Название | Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen |
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Автор произведения | Martin Löschmann |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957446817 |
Als an ihrer Schule der Zweite Weltkrieg behandelt wird, bittet Enkelin Julika mich aufzuschreiben, wie ich den Krieg erlebt habe, die Vertreibung aus der Heimat eingeschlossen, meine erste Lebenskatastrophe.
Hunderttausende haben erlebt und beschrieben, geschildert, erzählt, was ich offensichtlich mitteilen will. Für wen könnte das von Interesse sein? Für die Kinder eventuell, die Enkel? Als ich Tochter Kati 2001 per E-Mail ein paar Reiseeindrücke aus Saratow sende, wo ich im Auftrage des DAAD einen Fortbildungskurs durchführte, was e-mailt sie zurück: „Danke für die wunderbare Erzählung. Mensch, Papa, da schlummert ja Talent in dir.“ Wohlbedachter Zuspruch einer Psychologin. Eine weitere Leserin habe ich mit ihr, sie ist die zweite, unser Sohn Jörg der dritte im Bunde, schon um dagegen halten zu können, Heike, unsere Schwiegertochter, die vierte, Janis, unser Enkel, war bereits mit zehn eine Leseratte, mithin hoffentlich der fünfte Leser, und die beiden Enkelinnen Julika und Hanna werden wohl nicht drum herumkommen, wenigstens mal reinzugucken. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – woher willst du die anderen kriegen? – Sieben, fünf, drei – Rom kroch aus dem Ei.
Meine Schwester in Itzehoe ist ebenfalls eine sichere Bank. Ob allerdings Neffe Olaf, ihr Sohn aus zweiter Ehe, meine Niederschrift zur Hand nehmen wird, muss abgewartet werden. Gernot dagegen, Sohn aus erster Ehe, und seine Frau können als potentielle Leser gelistet werden. Irla schrieb in einem ihrer anrührenden Briefe: „Ja, Martin, ich kann dich schon verstehen, dass Du noch gar nicht weißt, ob Du Dich aufraffen kannst, Familiengeschichte zu schreiben. Nachdem ich nunmehr ein ansehnliches Alter erreicht habe, muss ich feststellen, dass ich manchmal auch nicht durchgeführt habe, was in meinem Kopf steckte. Vor einigen Jahren ermunterte Gernot mich immer aufzuschreiben, was ich ihnen von zu Hause so erzählte.“
Sie tat es nicht, obwohl sie eigentlich beste Voraussetzungen dazu hatte. Immerhin ist sie zwölf Jahre älter, kann sich sehr gut an unser Zuhause erinnern – im Alter erwachen die Bilder der Jugend – und kann als Zeitzeuge aufgerufen werden. Sie brauche ich, denn ich habe kein Tagebuch. Martin Walser, der Schriftsteller vom Bodensee, favorisiert Tagebücher und lehnt Autobiografien strikt ab. Ihm würde ich meine keinesfalls schicken. Allerdings wäre es sehr viel leichter, könnte ich aus Aufzeichnungen schöpfen, andererseits entgehe ich vielleicht der Gefahr, dass einen zu viele Details ersticken. Eigentlich reichen mir meine Inseln der Erinnerung, wie verwittert sie sein mögen. Vorausgesetzt es stimmt und es stimmt zweifellos, dass man sich besonders an das erinnert, was mit Emotionen verbunden und was auf die eigene Zukunft gerichtet ist, könnte darunter ausreichend Mitteilenswertes sein. Wie formuliert Sándor Petöfi anrührend kitschig: „Ein Strauch zittert, weil ein Vogel darüber flog. Das Herz erzittert, weil Erinnerung es durchzog.“
Gestehe es, du willst dich durch dein Schreiben verewigen. Verba volant, scripta manent oder soll ich es schlicht deutsch ausdrücken: Wer schreibt, der bleibt. Entrüstet halte ich dagegen: Ich schreibe nicht, um an meiner Unsterblichkeit zu zimmern und denke mitnichten an Fontane, der seinen Ruhm als Schriftsteller erst im damals hohen Alter von 54 Jahren begründete und den man immer wieder bemüht, sobald einer oder eine ernst oder nicht ernst davon spricht, man müsste dieses oder jenes niederschreiben. Ist die Frage denn so wichtig, warum und für wen man schreibt, werde ich zurückfragen, wenn mir meine verehrte, nicht mehr überschaubare, geschweige denn zählbare Schar von Lesern und Leserinnen in den zahlreichen Lese-Veranstaltungen die reichlich abgenutzte Frage stellen wird. Genügt nicht, dass ich einfach schreibe? Ich zwinge schließlich keinen, die Geschichte zu lesen. Könnte mir nichtsdestotrotz durchaus vorstellen, dass meine Darstellung im Familien-, Freundes-, Bekannten-, Wegbegleiterkreis einen bestimmten Unterhaltungs- und Reflexionswert haben könnte.
