Название | Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen |
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Автор произведения | Martin Löschmann |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957446817 |
Wendepunkte in meinem Leben würde nicht schlecht klingen. Mein Gefühl sagt mir, den Titel gibt es sicher längst. Die meisten Gedanken sind sowieso schon gedacht, aufgeschrieben und verlegt worden. Der Atomphysiker Hans A. Bethe, der in Los Alamos entscheidend zur Entwicklung der Atombombe beitrug, hatte eine eigene Schreibweise erfunden, bei der er ausschließlich Großbuchstaben verwandte und die von links nach rechts und auf der nächsten Zeile von rechts nach links nebeneinander setzte. Eine logische Erfindung, man spare dadurch viele überflüssige Handbewegungen. Dass vor ihm, in der Antike, jemand auf diese Idee gekommen war, entdeckte er erst auf Kreta, als ihm mehr oder weniger zufällig eine Inschrift in die Hand fiel.
Oder wie wär’s mit Bruch-Stücke? Bruchstücke, auf die Doppeldeutigkeit des Wortes setzend. Ich möchte bloß gern den Schreiber im Titel signalisiert sehen und erweitere den Titel: Bruch-Stücke aus dem Leben eines Sonstigen. Ich schreibe ein Anti-Memoirenstück aus der Erinnerung, was immer das auch sein mag, und freue mich über den doppelbödigen Einfall: weder erhoben noch auserkoren, ein Sonstiger eben. Der Leser aus östlichen Gefilden wird allenfalls bemerkt haben, worauf ich anspiele, ein womöglich abgeneigter Leser aus den sog. alten Ländern will es kaum wissen, es interessiert ihn nicht sonderlich. Die Ex-DDR, ein Unfall der Geschichte. Vorbei, vorbei, was soll‘s. Dagegen rechne ich mit einem bestimmten Interesse bei geneigten ‚Westlesern‘, sobald sie erfahren, was Sonstiger bedeutete.
Ich hole weit aus: In unserer Finnlandzeit waren wir mit einem Mitarbeiter aus der DDR-Handelsvertretung befreundet, der für den BND spionierte, wie offenbar wurde, als er sich 1973 in die Bundesrepublik absetzte. ‚Unser Freund‘ war der sozialen Herkunft nach Arbeiterkind und Kinder von Arbeitern und Bauern wurden in der DDR gefördert. Er hat es seinem Land nicht gedankt. Ich dagegen musste über 20 Jahre lang, der ‚sozialistischen Abstammungslehre‘ entsprechend, mit dem Makel des Großbauernsohns leben. Erst Anfang der 70er wurde die Schmach der dogmatischen Kategorisierung von mir genommen. Ich wurde als Sonstiger der sozialen Herkunft nach eingestuft und gehörte von nun an zu der Minderheit in unserer Republik, die sich nicht in die soziale Nomenklatur Arbeiter (A), Bauern (B) und Intelligenz (I) einordnen ließ. Für Professor Johannes Rößler allerdings, den langjährigen Direktor des Herder-Instituts – er hatte sich als Quereinsteiger in der DaF-Welt durch seine kenntnisreiche diplomatische, aber hartnäckig prinzipientreue Argumentation einen guten Namen gemacht – blieb ich bis zum Ende der Großbauernsohn, was in diesem Fall unser kooperatives Verhältnis nicht trübte. Kaum zu glauben und doch unbestreitbar: Ich war seit der Umsiedlung stets ein Bauernsohn ohne Land, ein Fürst ohne Land, nicht wie Johann Ohneland im 12. Jh. in England bei der Erbschaft vergessen, sondern durch den Krieg ums Erbe gebracht.
Ich höre und sehe schon die vermeintlichen Kritiker sich spreizen: Reich-Ranitzki, mein Wunschrezensent in schlaflosen Nächten, kann nicht mehr darunter sein. Worin sehen Sie den Unterschied zwischen Bruchstücke und Bruch-Stücke? Ich wachse über mich hinaus: Herr Reich-Ranitzki, der Titel wurde längst aufgegeben, spielt bloß im ersten Kapitel eine Rolle. Ja, haben Sie mein Buch überhaupt gelesen? Das ist es ja, der Titel war noch das Beste an diesem Buch, und Sie geben ihn auf! Der Totalverriss lähmt alle meine Glieder. Ich versuche ihn davon abzubringen und erzähle, ursprünglich vorgesehen zu haben: Aus meiner Kreidezeit, einen Titel, den ich immer genannt hätte, sobald ich etwas an die Tafel anschrieb und dabei mit dem Fingernagel unbeabsichtigt den schrillen Ton erzeugte, der einem durch Mark und Bein geht. In dieser Betroffenheitssituation witzelte ich, ob ich jemals meine Memoiren schreiben werde, wisse ich nicht, einen Titel jedenfalls hätte ich. Der Liedermacher Reinhard Mey hat das in Und Tschüs! erfasst: „Oh nee, das kann ich auch nicht haben, wenn man mit’m Fingernagel am Blumentopf oder an ‚ner Tafel kratzt.“ Wie ich auf diesen Song kam? Eine Kollegin aus Samara hatte mich um eine CD von dem Musikus gebeten. Da habe ich mir das eine oder andere angehört.
