Название | Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen |
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Автор произведения | Martin Löschmann |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957446817 |
Zu einer Hochzeit gehörte jedenfalls, dass geschlachtet wurde. Der Schlachter kam ins Haus und wir Kinder wussten, was die Stunde schlägt. Ein besonderes Ereignis, ich würde es nicht Schlachtfest nennen, keine Bekränzung des Opfers, aber aus dem Alltag herausragende Tage waren es schon. Der Schlachtvorgang gehört zu den naturgemäßen Abläufen auf einem Bauernhof, die dem Städter zumeist zuwider sind; der ist froh, dass sich Tötung und Verarbeitung der Tiere möglichst weitab in einem Schlachthof vollziehen. Für uns Kinder war nicht das Töten der Graus, sondern die bei den Erwachsenen sehr beliebte süßsaure Blutsuppe ebenso wie die frisch hergestellte Hausmacherwurst. Was auf den Tisch kam, musste gegessen werden.
Vieles war wie früher. In der Wohnstube die schwarze Anrichte, in der Mitte der stabile Esstisch, sechs Stühle zählte ich, ein Sofa, an das ich mich nicht erinnern konnte. Und ein Bild der Maria hing nun zwischen den Fenstern im Wohnzimmer, dort, wo früher ein Ölgemälde hing. Mein Vater hatte es zur Zeit der Inflation mit einer Fuhre Korn erworben. Ja, das war derselbe große Tisch, an dem sich unsere Familie versammelte. Suppen werden sichtbar, die uns Kinder nicht behagten: Erbsensuppe, Kartoffelsuppe nun ja, Linseneintopf, wenn da nicht dieser Speck drin gewesen wäre, und dazu dieses Würgegericht aus Gänseklein, Backobst und Kartoffelklößen, die gerade erwähnte süßsaure Blutsuppe, die es buchstäblich immer gab, wurden Gänse geschlachtet, meistens acht bis zehn auf einen Schlag. Zugleich sehe ich Pellkartoffeln und Hering, kulinarische Höhepunkte: Plinsen, aus Buchweizenmehl und geriebenen Kartoffeln, Obstsuppe, Vanillepudding, rote Grütze, selbst gebackenen Kuchen, Hefe-, Streusel-, Johannisbeer-, Stachelbeerkuchen.
Es wird Kaffee gebracht, Käse- und Schmalzstullen aufgetischt. Tochter Theresa kommt mit ihren zwei Kindern herein, sie bewohnt offensichtlich die zwei Zimmer, die links vom Eingang liegen und das Altenteil unserer Oma waren. Sie lebte sehr zurückgezogen, schlief auf einem Strohsack, strickte und stopfte unsere Strümpfe, las in der Bibel, sang Kirchenlieder, oft Eine feste Burg ist unser Gott – von Heine als „Marseiller Hymne der Reformation“, von Friedrich Engels als „Marseillaise der Bauernkriege“ bezeichnet und von mir auf der Silvesterparty der Uni zum Lutherjahr 83, leicht alkoholisiert lautstark skandiert. Unsere Oma, Mutter von sieben Kindern, hat sich in Abständen bei meiner Mutter darüber beschwert, dass sowohl meine zwei Jahre ältere Schwester Gisela als auch ich die Tür zu ihrem Zimmer ohne Vorankündigung aufstießen und ohne ein Wort die zerrissenen Strümpfe in den Raum schmissen. Viel mehr weiß ich nicht über meine Großmutter. Bestimmt erinnerte ich, falls sie, wie man von anderen Großmüttern hörte, erzählt hätte, von der Wand sei wieder einmal ein Bild gefallen, ein sicheres Zeichen, dass ein Mitglied der Familie im Krieg gefallen wäre.
Die ohnehin etwas schwierige Unterhaltung – nicht der Sprache wegen, eher wegen der recht vertrackten Grundsituation – flacht ab, als Sohn Janucz das Wohnzimmer betritt, in stark verschmutzter Kleidung, mit blau unterlaufenen Augen, es war erst gegen elf und eine Alkoholfahne wehte ihm voran. Wir sahen dann, in welch schlechtem Zustand der Hof war, und wir wussten, warum. „Erinnerst du dich, wie wir zusammen die Kühe gehütet haben?“
Er blieb nicht lange, höchstwahrscheinlich schämte er sich. Dabei hätten wir beide uns am meisten zu erzählen gehabt.
Im sog. feinen Zimmer, das bei besonderen, vor allem festlichen Anlässen geöffnet wurde, stand tatsächlich noch das Klavier, auf dem meine Geschwister geübt hatten. Auf Bildung im weitesten Sinne haben meine Eltern, namentlich meine Mutter, größten Wert gelegt und keine Ausgaben gescheut. Ich bin sicher, dass meine Eltern angetan waren, als ein Lehrer um Irlas Hand anhielt. Unser Hof von knapp 50 ha warf ja nicht so viel ab, dass nicht gerechnet werden musste. Sollte er als Ganzes erhalten bleiben, mussten meine vier Geschwister ausgezahlt werden, ihren Anteil am Erbe in Geldwert bekommen. Beide Eltern schufteten von früh bis spät, selbst im Winter gönnten sie sich keine Ruhe. Aus den verschneiten Wäldern wurde in Fremdarbeit, d.h. gegen Bezahlung, Holz aus dem tiefen, finsteren Wald zum Bahnhof transportiert. Eine nicht ungefährliche Arbeit, ein Baumstamm konnte sich schnell lösen, und einmal löste sich einer, überrollte meinen Vater und verletzte ihn ziemlich schwer. Seine Narbe im Gesicht kam von dieser Verletzung.
