwarm dieser Vögel in Schleifen um die Hütte kreiste. Ihr Flügelschlag klang wie das Flüstern von Stimmen.

      »Zumachen«, rief Rhombus, noch immer die Waffe im Anschlag. »Mach hinne, Junge.«

      Sofort ließ Paul den Schürhaken fallen, schlug die Fensterblende zu, dann wollte er rasch den Riegel vorschieben, aber der lag am Boden verstreut, zerborsten in Splitter. »So ein Mist«, keuchte er, ganz außer Atem.

      »Dieses Viech war … im Zimmer und schrie … da bin ich aufgewacht.« Lisa, die wieder stand, rieb sich die verletzten Knie. »Hatte alles verriegelt, wirklich.«

      »Ich glaube dir, Mädchen«, sagte Rhombus und legte die Pistole auf den Esstisch, bevor er zu Paul hinüber kam. Im Vorbeigehen wurde er von Ludwig angejault, der zitternd im Korb lag, die Pfoten über der Schnauze. »Gib schon Ruhe, du großer Held.«

      »Die Blende ist abgebrochen, schau.«

      »Wird das Beben vorhin schuld sein. Müssen ein Brett vornageln.«

      »Unheimlich, irgendwie.« Die flogen zu tief und viel zu weit draußen. Wachsam die Geistervögel im Blick, kniete Paul nieder, um alle Bruchstücke aufzulesen. Er wollte sie an Rhombus geben, der seine Hand aber nicht ausstreckte.

      »Das kann man nicht leimen«, erklärte der Alte. »Wirf die Reste ins Feuer.«

      »Oh nein …!«

      Beide fuhren herum.

      Lisa hatte das Grammophon entdeckt und ging hin und nahm es hoch in den Arm; sie streichelte über den eingedrückten Trichter, ganz behutsam, als wäre er ein verletzter Kater, vielleicht: »Jetzt sieh dich an, ganz verbeult bist du.« Vorsichtig stellte sie den Kasten auf der Anrichte ab und drehte an der Kurbel, bis ein dumpfes Knirschen erklang. Besorgt schaute sie über die Schulter zurück. »Der Plattenteller, er dreht sich nicht mehr.«

      »Repariere ich später, Liebes.«

      »Warum belagern uns diese Biester?«

      »Kann ich nicht genau sagen. Segeln stramm auf der Phase… Wer weiß?«

      »Was meinst du damit?«, fragte sie.

      »Das Wellenmuster«, erklärte er nachdenklich. »Könnte sein, dass sie ihm nachjagen.«

      Draußen zogen die Geistervögel ihre Kreise.

      Rhombus schaute ihnen nach, sein Gesicht in tiefen Falten. »Die werden uns Ärger machen.«

      Am Morgen wurde Paul von einer kühlen feuchten Hundenase geweckt, die gegen seine Stirn stupste. »Ach Ludwig, nicht«, raunte er schläfrig und wollte das Kissen schon über den Kopf ziehen, als er ein lautes Klappern hörte. Er fuhr hoch, blickte zum Fenster, doch von den Vögeln war nichts mehr zu sehen. Trotzdem stieg Paul aus dem Bett, streichelte den Hund und zog Schuhe an, bevor er zum Tisch ging, wo ihm Lisa eine brennende Kerze und einen Teller mit Marmeladenbrot hingestellt hatte.

      Er war allein im Raum.

      Also setzte er sich hin, frühstückte einen Happen, bis neues Geklapper, ein Hämmern, ein Schrauben durch das Kupferdach zu ihm drangen.

      Rhombus baute den Konverter ein! Paul klatschte in die Hände, dann konnte ihn nichts mehr halten, und er stürmte zur Hintertür, riss sie weit auf und spurtete die Treppen des Flakturms empor.

      Ludwig folgte ihm japsend auf den Fersen.

      Oben fanden sie Rhombus bei seiner Arbeit am Lichtwerk. Auch Lisa war hier; auf einem Tuch kniete sie in den Gemüsebeeten, und darüber hingen Leinen mit festgeknoteten Flaschen, die wie Lichterketten strahlten: Eisblaue Würmer ringelten sich am Glasboden, auch etwas Erde war eingefüllt.

      »Guten Morgen, ihr«, begrüßte Paul die beiden, und Lisa drehte sich zu ihm um, hob die Hand und winkte, worauf der Hund zu ihr hintrottete, die Nase schnüffelnd am Beton. »Dass du mir heute keinen Streifzug machst«, rief sie herüber. »Da wartet Wäsche auf dich.«

      »Aber ich hab doch Letztens erst gewaschen …«

      »Und alles wieder eingesaut. Ich bin nicht eure Dienstmagd, ihr könnt beide mit anpacken.«

      Paul schnitt ihr eine Grimasse, während er zu Rhombus weiterging. Waschen, pah! Dafür bekam er keinen Orden.

      »Soso, auch schon wach, ja?«, brummte dieser und streckte den Schraubenschlüssel vor. »Nerven wie Stahl hast du, Rekrut. Wir haben kein Auge mehr zugekriegt.«

      »Ich war müde«, sagte Paul achselzuckend und betrachtete die Schäden am Lichtwerk: Von der Maschine waren Stangen und Zahnräder abgefallen, die verstreut auf