Eine Strategie zur Erweiterung der Leserschaft ist allerdings längst fest verankert: Alle diejenigen, die ich enttäuschte, erhalten ein Freiexemplar, und die, die mich enttäuschten, werden sich selbst ein Exemplar besorgen müssen, zumal es sich dabei – zumindest größtenteils – um Leute handelt, die von der jähen Wendung profitierten. Sara Wilsky, ehemals Schauspielerin, späterhin promovierte Dozentin für Philosophie, jetzt in der Türkei lebend, Freundin Mariannes, fragt in einem Telefonat entsetzt: „Willst du etwa mit diesen Leuten abrechnen?“ „Nein, das würde die Wende kleinreden.“ Die indes ist ein ganz wesentlicher Schreibanlass.
Knapp zwei Jahre vor Fertigstellung des Oeuvres schreibt Maren, eine meiner beiden Nichten, nach einem Familientreffen mit Irla und Christian bei Gernot und Ute: „Ich freue mich auch wirklich sehr, dass Du, Onkel Martin, Deine Erinnerungen aufschreibst und würde mich freuen, sie lesen zu dürfen.“ Na bitte, da habt ihrs, ihr Kleinmütigen und Ungläubigen. Eine weitere Leserin ist mir sicher.
Ja, wie schreibt man über sein Leben, sofern man keine Chronik, keine Familiengeschichte, keinen Thronbesteigungsbericht abliefern will. Mein Schwiegervater Armin-Gerd Kuckhoff, seines Zeichens Professor für Theaterwissenschaft in Leipzig, der jahrelang von seinen Lebenserinnerungen sprach, sah sich vor zwei Fragen gestellt: Wie vermeide ich eine eher langweilige Chronologie? Und wie gehe ich mit meinen Frauen um? Er konnte seine Memoiren leider nicht mehr abschließen. Dabei hatte ihm seine vierte Frau, Ulla Böhnke-Kuckhoff, die sich mit ihren damals 73 Jahren souverän der neuen Medien bediente, einen neuen Computer mit der Bemerkung in sein Zimmer gestellt: „Auch ein über Achtzigjähriger kann lernen, mit dem Ding umzugehen.“ Er war Theatermann genug, um zu wissen, publikumswirksam könnte allein schon der Hinweis auf seine vier Ehen sein. Die Frauengeschichten sollten seine Memoiren zieren, ich dagegen kann nur eine Ehe anführen, bis dass der Tode euch scheide. Wen interessiert das heute? Oder gibt es Leser und Leserinnen, die auf Lebensmuster aus sind, die ein Durchhalten und sei es der Kinder wegen versprechen? Gleichwohl unsere Kinder sind groß, außer Haus. Was hatten wir auf unsere Hochzeitskarte geschrieben? Gewagt, gewollt, von uns kreiert, der Autoritätswirkung wegen einem Ch. zugeschrieben. Das macht aus einer Ehe noch kein Abenteuer.
Unser Abenteuergeist hat sich im Laufe der Zeit mehrfach gewandelt, es kann auch gar nicht anders sein, kein Kraut ist gegen das Altern gewachsen. Daran können abenteuernde Ausflüge wahrlich nichts ändern. Eben ruft X an, ein recht guter alter Freund von Marianne, dem sie nach zig Jahren auf einem Klassentreffen begegnen wird. Vor diesem Treffen feiern wir irgendwann den sechzigsten Geburtstag von Y, von der es heißt, sie hätte etwas mit mir gehabt. Schreib du über deine Erlebnisse, wenn ich tot bin, falls du denn nicht anders kannst, und über meine mach dir keine unnötigen Gedanken. Ihrem Vater hatte sie geraten, damit er über den gekennzeichneten toten Punkt komme, seine Sicht der Dinge niederzuschreiben, das fertige Bild der jeweiligen Frau vorzulegen und deren Gegenbild den Memoiren beizufügen. Zu spät, Ilse, seine zweite Frau, die immerhin das Theaterstück Die heiligen drei Affen und das Skript zu dem DEFA-Film Mädchen von 16½ schrieb, ist bereits in den 70er Jahren gestorben. Die dritte, wesentlich jüngere, stürzte sich aus dem Hochhaus in Kressbronn am Bodensee. Und seine erste Frau, die sich hatte von ihm scheiden lassen und zu ihrem Mädchennamen zurückkehrte, Edith Brecke also, meine Schwiegermutter, starb 1999 – Jahre vor ihm und hätte ihn doch gerne überlebt. Auch sie schrieb, vor allem Gedichte und Kurzgeschichten, hat an ihren Lebensbildern gearbeitet, beendete sie nicht. Drei von seinen vier Ehefrauen schriftstellerten somit, denn Ulla schuf den Bummi, mit dem Generationen von Kindern in der DDR aufwuchsen und an den sich die Großgewordenen als Eltern und Großeltern