Unser Hof war niemals verschuldet. Das gesparte Geld kam in eine verschließbare Zigarrenkiste und wurde am Spartag auf die Bank gebracht. Jeder Groschen wurde dreimal umgedreht, ehe er ausgegeben wurde. Was sein muss, muss sein. Meine Mutter ließ sich immerhin ihre Festkleider von einer bekannten Schneiderin in Bütow anfertigen. Irla erinnert sich an ein blaues Seidenkleid mit Perlen bestickter Schärpe im Charlestonstil. Die hin und wieder nach Bütow unternommenen Fahrten waren immer Einkaufsfahrten.
Mir ist mein Vater letztlich fremd geblieben, an seine Geburtstage am 30. Dezember erinnere ich mich jedoch gut. Denn einen Tag danach, zu Silvester, gab es immer Pfannkuchen, sie wurden den Honoratioren des Dorfes angeboten. Sie, nicht die Verwandten, wurden eingeladen: der Förster Borchert, der Lehrer Brosowski, der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts Kosin, Ortsgruppenleiter Wedel. Berge von Pfannkuchen errichten sich vor meinen Augen, an deren Abtragung wir Kinder beteiligt wurden. Handarbeit: Unsere Mutter riss von einem großen Teigklumpen nach Gefühl eine Handvoll Teig ab, formte sie zu einem ballförmigen Gebilde, meine Schwester hatte einen Löffel selbstgekochter Marmelade oder Pflaumenmus hinein zu bugsieren und die Bällchen auf einem Blech geordnet abzulegen. Das voll belegte Blech kam zum Gehen oben auf den Kachelofen in der Wohnstube. Sobald sie aufgegangen waren, verschwanden die Pfannkuchen in einem großen Spezialtopf mit siedendem Öl und erhielten die duftende Bräune, wurden mit Zuckerguss überzogen oder mit Puderzucker bestreut. Wenn irgend möglich, hat unsere Mutter viele Jahre nach dem Krieg in Zeitz und darauf in Halle-Neustadt Pfannkuchen für den Rest der Familie gebacken. Irrläufer mit Senf kamen erst in dieser Zeit hinzu.
Als die Tür zum feinen Zimmer geöffnet wird, bestimmt nicht das schwarze Klavier meine Assoziationen, sondern die Bescherung am Heiligabend. Die Tür ging auf, der große Tannenbaum erstrahlte im Lichterglanz und die Geschenke lagen unterm Weihnachtsbaum. Stille Nacht, heilige Nacht. Ich bekam die lang gewünschten Schlittschuhe.
Man will uns die oberen Räume zeigen, aber ich glaube, unsere Führerin durchs Haus ist froh, dass wir darauf verzichten. Sie war ja auf unseren Besuch nicht vorbereitet. Und was hätte die Besichtigung zusätzlich gebracht? Die Bestätigung, dass die Kammern, in denen meine Geschwister schliefen, klein waren und es in den Räumen keine Öfen gab. Im Winter war es da oben bitter kalt, das Wasser gefror in der Waschschüssel. Damit die Katzenwäsche früh am Morgen überhaupt erledigt werden konnte, goss die Mutter heißes Wasser auf das Eis. Das Zischen klingt in meinem Ohr.
Das elterliche Schlafzimmer, an dessen linker Seite mein Kinderbett stand, war etwas größer. Es gab eine Zeit, wo ich aus mir heute unerfindlichen Gründen nicht ins Töpfchen pinkelte, sondern hinters Bett. Eigenartigerweise gab es dafür keine Schläge. Nach Entdeckung der vor sich hin stinkenden Angelegenheit wurde ich über Wochen und Monate, bevor sich meine Eltern zur Nachtruhe begaben, von meiner Mutter vorsorglich wachgerüttelt und auf den Pott aus Emaille gesetzt, bis sich etwas tat. Das konnte allerdings dauern. Schläge gab es dagegen, als ich mich einmal eingeschlossen hatte und meine Eltern über das offene Fenster mit Hilfe einer Leiter einsteigen mussten. Gisela und Renate hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mich als Gespenster in meinem Kinderbett zu erschrecken. Wie konnte ich mich besser wehren? Pech für mich, ich vergaß, vor dem Einschlafen die Tür wieder aufzuschließen.
Vom Eheleben habe ich wenig mitbekommen, anders, wenn mein Vater aus dem Gasthof kam und etwas über den Durst getrunken hatte, was zwei-, dreimal im Jahr passieren konnte. Er konnte in solchen Nächten recht aggressiv werden. Zumindest die Freudianer unter meinen Lesern werden es deuten können, sobald ich an dieser Stelle bekenne, nach reichlichem Alkoholgenuss werde ich eher sanft wie ein Lamm. In einem ersten Versuch über meinen Vater hatte ich ihn zum Entsetzen von Irla als Quartalssäufer charakterisiert. Ich wollte es mir mit ihm zu einfach machen, eine der üblichen Stanzen bedienen, die Söhne über viele Generationen geformt und bereitgestellt haben.
Und das Bild über dem elterlichen Bett habe ich auch nicht vergessen. Geht es in einem Gespräch, in einer Diskussion um Kitsch, habe ich es vor Augen: nächtliche Waldesstimmung, eine gut ausgeleuchtete Lichtung, Rehe im Hintergrund,