Es sei wie es sei, ich habe einen Titel für das, was aus mir heraus will – besser: muss. Bei wissenschaftlichen Arbeiten habe ich mir die Überschrift oft erst am Ende überlegt. So auch im gegebenen Falle: Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. In dreifacher Bedeutung: unglaublich, beispiellos, sodann: unverschämt, was der sich traut, das geht auf keine Kuhhaut und von der spätmittelhochdeutschen Wortherkunft her: nie-gehört. Von mir versehen mit: un-erhört, was niemand hören, niemand zur Kenntnis nehmen will.
Den Berg haben die Polen abgetragen
Wer aus seiner Heimath scheidet,
ist sich selten bewußt, was er alles aufgiebt;
er merkt es vielleicht erst dann, wenn die Erinnerung
daran eine Freude seines späteren Lebens wird.
Gustav Freitag
Irgendwann kommt die Zeit, wo man es wissen will. Auf der Suche nach dem Woher bildet der Geburtsort in der Regel eine erste, quasi natürliche Verortung. Viele der Umsiedler haben im Lauf der Jahre ihre Geburtsstätten in Ostpreußen, Hinterpommern, Schlesien, im Sudentenland aufgesucht, um Erlebnissen in der Heimat nachzusinnen, sich zu erinnern, den Abstand zu messen zwischen dem Heute und dem Gestern, Verlorenem nachzutrauern, Zurückgebliebenen zu zeigen, wie herrlich weit man es gebracht, sofern man es zu etwas gebracht hat, Ansprüche anzumelden, Identitätsfindung zu betreiben.
In Michael Zellers Roman Die Reise nach Samosch (2003) sagt die Polin Bascha zu Stephan, dem jungen Schriftsteller, der erfahren möchte, wo sein Großvater als Wehrmachtssoldat Schreckliches sehen und erleben musste: ,,Die Deutschen kommen immer nur nach Polen, um nach ihrem Krieg zu schauen.“ Mein Grund war das nicht. Es war die Neugier, auf einen Ort zu treffen, den andere Heimat nannten, den ich fürwahr vergessen sollte und weitgehend verdrängt hatte. In der Schule bin ich niemals aufgefordert worden, meinen Heimatort zu beschreiben und hätte es gern getan – besonders dieses Stück Land am Wald, aus dem immer die Züge kamen, die Fahrten auf der Eisenbahndraisine, wann immer sie vorbeifuhr, und wir Jungs, erwartungsvoll an der Eisenbahnstrecke stehend, ein Stück mitgenommen wurden.
Um eine in derzeitigen Deutschlehrwerken beliebte Übung zu bemühen: Welches Wort passt nicht in diese Reihe?
Boykott, Litfaßsäule, Praline, Draisine.
Wer kennt heute ein Fahrzeug namens Draisine und weiß, dass Karl Drais es erfand.
Im Gegensatz zu meiner Mutter und meinen beiden älteren Schwestern hatte ich immer den Wunsch, mir Bernsdorf einmal anzusehen. August 1972 – eine Ferienadresse in Oliwa, einem historisch trächtigen Ort, nordwestlich von Gdańsk, hatte uns fast in die Nähe der alten Heimat gebracht, knapp 200 km trennten uns. Der Abstecher nach Bernsdorf war gesetzt. Wir nahmen den Weg über Lauenburg (Lębork), an diese Stadt konnte ich mich neben Bütow (Bytów) und Stolp (Słupsk) vom Namen her erinnern. Die drei Städte begrenzten meinen heimatlichen Horizont in einer höchst abstrakten Weise.
Von Bütow über Hügendorf (Udorpie) kommend, stellten wir unser Auto am Dorfeingang gegenüber der Schule ab. Es war ein russischer Moskwitsch (in der DDR nicht zu Unrecht oft Rostkwitsch genannt) – nicht gerade eine Empfehlung in Polen. Mich beschlich die bange Frage: Wie würden uns die Dorfbewohner entgegentreten? Immerhin war mein Vater Bürgermeister gewesen. Was man im Laufe der Zeit von Verwandten und Bekannten gehört hatte, musste nicht in jedem Fall verlässlich sein.
Bis